Die Schuld der Gläubiger: Warum der Globale Süden dauerhaft in der Kreide steht
Die Verschuldung des Globalen Südens wächst und wächst. Für eine globale Finanzarchitektur, die doch eigentlich der weltweiten Entwicklung dienen soll, ist das ein verheerendes Zeugnis. Und es hat viel mit unfairer Machtverteilung zu tun.
Wenn zwei Parteien einen Vertrag abschließen und es dann zu Schwierigkeiten bei der Erfüllung kommt, sind in der Regel beide Seiten schuld. Wenn solche Probleme immer häufiger und anhaltend auftreten, ist es unerlässlich, sich genauer mit den Faktoren zu befassen, die den Misserfolgen zugrunde liegen.
Das ist die Situation, mit der viele Länder im Globalen Süden konfrontiert sind: Sie geraten in neue Krisen, weil ihre öffentliche Verschuldung rapide ansteigt. Aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrisen und des langsamen und ungleichmäßigen Wachstums der Weltwirtschaft sind die Entwicklungsländer nicht in der Lage, ihre Schulden zu begleichen, ohne das Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu opfern, vor allem derjenigen, die besonders auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind. Nach einem Bericht der Weltbank haben die Schwellen- und Entwicklungsländer 2022 die Rekordsumme von 443,5 Milliarden US-Dollar ausgegeben, um ihre ausländischen Staatsschulden zu bedienen. Ihre Verschuldung ist vor allem deshalb gewachsen, weil sie auf externe Schocks reagieren mussten: Es galt, gleichzeitig die Folgen der Pandemie und externer Wirtschaftsschocks abzumildern und die Inflation im eigenen Land zu bekämpfen.
Symptom des Scheiterns
Schauen wir uns die Zahlen an. Der jüngste Bericht der Welthandels- und Entwicklungskonferenz fasst sie wie folgt zusammen: 2023 hat die Staatsverschuldung der Schwellen- und Entwicklungsländer (Binnenverschuldung und Auslandsschulden zusammengerechnet) 29 Billionen US-Dollar erreicht. Allerdings sind das nur 30 Prozent der weltweiten Gesamtverschuldung, denn auch die Industrieländer stehen immer noch tief in der Kreide. Über 75 Prozent dieser Schulden werden von Ländern in Asien und Ozeanien gehalten, 17 Prozent entfallen auf Lateinamerika und die Karibik und 7 Prozent auf Afrika. Die Regierungen in den Schwellen- und Entwicklungsländern wenden immer mehr finanzielle Ressourcen für den Schuldendienst auf. Die Folge: Immer weniger Geld ist für Investitionen in langfristiges Wachstum und Entwicklung verfügbar, einschließlich lebenswichtiger Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und Bildung.
Diese Krise ist kein Ausreißer. Inzwischen hat die Verschuldung in 135 von 148 Ländern des Globalen Südens eine kritische Höhe erreicht, wie Kristina Rehbein, Referentin beim Entschuldungsbündnis „Erlassjahr.de“, feststellt. Und in einem geschichtlichen Rückblick haben Clemens Graf von Luckner und seine Kollegen von der Weltbank für den Zeitraum zwischen 1815 und 2020 insgesamt 321 Fälle ausgemacht, in denen Staatsschulden restrukturiert wurden. Sie kommen zum Schluss, dass „Umschuldungen ein zentrales Merkmal der Staatsschuldenmärkte sind und oft ihrer Natur nach ‚seriell‘ sind“. Wenn wir davon ausgehen, dass die globale Finanzarchitektur der weltweiten Entwicklung dienen soll, dann sind diese wiederkehrenden Krisen ein klares Indiz für das Versagen dieses multilateralen Systems.
Der erste wichtige Grund für sein Scheitern ist das Fehlen einer brauchbaren Alternative, um die Entwicklung des Globalen Südens zu finanzieren. Die Finanzierungslücke bei den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung wird auf 2,5 bis vier Billionen Dollar pro Jahr geschätzt. Es existieren zwar Lösungen auf dem Papier, aber für die Länder des Globalen Südens sind sie nicht zur Realität geworden. So haben sich die Geberländer zwar verpflichtet, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aufzuwenden. 2022 erreichten aber nur vier Geberländer dieses Ziel, und selbst dort geht nur ein Teil dieser offiziellen Entwicklungshilfe tatsächlich an die Entwicklungsländer. Ein beträchtlicher Anteil dient zur Deckung anderer Kosten wie der Unterbringung von Flüchtlingen in den Geberländern. Insgesamt belief sich die offizielle Entwicklungshilfe auf 211 Milliarden Dollar, weniger als 10 Prozent der Finanzierungslücke.
Multilaterale Entwicklungsbanken sind ein weiterer Finanzierungskanal, aber sie konnten noch weniger Mittel locker machen. 2022 etwa vergaben sie Kredite im Umfang von 96 Milliarden Dollar, davon nur 13 Prozent zu Vorzugsbedingungen.
Und dann ist da noch der Internationale Währungsfonds, ein Kreditgeber der letzten Instanz. Selbst während der Corona-Krise war er nicht in der Lage, die Entwicklungsländer wirksam zu unterstützen. 2021 wies er 650 Milliarden Dollar in Sonderziehungsrechten (SZR) zu, immer noch weniger als die jährliche Lücke. Zu allem Überfluss flossen 350 Milliarden Dollar davon an entwickelte Volkswirtschaften, die bereits über internationale Reserven verfügen und wirtschaftlich stärker sind. Zwar gibt es Bemühungen um eine Neuausrichtung der SZR auf die Entwicklungsländer, aber dies geschieht zu spät, da sie eigentlich zur Unterstützung der Länder bei der Bewältigung der Pandemiefolgen gedacht waren.
Die Situation wird durch weitere grenzüberschreitende Probleme verschärft, etwa die vielen illegalen Finanzströme, die dazu führen, dass die Gelder im Grunde vom Süden in den Norden fließen. Warum versagt das multilaterale System? Immer mehr Beobachter im Globalen Süden sind sich einig, dass es an der Weigerung der Industrieländer liegt, Macht und Entscheidungsbefugnisse im multilateralen System zu teilen. Eine Umfrage der Open Society Foundations von 2022 zeichnet ein klares Bild: „In allen Ländern, in denen die Umfrage stattfand, waren die Befragten der Meinung, dass Länder mit hohem Einkommen den Ländern mit niedrigerem Einkommen materielle Unterstützung gewähren sollten. Maßnahmen wie die Erhöhung der Auslandshilfe werden in fast allen Ländern mit hohem Einkommen von der Mehrheit unterstützt. Aber die Menschen in diesen Ländern – vor allem in den G7-Staaten – waren weniger euphorisch, wenn es darum ging, die internationalen Institutionen zu reformieren, um Ländern mit niedrigem Einkommen mehr Einfluss zu geben.“ Im Kern wird das multilaterale System also weiterhin als Wohltätigkeitsmechanismus betrachtet und nicht als ein globaler Entscheidungsraum, in dem Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt vertreten sind.
Chancen für private Gläubiger
Wenn das multilaterale System nicht zu einer Antwort in der Lage ist, springt der private Sektor ein. Seit 2010 ist der Anteil der öffentlichen Auslandsschulden, die von privaten Gläubigern gehalten werden, in allen Weltregionen dramatisch gestiegen. Im Jahr 2022 erreichte er 61 Prozent der gesamten im Ausland gehaltenen Staatsschulden der Entwicklungsländer – nur 39 Prozent stammten von multilateralen oder bilateralen Gläubigern.
All das wird natürlich auch durch die Wirtschaftsbedingungen im Globalen Norden beeinflusst. Wenn die Liquidität in Nordamerika und Europa hoch ist, suchen Investoren nach höheren Renditen in anderen Regionen, was beträchtliche Investitionen im Globalen Süden auslöst. Diese spekulative, hochverzinste, profitorientierte Herangehensweise bildet einen krassen Gegensatz zur Notwendigkeit einer stabilen Entwicklungsfinanzierung, die bei einer dem Gemeinwohl dienenden globalen Finanzarchitektur im Mittelpunkt stehen sollte.
Die Industrieländer weigern sich, die Macht und die Entscheidungsbefugnisse im multilateralen System zu teilen
Die wachsende Abhängigkeit von privaten Gläubigern bringt drei zentrale Probleme mit sich: Umschuldungen, Volatilität und höhere Kreditkosten als bei Krediten aus multilateralen oder bilateralen Quellen. Laut dem aktuellen Internationalen Schuldenbericht der Weltbank 2023 ist mehr als ein Drittel der Auslandsschulden von Ländern mit niedrigem Einkommen an variable Zinssätze gebunden, sodass diese Länder den politischen Entscheidungen der Industrieländer ausgeliefert sind. Die Zinszahlungen dieser Schwellen- und Entwicklungsländer erreichten im vergangenen Jahr die Rekordhöhe von 23,6 Milliarden Dollar.
Hohe Zinsen, plötzliche Schwankungen und der hohe Schuldenstand haben dazu geführt, dass viele Schwellen- und Entwicklungsländer ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können und dass ihre Finanzierungsoptionen eingeschränkt sind. Sri Lanka ist ein dramatisches Beispiel für eine untragbare Schuldenlast. Bis zum Jahr 2022 war die Staatsverschuldung hier auf 118,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen. In einem solchen Fall ist die Verringerung der Schuldenlast durch eine weitreichende Umschuldungsvereinbarung die einzige Lösung, um das Land wieder auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad zu bringen. Eine Schuldenkrise ist meist ein Symptom einer viel größeren Wirtschaftskrise, die das Leben der Menschen hart trifft. 2022 verdoppelte sich in Sri Lanka die Armut und steigt seither weiter an.
Durch die Wahrnehmung, dass sich in den öffentlichen Sektoren des Globalen Südens hochriskante Renditechancen bieten, wird die Diskrepanz zwischen sicheren, risikoarmen Investitionen im Norden und volatilen, renditestarken Gelegenheiten im Süden verschärft. Allerdings geht die Gleichung nicht auf, da Gläubiger zwar renditestarke Investitionen wollen, die für ein höheres Risiko stehen, aber im Moment der Zahlungsunfähigkeit das Risiko nicht übernehmen wollen. So wie in Sri Lanka sind es die ärmsten Menschen, die die Folgen dieser Geschäfte zu tragen haben.
Bedenkliches Machtungleichgewicht
Ein weiterer kritischer Aspekt der Schuldenkrise ist das Machtungleichgewicht bei Schuldenverhandlungen. Die Gläubiger haben über Institutionen wie den Pariser Club beträchtlich an Macht gewonnen, was ihre Fähigkeit weiter verbessert, die Konditionen zu beeinflussen. Das setzt sich in Initiativen wie dem „Common Framework for Debt Treatments“ der G20 fort, wo der Pariser Club als Sekretariat fungiert. So musste Sambia beispielsweise dreieinhalb Jahre warten, bis es in diesem Rahmen eine Einigung erreichte – ein Präzedenzfall, der andere Länder zu Recht davor zurückschrecken lässt, sich an diesem Prozess zu beteiligen.
Dieses Ungleichgewicht verhindert die Umsetzung nachhaltiger und effektiver Problemlösungen. Die beherrschende Rolle der Gläubiger untergräbt häufig die Fähigkeit der verschuldeten Länder, faire Bedingungen auszuhandeln – und das verlängert den Kreislauf aus Verschuldung und Abhängigkeit.
In der Folge erleben die Länder eine langanhaltende Schuldennot, in der sie kaum in der Lage sind, ausgewogene Umschuldungsabkommen zu erreichen. Wissenschaftler und Akteure der Zivilgesellschaft arbeiten an Ideen, wie sich die Schuldner besser koordinieren können, um bei Umschuldungsverhandlungen mehr Verhandlungsmacht zu haben. Von den Politikern des Globalen Südens würde dies verlangen, aktiv Verantwortung zu übernehmen und sich einzusetzen.
Ohne erheblichen Druck aus dem Süden werden die Industrieländer das System nicht reformieren
Zwar sind internationale Schocks zentrale Faktoren der derzeitigen Krise. Doch die meisten Schuldenkrisen entstehen aus einer Kombination externer Faktoren und nationaler politischer Maßnahmen. Argentinien etwa kämpft seit Jahrzehnten mit den Folgen politischer Fehlentscheidungen. Die Verflechtung von Inflation, Schulden, Subventionen und anderen Problemen macht es nicht leichter, eine Lösung zu finden.
Die Tatsache, dass Argentinien so viele Schulden aufgehäuft hat, dass es mit Abstand der größte Schuldner des IWF ist, zeigt beispielhaft, wie immer weiter unhaltbare Schuldenvereinbarungen geschlossen werden, die auf die Bedienung der Zahlungsverpflichtungen statt auf die wirtschaftliche Stabilität von Ländern ausgerichtet sind.
Eine neue globale Finanzarchitektur
Um diese systemischen Probleme zu lösen, bedarf es eines umfassenden Ansatzes. Letztendlich sollte das Ziel sein, dass sich die Länder im Globalen Süden eigenständig entwickeln und so an der internationalen Zusammenarbeit beteiligen, dass sie die gemeinsamen Herausforderungen aktiv angehen können. Die im derzeitigen System angelegten Mängel zu erkennen und einen Paradigmenwechsel vorzunehmen, kann den Weg zu einer nachhaltigeren und inklusiveren weltweiten Entwicklung ebnen; und es kann dazu beitragen, solche Krisen zu vermeiden. Beobachter aus dem Süden wie der kenianische Wirtschaftswissenschaftler James Shikwati betonen, wie wichtig Eigenständigkeit und internes Wachstum sind, um aus dem Kreislauf von Abhängigkeit und Schulden auszubrechen. Das zeigt gleichzeitig, wie sehr es im Süden an Vertrauen fehlt, dass das globale System auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer eingehen könnte.
Dennoch muss eine Reform angestrebt werden, durch die auf breiter Basis bessere Finanzierung und mehr Liquidität zu vergünstigten Bedingungen gewährleistet werden können. Die Umsetzung weltweiter Steuerreformen, die Eindämmung illegaler Finanzströme und die Förderung fairer Schuldenverhandlungen sind unverzichtbare Schritte hin zu einem ausgewogeneren und effektiveren multilateralen System.
Einige Lösungsansätze werden seit Jahren diskutiert, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie umgesetzt werden, solange die globale Finanzarchitektur nicht so reformiert wird, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung angemessen vertreten ist. Die Industrieländer werden das System ohne erheblichen und koordinierten Druck der Länder des Globalen Südens wohl kaum reformieren. Wenn es um ihre gemeinsamen Ziele und Prioritäten geht, müssen sich diese Staaten besser absprechen und zusammenarbeiten.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Die Schuld der Gläubiger" erschienen.
Internationale Politik Special 5, September/Oktober 2024, S. 17-21
Teilen
Themen und Regionen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.