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16. Jan. 2012

Die multipolare Welt erfordert mehr Phantasie

Ein Denkanstoß aus gegebenem Anlass

Viele Teilnehmer am politischen Diskurs über die deutsche Außenpolitik würdigen zu Recht die Einbindung Deutschlands in ein vereinigtes Europa, in die NATO und in die westliche Wertegemeinschaft. Aber reicht dieses Bekenntnis für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit?

Eine Antwort auf Ruprecht Polenz/Hans-Ulrich Klose, „Wahre Werte, falsche Freunde“, INTERNATIONALE POLITIK September/Oktober 2011.

Selbstverständlich hat die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union oberste Priorität. Natürlich ist die NATO als Allianz gemeinsamer Werte und kollektiver Sicherheit ohne Alternative für Deutschland. Ohne Frage darf es keine Zweifel an der deutschen Bündnissolidarität geben. Gewiss teilen wir unsere Werte mit den Ländern des Westens – mit unseren europäischen Partnern und unseren Freunden auf der anderen Seite des Atlantiks. Sie sind in allererster Linie unsere strategischen Partner.

So weit, so gut, so unverrückbar.

Doch ergeben sich aus diesen – zweifellos wichtigen – Elementen unserer Außenpolitik per se Antworten auf die Fragen unserer Zeit? Wie gehen EU und NATO mit der Multipolarität der Welt um? Was sind eigentlich die „gemeinsamen Interessen“ – und wer definiert sie? In welchem Sinne soll das internationale Recht, zum Beispiel die Völkerrechtsnorm der „Responsibility to Protect“, fortentwickelt werden? Inwieweit sind wir als Europäer bereit, militärische Mittel einzusetzen? Welchen Stellenwert soll die zivile Krisenbewältigung einnehmen, und welche Mittel sollen dafür zur Verfügung gestellt werden?

Auf diese Fragen geben die berechtigte Bekräftigung der europäischen und westlichen Bindung und die Anerkennung ihrer fortgesetzten Gültigkeit keine Antwort. Aus der Richtigkeit der Strukturen lassen sich keine Konzepte und Handlungsempfehlungen ableiten, im Gegenteil: Das bloße Bekenntnis – ohne Diskussion der Inhalte – verdeckt zu lösende Aufgaben. Dabei spüren doch die politisch Verantwortlichen und auch die Bürgerinnen und Bürger, dass viele Handlungsmuster aus der Vergangenheit einfach nicht mehr so recht passen wollen. Latentes Unbehagen macht sich breit, Akzeptanz schwindet – was die Diskussion über neue Wege für den gesamten Westen umso dringender macht.

Gibt es falsche Freunde?

Die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts unterscheiden sich grundlegend von jenen Bedrohungsszenarien, mit denen Deutschland und seine Partner während des Ost-West-Konflikts konfrontiert waren. Dies sollte nicht als Überhöhung der aktuell vorherrschenden Probleme oder als Geringschätzung der damals gegebenen Bedrohung missverstanden werden. Im Gegenteil: Der alles überlagernde Systemkonflikt zwischen Ost und West führte die Welt nahe an den Abgrund und beinahe in die Katastrophe. Verglichen mit der Gefahr eines Atomkriegs zwischen zwei hochgerüsteten Supermächten nimmt sich die vielfach diagnostizierte asymmetrische Bedrohung heutiger Zeit vergleichsweise bescheiden aus. Dennoch: Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, die bewältigt werden müssen.

Eine davon ist der Umgang mit einer höheren Anzahl von Akteuren in der Welt. Aufstrebende Mächte wie China, Indien, Südafrika und Brasilien spielen dabei genauso eine Rolle wie neu entstandene Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union. Viele internationale Beziehungen entwickeln sich weit dynamischer als zur Zeit des Ost-West-Antagonismus. Daraus ergibt sich unweigerlich für den gesamten Westen die Notwendigkeit neuer strategischer Partnerschaften. Insbesondere in den Vereinten Nationen – gerade im Sicherheitsrat – und in anderen Formaten globaler Zusammenarbeit sind zusätzliche Partnerschaften gefordert. Ohne diese haben wir kaum Chancen, unsere Vorstellungen umzusetzen, wie sich z.B. bei der Kyoto-Nachfolgekonferenz in Kopenhagen gezeigt hat. Der Westen insgesamt hat also guten Grund, die Prinzipien von „Ownership“ und „Beziehungen auf gleicher Augenhöhe“ zu beachten, will er den Eindruck von Dominanz vermeiden und neue Verbindungen dauerhaft festigen.

Bei einigen neuen Partnern werden wir natürlich – wenn auch widerstrebend – akzeptieren müssen, nicht die gleichen Werte- und Gesellschaftsmodelle vorzufinden wie im Westen. Sollte es deshalb mit diesen „falschen Freunden“ keine Kooperation geben? „Wandel durch Annäherung“ hat einmal ein Konzept für unseren Kontinent geheißen. Im Kern war es erfolgreich, weil es auf die Kraft unserer freiheitlichen Werte und auf die verbindende Wirkung von Interessenverflechtungen vertraut hat. Dieses Konzept ist in der globalisierten Welt richtiger denn je.

Never again, never alone – but who orders the menu?

In der Frage des „Ob“ und „Wie“ von Militäreinsätzen werden am ehesten verschiedene Sichtweisen der Partner in EU und NATO deutlich. Die politischen Führungen und die Völker unseres Bündnisses bewerten offensichtlich den Sinn militärischer Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets unterschiedlich. Vor 1989, bei der konkreten territorialen Bedrohung des eigenen Landes, waren die Völker bereit, ihren Anteil an der gemeinsamen Sicherheit zu leisten. Durch die höhere Abstraktion heutiger Bedrohungsszenarien und den Wegfall territorialer Bedrohungen ist es schwierig geworden, für die Akzeptanz militärischer Einsätze zu werben. Das Postulat, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, erschließt sich nicht jedem so unmittelbar wie die direkte Bedrohung im Kalten Krieg.

Im Übrigen ist die in einigen europäischen Ländern zu verzeichnende Zurückhaltung bei Militäreinsätzen (die Bundesregierung spricht von „Kultur der militärischen Zurückhaltung“) wohl nicht nur dem Erfolg der friedlichen Überwindung der Spaltung des Kontinents zuzuschreiben, sondern auch der in den Einsätzen der jüngeren Vergangenheit deutlich gewordenen „begrenzten Reichweite“ militärischer Mittel.

Deshalb ist es auch nicht angemessen, sich die Kritik des scheidenden US-Verteidigungsministers Robert Gates an den europäischen und speziell den deutschen Militärausgaben unkritisch zu eigen zu machen und sich mit gesenktem Haupt in die argumentative Defensive zu begeben. Vielmehr sollten diejenigen in Europa, die bewusst andere, eher die zivilen Instrumente betonenden Ansätze von Krisenprävention, -begleitung und -nachsorge bevorzugen, innerhalb der EU- und NATO-Gremien für ihre Überzeugung werben.

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch in Zukunft werden militärische Mittel unverzichtbarer Bestandteil der Handlungsoptionen von NATO und EU sein müssen. Aber eine Neubewertung vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen im Zeitalter der „asymmetrischen Bedrohungen“ ist unvermeidlich. Weil wir aber – vor allem in Europa – unterschiedliche Bewertungen und verschiedene Bereitschaften für den Einsatz militärischer Mittel haben, mussten wir in den vergangenen Jahren zunehmend beobachten, dass sich Ad-hoc-„Koalitionen der Willigen“ bilden, um in einem konkreten Fall das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Ob diese Methode auf Dauer trägt, sei dahingestellt – zumal die „Nicht-Willigen“ allzu leicht als „Unwillige“ eingestuft werden, obwohl sie vielleicht nur „Anders-Willige“ sind und stärker auf die zivile Komponente von Konfliktbewältigung setzen.

Als Gegenmodell wäre denkbar, dass sich vor allem die Staaten der Europäischen Union stärker als bisher um die Integration ihrer Außen- und Sicherheitspolitik bemühen und gemeinsam definieren, was ihre europäischen und globalen Sicherheitsinteressen sind; welche Mittel zur Erreichung dieser Ziele bereitgestellt werden; gemeinsam entscheiden, wie dabei das Verhältnis von militärischen und zivilen Mitteln aussehen soll; und gemeinsam festlegen, wer im Rahmen von „Pooling and Sharing“ welche Fähigkeit (militärisch und zivil) zu welchen Konditionen bereitstellt: zugegeben, ein ehrgeiziges Programm, aber unausweichlich für ein starkes Europa.

JOACHIM SPATZ MdB (FDP), ist Mitglied des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags und leitet den Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“.

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