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16. Nov. 2020

Die Macron-Doktrin: Ein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten

Während sich auf der anderen Seite des Atlantik ein selten mühevoller Machtwechsel vollzieht, geht der französische Präsident mit Wucht und Verve in die Offensive. Im Interview beschwört Emmanuel Macron eine strategische Autonomie der EU, plädiert für europaweit gewählte Regierungschefs und eine europäische Cloud-Lösung. Außerdem geht der Präsident Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer frontal an – nach ihrem jüngsten Gespräch mit Politico hält er ihr nichts weniger vor als eine „Fehlinterpretation der Geschichte“.

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Bild: Emmanuel Macron im Interview
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Das Interview wurde vom Journal "Le Grand Continent" geführt. Das von der Groupe d'études géopolitiques herausgegebene Magazin hat sich in etwas mehr als einem Jahr zu einer Referenzplattform für strategische, politische und intellektuelle Debatten in Europa entwickelt. Die IP veröffentlicht hier eine stark gekürzte Fassung des Gesprächs. (Zum Volltext)

 

Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende entgegen. Wie würden Sie Ihren aktuellen Kurs beschreiben, zwischen Bewältigung dringender Probleme und einer langfristigen Vision?

Sie sagen es, das Jahr 2020 war von Krisen geprägt. Da ist zum einen natürlich die Covid-19-Epidemie und zum anderen der Terrorismus, der in den letzten Monaten erneut sehr stark in Europa auftritt, aber auch in Afrika. Dabei denke ich insbesondere an den sogenannten „islamistischen“ Terrorismus, der aber in Wahrheit im Namen einer Ideologie ausgeübt wird, die eine Religion entstellt.

 

Diese beiden Krisen kommen zu allen Herausforderungen dazu, die uns schon zuvor beschäftigten und die ich als „strukturell“ bezeichnen würde: Klimawandel, Biodiversität, Kampf gegen Ungleichheiten – also der unerträgliche Zustand von Ungleichheit zwischen unseren und innerhalb unserer Gesellschaften – sowie die große digitale Transformation. Wir befinden uns an einem Moment, in dem kurzfristige Krisen wie die Epidemie und der Terrorismus in einer in der Menschheitsgeschichte selten dagewesenen Weise mit tiefgreifenden und strukturellen Umwälzungen zusammentreffen, die sich auf die internationalen Beziehungen auswirken und sogar anthropologische Konsequenzen haben: Ich denke hier an den Klimawandel, aber auch an technologische Veränderungen, die unsere Vorstellungswelten umformen und das Verhältnis zwischen dem Privaten, dem Öffentlichen und unseren Weltanschauungen erschüttern.

 

Angesichts dieser Situation – und Sie sprechen zu Recht von einem „Kurs“ – glaube ich fest an eine Leitidee: Wir müssen die Formen internationaler Zusammenarbeit neu erfinden. Eine der Eigenschaften all dieser Krisen liegt darin, dass die Menschen sie zwar an verschiedenen Orten unterschiedlich erleben, wir uns jedoch alle zugleich mit großen Umwälzungen und punktuellen Krisen konfrontiert sehen. Um diese bestmöglich zu lösen, müssen wir zusammenarbeiten. Wir werden diese Epidemie und dieses Virus nicht besiegen, wenn wir nicht zusammenarbeiten. Selbst wenn einige einen Impfstoff entwickeln, würde das Virus in gewissen Gebieten immer wieder zurückkehren, wenn der Schutz nicht über den ganzen Planeten verteilt wird. Vom Kampf gegen den Terrorismus sind wir auch alle betroffen: Man darf nicht vergessen, dass 80 % der Opfer dieses islamistischen Terrorismus aus der muslimischen Welt stammen, wie wir es in den letzten Tagen wieder in Mosambik gesehen haben. Angesichts all dieser Krisen bilden wir eine Schicksalsgemeinschaft. (…)

 

Daneben gehört es zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch zu diesem Kurs – und das eine geht nicht ohne das andere – ein politisches Europa zu stärken und zu strukturieren. Warum? Wenn wir uns wünschen, dass Zusammenarbeit entsteht, brauchen wir ausgewogene Pole, die dieser Kooperation in Form eines neuen Multilateralismus Struktur verleihen, das heißt als Dialog zwischen den verschiedenen Mächten, um gemeinsam zu entscheiden. Das setzt das Eingeständnis voraus, dass die Gerüste der multilateralen Zusammenarbeit derzeit geschwächt sind, weil sie blockiert sind: Ich muss feststellen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zurzeit keine brauchbaren Entscheidungen mehr produziert; wir sind alle mitverantwortlich dafür, dass manche Institutionen wie beispielsweise die WHO zu Geiseln der Multilateralismus-Krisen werden.

 

Wir brauchen neu erfundene, geeignete Formen der Kooperation, projekt- und akteursbezogene Koalitionen und zudem eine Modernisierung der Strukturen sowie ein neues Gleichgewicht der Beziehungen. Um dies zu erreichen, müssen wir auch die Modalitäten der Beziehungen überdenken: Für mich besteht das zweite Ziel unseres Kurses in einem starken und politischen Europa. (…)

 

Daher denke ich, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt vor allem den europäischen Faden und die strategische Autonomie nicht verspielen dürfen, diese Stärke, die Europa für sich selbst haben kann. Wenn ich versuche, über das Tagesgeschehen hinauszublicken, würde ich daher vor allem zwei Schwerpunkte einfordern: eine Rückbesinnung auf Wege einer zweckdienlichen internationalen Zusammenarbeit, die Kriege verhindert, uns aber gestattet, auf unsere heutigen Herausforderungen zu reagieren; den Aufbau eines deutlich stärkeren Europas, das seine Stimme, seine Stärke und seine Prinzipien in diesem neu begründeten Rahmen zur Geltung bringen kann.



 

Sie sprechen von einem Kurs und schauen auf die Zukunft, aber man könnte diesen Moment des Umbruchs auch im Rückblick auf die Vergangenheit verstehen und sich fragen, welche Epoche im Jahr 2020 endet. Ist es eine Epoche, die 1989 begonnen hat oder 1945?

(…) Wir sehen, dass sich der multilaterale Rahmen von 1945 in der Krise befindet, und zwar in einer Effizienzkrise, aber schwerer wiegt meines Erachtens die Krise der universellen Geltung der von diesen Strukturen ausgedrückten Werte(…) Gegenwärtig entsteht ein Relativismus, der wirklich einen Bruch darstellt und für das Spiel von Mächten steht, die sich mit dem auf den Menschenrechten basierenden Rahmen der Vereinten Nationen schwertun. Wir beobachten ganz offensichtlich ein chinesisches und ein russisches Spiel mit diesem Thema, in dem ein Werte- und Prinzipienrelativismus propagiert und außerdem versucht wird, diese Werte zu rekulturalisieren und sie in einem Dialog – oder Konflikt – der Kulturen auszuhandeln, indem sie beispielsweise religiösen Maßstäben gegenübergestellt werden. (…) Darin sehe ich also einen ersten Bruch. (…) Es besteht ein zweiter Bruch im Zusammenspiel der Nationen, der meines Erachtens in der Krise der westlichen Gesellschaften nach 1968 und 1989 liegt. Sie können, übrigens überall in Europa, den Aufstieg eines Neokonservatismus beobachten, der auf einer Infragestellung der Werte von 1968 basiert – die Neokonservativen selbst nennen dieses Jahr als Referenzpunkt. Im Grunde liegt darin eine Infragestellung der Werte einer gereiften Demokratie mit ihrer Anerkennung von Minderheiten als einer Befreiungsbewegung der Völker und Gesellschaften, die sich nunmehr mit einer Rückkehr des Mehrheitsprinzips und in gewisser Weise einer Form von Wahrheit der Völker konfrontiert sehen. Das kehrt allenthalben in unsere Gesellschaften zurück. Darin zeigt sich ein deutlicher Bruch, der nicht unbeachtet bleiben darf, da er zu neuer Zersplitterung führt. (…)

 

All diese Elemente führen zu sehr tiefgreifenden Brüchen in unserem Leben und im Leben unserer Gesellschaften sowie mit Blick auf den Geist, der sich zum Zeitpunkt dieser Zäsuren ausgeprägt hat. Genau aus diesem Grund möchte ich etwas in Gang setzen, das man als „Paris-Konsens“ bezeichnen könnte, das jedoch ein Allgemeinkonsens sein soll, den wir heute angestoßen haben, und der über die für den politischen und intellektuellen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte sinnstiftenden großen Momente hinausgeht, um die konkrete Umsetzung des sogenannten Washington-Konsenses zu hinterfragen – also die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaften unter anderem durch das Paradigma offener Volkswirtschaften konstituiert haben, um es mit dem Begriff der Nachkriegszeit in Europa zu sagen: in Form einer sozialen Marktwirtschaft, die im Übrigen immer unsozialer und immer offener wurde, und die sich im Kern in Folge dieses Konsenses einem Dogma mit neuen Wahrheiten verschrieben hat: Senkung der Staatsquote, Privatisierung, Finanzialisierung unserer Volkswirtschaften, mit einer in sich recht geschlossenen Logik der Gewinnerzielung. Diese Ära hat durchaus positive Ergebnisse hervorgebracht, und es wäre zu einfach, sie rückblickend zu verurteilen. Sie hat ermöglicht, Hunderte Millionen von Bewohnern unseres Planeten aus der Armut zu befreien, durch die Öffnung unserer Volkswirtschaften und die Theorie des komparativen Kostenvorteils, von dem zahlreiche arme Länder profitieren konnten. Doch der heutige Blick auf diese Zeit ist ein anderer, was in Bezug auf die von mir erwähnten großen Umwälzungen einen tiefgreifenden Bruch darstellt.

 

Erstens bietet sie keinen Rahmen, um die großen Veränderungen der Welt zu analysieren und zu verinnerlichen, insbesondere den Klimawandel, der im Washington-Konsens ein externer Effekt bleibt. Nun befinden wir uns jedoch an einem Punkt derartiger Dringlichkeit, dass wir uns nicht mehr erlauben können, eine der vorrangigsten Fragen der Gegenwart – zweifellos die wichtigste Frage für die kommende Generation – einfach nur als negativen externen Effekt zu betrachten. Wir müssen sie wieder in den Markt integrieren. Seit dem Übereinkommen von Paris geschieht dies beispielsweise in Form des CO2-Preises, der im Rahmen des Washington-Konsenses nicht begreifbar ist, da er voraussetzt, mehr als nur den Profit einzubeziehen.

 

Der zweite Punkt betrifft die Ungleichheiten. Die Funktionsweise der gegenwärtigen finanzialisierten Marktwirtschaft hat Innovationen und für einige Länder einen Weg aus der Armut ermöglicht, doch sie hat die Ungleichheiten in unseren Gesellschaften verstärkt. Denn sie hat zu massiven Standortverlagerungen geführt und einen Teil unserer Bevölkerung auf ein Gefühl der Nutzlosigkeit reduziert und so zu wirtschaftlichen, sozialen aber auch tiefgreifenden psychologischen Tragödien geführt: Insbesondere unsere Mittelschichten sowie ein Teil der Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen wurden zur Manövriermasse dieser Globalisierung und das ist untragbar. Es ist untragbar und wir haben es ohne Zweifel unterschätzt. (…) Ab dem Zeitpunkt, an dem die Mittelschichten für sich selbst keine Fortschritte mehr erkennen und Jahr für Jahr den Abstieg erleben, wachsen die Zweifel an der Demokratie. Genau das beobachten wir allenthalben, von den USA eines Donald Trump über die Warnsignale bei Wahlen in Frankreich und in vielen europäischen Ländern bis hin zum Brexit breitet sich dieser Zweifel aus, der im Kern Folgendes ausdrückt: „Da es bei mir nicht mehr vorangeht, muss ich um weiterzukommen wohl entweder die Bedeutung der Demokratie reduzieren und eine gewisse Form von autoritärer Herrschaft akzeptieren oder zu Grenzschließungen bereit sein, da die aktuellen Mechanismen der Welt nicht mehr funktionieren.“



 

Könnten Sie noch einmal auf die Begriffe des geopolitischen Europas zurückkommen? Welche konkrete Definition steckt hinter Souveränität, strategische Unabhängigkeit, Europa als Macht?

Europa ist nicht nur ein Marktplatz. Seit Jahrzehnten tun wir stillschweigend so, als wäre die Europäische Union ein gemeinsamer Markt. Aber wir haben Europa für uns selbst nicht als fertigen politischen Raum gedacht. Unsere Währungsunion ist nicht abgeschlossen. Bis zu den Beschlüssen von diesem Sommer gab es kein wirkliches gemeinsames Budget und keine konkrete finanzielle Solidarität. Wir haben die sozialen Themen, die uns zu einem gemeinsamen Raum machen, nicht zu Ende gedacht. Und wir haben nicht ausreichend überlegt, was uns zu einem Machtfaktor im Zusammenspiel der Nationen macht, als eine hochgradig vernetzte Region mit einem klar politisch ausgerichteten Profil. Europa muss sich selbst politisch neu erfinden und politisch handeln, um gemeinsame Ziele abzustecken, die nicht einfach nur unsere Zukunft an den Markt übertragen.

 

Das heißt konkret, wenn wir über Technologien sprechen, muss die Europäische Union ihre eigenen Lösungen aufbauen, um nicht von einer amerikanisch-chinesischen Technologie abhängig zu sein. Denn wenn wir auf diese angewiesen sind, zum Beispiel im Bereich der Telekommunikation, können wir den EU-Bürgern nicht die Vertraulichkeit von Informationen und den Schutz ihrer privaten Daten garantieren, da wir nicht über diese Technologie verfügen. Als politische Macht muss die EU Cloud-Lösungen anbieten können, ansonsten werden Ihre Daten an Orten abgespeichert, die nicht unserem Rechtssystem unterliegen – so geschieht es zurzeit. Wenn wir also über derart konkrete Themen sprechen, dann sprechen wir im Kern über Politik und Bürgerrechte. Wenn die EU ein politischer Raum ist, dann müssen wir diesen so aufbauen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Rechte haben, die wir politisch garantieren können. Um es klar zu sagen: Wir haben dabei zugeschaut, wie Situationen entstanden sind, in denen dies nicht mehr wirklich der Fall ist. Heute sind wir dabei, beispielsweise für das Telefon eine technologische Autonomie neu aufzubauen, nicht aber für die Datenspeicherung in der Cloud. Unsere Informationen befinden sich in einer Cloud, die nicht EU-Recht unterliegt, und im Falle eines Streitfalls hängen wir vom guten Willen und Funktionieren der US-amerikanischen Rechtsprechung ab. Aus politischer Sicht ist das für gewählte Vertreter unerträglich, denn das bedeutet, dass wir nicht die Möglichkeiten geschaffen haben, etwas zu garantieren, das Sie als Bürgerinnen und Bürger legitimerweise von mir verlangen – den Schutz Ihrer Daten, eine diesbezügliche Garantie oder Regulierung, in jedem Fall eine informierte und transparente gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema. (…) Wovon hängt es ab, dass wir Entscheidungen für uns selbst treffen? Darin liegt die Autonomie: in der Idee, dass wir die für uns gültigen Regeln selbst festlegen. Dazu gehört es, in den Bereichen Technologie, Finanzwesen und Währungen einen neuen Blick auf politische Praktiken zu werfen, an die wir uns gewöhnt haben, Praktiken zum Aufbau einer eigenen europäischen Politik mit Lösungen für uns, unsere Unternehmen und unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns ermöglichen, mit anderen zu kooperieren, nach unserer eigenen Entscheidung, statt von anderen abhängig zu sein, wie es heute noch allzu oft der Fall ist. Wir haben die Dinge in den letzten Jahren deutlich verbessert, aber dieses Problem nicht gelöst.

 

Können wir so weit gehen, von europäischer Souveränität zu sprechen, wie ich es selbst bereits getan habe? Ich gebe zu, dass das ein etwas überzogener Begriff ist, denn wenn es eine europäische Souveränität gäbe, dann gäbe es auch eine vollständig etablierte europäische politische Macht. So weit sind wir noch nicht. Wir haben ein Europäisches Parlament, das sich immerhin für die Vertretung der Bevölkerung der EU einsetzt, aber ich halte diese Formen der Repräsentation nicht für völlig zufriedenstellend. Aus diesem Grund hatte ich mich übrigens stark für länderübergreifende Listen eingesetzt, also das Zutagefördern eines wahren europäischen demos, der sich stärker transversal strukturieren könnte, statt separat in jedem Land und dort jeweils innerhalb seiner jeweiligen politischen Familie. Ich hoffe, dass uns dies bei der nächsten Wahl möglich sein wird. Wenn wir echte europäische Souveränität wollen, brauchen wir wohl europäische Regierungschefs, die vollständig vom europäischen Volk gewählt werden. Es handelt sich gegenwärtig also, wenn ich so sagen darf, um eine transitive Souveränität. Doch aus der Tätigkeit der EU-Kommission, des Europäischen Rates mit den von ihrem jeweiligen Volk gewählten Staats- und Regierungschefs sowie des Europäischen Parlaments bildet sich eine neue Form der Souveränität heraus, die nicht national sondern europäisch ist.

 

Allerdings spreche ich vom Wesen der Souveränität, wenn ich diesen Begriff verwende, das wir vielleicht in neutralerer Form in der Bezeichnung „strategische Autonomie“ wiederfinden. Ich halte es für unabdingbar, dass unser Kontinent Mittel und Wege findet, für sich selbst zu entscheiden, sich auf sich selbst zu verlassen, nicht von anderen abhängig zu sein – und zwar wie gesagt in allen Bereichen, in technologischer Hinsicht, aber auch in Fragen der Gesundheits- und Geopolitik – und frei über seine Zusammenarbeit mit wem auch immer zu befinden. Warum? Weil ich denke, dass wir ein geographischer Raum mit kohärenten Werten und Interessen sind, den es an sich zu verteidigen lohnt. (…)

 

Dennoch bin ich einer Sache gewiss: Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sind unsere historischen Verbündeten, wir schätzen die Freiheit und die Menschenrechte ebenso wie sie, wir sind intensiv miteinander verbunden, aber wir haben zum Beispiel eine Vorliebe für Gleichheit, wie sie in den USA nicht zu beobachten ist. Unsere Werte sind nicht so ganz dieselben. So fühlen wir uns etwa der sozialen Demokratie verpflichtet, die mehr Wert auf Gleichheit legt, unsere Lösungsansätze unterscheiden sich hier voneinander. Ich denke auch, dass die Kultur bei uns eine größere Rolle spielt, eine viel größere. Und schließlich ist unsere räumliche Vorstellungswelt eine andere, in Verbindung mit Afrika und dem Nahen Osten, wodurch unsere Interessen auseinandergehen können. Unsere Nachbarschaftspolitik mit Afrika, dem Nahen Osten oder Russland stellt für die Vereinigten Staaten von Amerika keine Nachbarschaftspolitik dar. Es ist also nicht haltbar, dass unsere internationale Politik von ihr abhängig ist oder ihr Anhängsel bildet. Und was ich hier sage, gilt umso mehr für China. Aus all diesen Gründen halte ich das Konzept einer europäischen strategischen Autonomie oder einer europäischen Souveränität für sehr überzeugend, sehr fruchtbar. Es definiert uns als zusammenhängenden politischen und kulturellen Raum und wir sind es unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig, dass sie nicht von anderen abhängig sind. Das ist die Grundbedingung, um im aktuellen Konzert der Nationen Gewicht zu haben.



 

Sie sprechen davon, Gewohnheiten zu verändern, aber diese Position bleibt bislang am noch nicht hängen. Worin bestehen die Blockaden? Woran liegt es, dass diese Vision trotz allem Schwierigkeiten hat, Wirklichkeit zu werden?

Da bin ich mir nicht so sicher. Als ich diese Vorstellung bei meiner Rede in der Pariser Sorbonne erstmals angeführt habe, hieß es vielfach „das schafft er nicht, das ist eine französische fixe Idee“. Gerade einmal drei Jahre später haben wir ein Europa der Verteidigung, einen Europäischen Verteidigungsfonds, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit sowie eine Interventionsinitiative mit knapp zehn Gründungsmitgliedern. Im Technologie-Bereich gehen die Dinge voran, seit Frankreich die Idee einer gemeinsamen europäischen Entwicklung der 5G-Technologie lanciert hat, und Deutschland ist dabei, sich uns bei diesem Thema anzuschließen, was angesichts des dortigen Vorsprungs keine Selbstverständlichkeit war. Wir sind also auf einem konkreten Weg, unsere Souveränität im Bereich der Technologie neu auszurichten. Die Gesundheitskrise hat dazu geführt, dass wir unsere Souveränität in diesem Bereich sowie in der Gesundheitsindustrie überdacht haben. Sie war ein Indikator für unsere Abhängigkeiten. Wenn ganz Europa um Handschuhe und Masken bettelt, verstehen wir alle, dass wir erneut auf unserem Territorium Handschuhe und Masken produzieren sollten. Genau dazu dient der Aufbauplan.

 

Bei Finanzthemen hat es einige Zeit gedauert, aber im Juni 2018 konnten Frankreich und Deutschland gemeinsam die Erklärung von Meseberg über die Einführung eines gemeinsamen Eurozonen-Budgets unterzeichnen, um die Themen der wirtschaftlichen und finanziellen Autonomie der EU voranzubringen. Daraus ist auf europäischer Ebene eine unvollkommene Übereinkunft hervorgegangen, und wegen der Covid-19-Krise haben wir die deutsch-französische Vereinbarung vom Mai 2020 unterzeichnet, die es ermöglicht, die Wirtschaftshilfen auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags auszuweiten, und die den Weg für die historische Vereinbarung vom Juli ebnete, die in Rekordzeit eine budgetäre Antwort auf die Krise vorlegte, aber auch die Grundlagen für den Aufbau eines EU-weiten Haushalts entwickelte. Dieser Beitrag ist nicht zu unterschätzen. Zum ersten Mal entscheiden wir, uns gemeinsam zu verschulden, um das Geld gemeinsam in je nach Region und Sektor unterschiedlicher Weise dort zu investieren, wo am meisten Bedarf besteht. Das entspricht einer Transferunion, die auf einer gemeinsamen Unterschrift, einer gemeinsamen Verschuldung beruht. Dies ist also ein wirklich entscheidender Punkt, um die Souveränität des Euro aufzubauen und ihn zu einer echten Währung zu machen, die nicht oder deutlich weniger von anderen abhängt, und um innerhalb unseres Bündnisses eine Haushaltssouveränität zu schaffen. Wir sind also in all diesen Punkten vorangekommen. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, bei geopolitischen Entscheidungen – wie man an unseren unterschiedlichen Positionen zu Russland oder der Türkei sieht – und in der Kraft unserer Antworten, aber ich gehe davon aus, dass der Weckruf angekommen ist.

 

Wenn man es ohne Umschweife ausdrücken möchte, stellt sich folgende Frage: Wird der Regierungswechsel in den USA dazu führen, dass die EU-Länder diese Ziele weniger konsequent verfolgen? Ich teile beispielsweise ganz und gar nicht die von der deutschen Verteidigungsministerin in einem Gastbeitrag für Politico geäußerte Position. Ich halte das für eine Fehlinterpretation der Geschichte. Zum Glück verfolgt die deutsche Kanzlerin nicht diese Linie, wenn ich es richtig verstanden habe. Aber die USA werden uns nur als Verbündete akzeptieren, wenn wir uns selber ernst nehmen, und wenn wir in unserer eigenen Verteidigung souverän sind. Ich denke daher, dass der Regierungswechsel in den USA vielmehr eine Chance ist, in völlig beruhigter und entspannter Weise weiter am unter Verbündeten notwendigen gegenseitigen Verständnis dafür zu arbeiten, dass wir den Aufbau unserer eigenen Autonomie fortsetzen, genau wie es die Vereinigten Staaten und China jeweils für sich auch tun.

 

(Übersetzung: Philipp Hertzog und Heinke Wagner)

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online Exklusiv, November 2020

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