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21. Jan. 2016

Die letzte Europäerin

Auch in Krisenzeiten setzt Angela Merkel alles daran, die EU zusammenzuhalten

Geduld, langen Atem und Überzeugungskraft – das braucht die deutsche Bundeskanzlerin sowohl in der EU als auch in der eigenen Union, um eines ihrer wichtigsten Ziele durchzusetzen: mehr Europa! Dabei geht es ihr nicht um Altruismus oder EU-Schwärmerei, sondern um die Durchsetzung nationaler Interessen und die Wahrung europäischer Werte.

Es begann mit Griechenland. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2011 aus dem Urlaub zurückkehrte, war für sie nach reiflichem Nachdenken eine Entscheidung gefallen: Trotz des Drucks aus CDU und CSU würde sie Griechenland nicht aus der Währungszone werfen. Stattdessen forcierte Merkel danach den Versuch, die Euro-Zone im Geleitzug aller Partner zu reformieren und zu festigen. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ lautet seither ihr Mantra, mit dem sie bei EU-Partnern und Parteifreunden für ihren Kurs warb. Europa müsse gestärkt aus der Schuldenkrise hervorgehen. Ein Großteil auch der folgenden Auseinandersetzung um Reformzusagen gerade Athens im Gegenzug zu neuen Milliardenhilfen erklärte sich daraus, dass Merkel durch ein verschärftes Regelwerk dauerhafte Stabilität für das „Schönwetter-Projekt“ des Euro schaffen wollte.

Ihr Versuch, zumindest den Status quo der erreichten Integration zu bewahren, lässt sich seither an allen europäischen Großkrisen belegen – an der Euro-Krise, den Turbulenzen im Schengen-Raum in der Flüchtlingskrise, aber auch am Umgang mit schwierigen EU-Partnern wie Großbritannien, Ungarn oder Polen. In allen Punkten widerspricht sie wechselnden Gruppen von EU-Regierungen und vor allem eigenen Parteifreunden, die ein härteres Vorgehen mit dem jeweiligen „Problemland“ fordern. In ihrer Regierungserklärung vom 17. Dezember 2015 zum EU-Gipfel fasste Merkel ihr europapolitisches Denken in einer Warnung zusammen. „Wir müssen bei all dem, was wir tun, an den Zusammenhalt der Europäischen Union und an unsere gemeinsame Verantwortung für Europa und für unsere Werte denken“, sagte sie und forderte ausdrücklich Geduld im Umgang miteinander und bei der Lösung von Problemen: „Ich weiß, dass dies ein wahrlich dickes Brett ist, das es zu bohren gilt – mit viel Geduld, langem Atem und auch mit Überzeugungskraft … Aber die Geschichte Europas lehrt, dass sich Geduld und Zähigkeit am Ende eines langen Weges noch immer ausgezahlt haben.“

Vier Gründe sind verantwortlich dafür, dass diese Haltung schon vor der Flüchtlingskrise, aber auch heute öffentlich nicht wirklich mit Merkel verbunden wird. Erstens war für die Ostdeutsche das europäische Projekt nicht von vornherein eine Herzensangelegenheit wie für den Rheinland-Pfälzer Helmut Kohl. Tatsächlich klingen Merkels Reden über Europa kühler, weniger empathisch. Dennoch hat sie immer wieder betont, dass die einzige Chance der EU und Deutschlands, sich in der Globalisierung mit ihren Lebensmodellen angesichts demografischer Veränderungen überhaupt noch zu behaupten, in einer vertieften europäischen Integration liegt – auf die sie deshalb immer wieder pocht. Oft wird vergessen, dass dies ein schneller Lernprozess bei der seit 2005 regierenden Kanzlerin war. Denn es war das Verdienst der ersten Großen Koalition in Berlin, den Lissabonner Vertrag nach den gescheiterten Referenden über eine europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden „gerettet“ zu haben: In der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 hatten Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Apathie vieler EU-Partner überwunden. Damals erlaubte sich Merkel zumindest einen Satz Pathos und deklarierte: „Europa ist zu seinem Glück vereint“ – einen Satz, den sie seither dutzendfach wiederholt hat.

Zweitens haben ausgerechnet die Anhänger einer EU-Integration Merkels europapolitisches Engagement über lange Zeit diskreditiert. Stein des Anstoßes war, dass die Kanzlerin in der Finanzkrise verstärkt auf intergouvernementale Absprachen statt auf die so genannte Gemeinschaftsmethode setzte. Dies ärgerte EU-Kommission und EU-Parlament, weil sich beide übergangen fühlten. Dabei war das Vorgehen durchaus „integrationistisch“ gedacht. Denn die intergouvernementale Methode war eine reine Notlösung, um überhaupt noch Verabredungen über eine verstärkte Zusammenarbeit einiger Staaten in Europa treffen zu können – Finanzminister Wolfgang Schäuble und Merkel teilten deshalb notgedrungen diesen Ansatz. Denn das konservativ regierte Großbritannien verweigert sich seit Jahren und verhindert weitreichende Absprachen im Kreis der 28 EU-Regierungen. Das sozialistisch regierte Frankreich wiederum blockiert aus Angst vor einer erneuten Referendumspleite jeden tieferen Integrationsschritt, der substanzielle Vertragsänderungen nach sich ziehen würde.

Drittens scheinen große neue Integrationsschritte derzeit unrealistisch. Darunter leidet das Ansehen aller EU-Politiker: Tatsächlich ist die EU nach den Großprojekten Euro und Schengen sowie dem Lissabonner Vertrag in eine Phase getreten, in der es zunächst darum geht, die Konstruktionsfehler des bisherigen Weges zu beseitigen. Gefragt sind derzeit eher kühle Mechaniker und politische Therapeuten als Visionäre. Es geht darum, sich angesichts der erneut aufbrechenden Differenzen zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd erst einmal wieder bewusst zu machen, was eigentlich das Verbindende für alle Beteiligten an diesem großen europäischen Projekt ist. Weitere große Integrationsschritte wirken dagegen immer schwieriger, weshalb der Titel eines „großen Europäers“ nur noch selten verliehen wird: Für Merkel ist ein „guter Europäer“ deshalb heute nicht unbedingt derjenige, der unablässig nach weiteren Schritten der Integration sucht, sondern wer dafür sorgt, dass die EU überhaupt noch zusammenhält.

Viertens hat Merkel es vor allem in der Flüchtlingskrise nicht geschafft, das Image eines Alleingangs zu zerstören. Deshalb wird ihr heute von vielen die Verantwortung für die Spannungen in der EU gegeben – obwohl das leitende Motiv in der Flüchtlingskrise für sie, aber auch für Finanzminister Schäuble oder Außenminister Steinmeier die europäische Dimension und Lösung war. 

Griechenland und die Euro-Krise

Die Griechenland-Krise war der erste Testfall für diese Position im Jahr 2015 – der sich möglicherweise 2016 wiederholen wird. Nach dem Amtsantritt des Linkspolitikers Alexis Tsipras endete die jahrzehntelang geltende Solidarität mindestens einer der beiden großen europäischen Parteienfamilien mit dem Land an der Ägäis, das entweder von einem Sozialisten oder einem Konservativen geführt worden war. Tsipras langanhaltende Weigerung, sich für neue Finanzhilfen an nötige Reformzusagen zu halten, stellte die Euro-Partner vor eine sehr grundsätzliche Frage: Was wiegt schwerer – die Einhaltung der Regeln oder der Austritt eines Landes aus der Wirtschafts- und Währungsunion? Der Streit darüber spitzte sich bis Juli 2015 immer weiter zu. Dann war es ausgerechnet Finanzminister Schäuble, dem vorgeworfen wurde, Griechenland notfalls aus dem Euro werfen und die Euro-Zone spalten zu wollen. Das war insofern bemerkenswert und kurios, weil gerade der Baden-Württemberger bis dahin von den Medien stets als der letzte überzeugte Europäer in der Bundesregierung beschrieben worden war. Aber in einem Arbeitspapier des Finanzministeriums tauchte tatsächlich die Option eines vorübergehenden Euro-Austritts für den Fall auf, dass Tsipras das Gefühl haben sollte, die geforderten Reformen nicht umsetzen zu wollen oder zu können. In der abschließenden Sitzung der Euro-Finanzminister am 11. Juli zeigte sich in Brüssel, dass diese Option die Stimmung in der Euro-Gruppe ziemlich gut traf: Denn Deutschland war keineswegs isoliert. Die Mehrheit der von Athen entnervten Euro-Finanzminister sah Griechenlands Euro-Aus als mögliche Option an.

Auf dem direkt danach folgenden und entscheidenden EU-Gipfel sorgten dann aber Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande für eine Einigung – im „europäischen“ Sinne und der Tradition deutsch-französischer Kompromisse folgend. Nach dem Versprechen Athens, sich dem Reformkurs der internationalen Geldgeber endlich zu beugen, akzeptierte die Bundeskanzlerin den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone. Und dies, obwohl absehbar war, dass später 63 Unionsabgeordnete im Bundestag gegen das neue Milliardenpaket für Athen stimmen würden und sich innerhalb der CDU/CSU-Fraktion ein harter Ablehnungskern gegen ihre Politik herausbildete.

Zwei Gründe waren damals ausschlaggebend dafür, dass Merkel sich für den Zusammenhalt in der Euro-Zone und eine Verlängerung des Ringens mit Griechenland entschloss: Zum einen teilte sie Hollandes Einschätzung, dass der Ausschluss eines einzigen Landes aus der Euro-Zone von Spekulanten als Signal für den Zerfall der Gemeinschaftswährung gewertet werden könnte. Bei Besuchen in China, den USA oder am Golf war Merkel immer wieder deutlich gemacht worden, dass man ihr als Regierungschefin des stärksten Euro-Landes eine besondere Verantwortung für die Stabilität der Euro-Zone zuwies. Zum anderen wollte die Kanzlerin auf keinen Fall einen Bruch der deutsch-französischen Achse zulassen. Hollande hatte sich aber auch aus innerparteilichen Gründen darauf versteift, Tsipras eine weitere Chance zu geben. Nicht zum ersten Mal betonte Merkel damals ihre Grundüberzeugung, dass Absprachen Deutschlands und Frankreichs zwar im Europa der 28 Mitglieder nicht mehr alleine ausreichten, um Beschlüsse durchzusetzen – dass aber die EU ohne einen Ausgleich der beiden größten Euro-Volkswirtschaften und der unterschiedlichen deutschen und französischen Sichtweise gefährdet sei. Dies gilt auch für den Versuch, mit der Integration der Euro-Zone trotz oder gerade wegen der Krise voranzuschreiten.

Flüchtlingsstrom und Schengen-Raum

Merkels europapolitische Priorität wurde noch augenfälliger in der Flüchtlingskrise, die zumindest die deutsche Politik seither dominiert. Verstehen kann man dies nur, wenn man einige Monate zurückgeht – zumindest bis April 2015. Damals fand der EU-Sondergipfel statt, auf dem eine Grundsatzfrage geklärt wurde: Man gab der Rettung von Bootsflüchtlingen den Vorrang vor einem konsequenten Schutz der EU-Außengrenzen. Gleichzeitig verabredete man den gemeinsamen Kampf gegen Schlepperbanden. Grund war die öffentliche Empörung über den Tod von fast 900 Flüchtlingen eines gekenterten Schiffes. Im April entschieden die 28 EU-Staats- und Regierungschefs, die Flüchtlingskrise endlich zu „europäisieren“, nachdem man zuvor die Hauptlast den Schengen-Grenzstaaten Italien oder Griechenland überlassen hatte – auch von deutscher Seite.

Seit dieser Kurskorrektur ist Merkel zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung von diesem europäischen Ansatz nicht mehr abgerückt, auch nicht, als die Flüchtlingszahlen über die so genannte Balkan-Route seit Juli immer mehr anschwollen und Länder wie Ungarn Deutschland die Schuld für eine zu offene „Willkommenspolitik“ gaben. Merkel hat die ihr unterstellte Mitverantwortung für den Anstieg der Flüchtlingszahlen etwa durch Selfies mit Syrern immer wieder entschieden zurückgewiesen: Ein Blick in die Statistiken zeige, dass der Anstieg der Flüchtlingszahlen über die Balkan-Route in Wahrheit schon lange vorher begonnen habe. Einen „Pullfaktor“ habe Deutschland weniger durch sie, sondern vor allem durch die Größe, wirtschaftliche Stärke, hohen Sozialleistungen, niedrige Arbeitslosigkeit, Bekanntheit des Landes und vielleicht auch die freundliche Aufnahme der Münchner Bevölkerung ausgelöst. Später übernahm die Kanzlerin die Formulierung Schäubles, dass die Flüchtlingskrise ein fast unvermeidliches Rendezvous der Deutschen mit der Globalisierung sei, die eben auch von großen Flüchtlingsbewegungen in der direkten europäischen Nachbarschaft geprägt sei. Immer wieder wies sie zudem auf die besondere Verantwortung der Europäer hin, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, weil tausende EU-Bürger ihrerseits als Kämpfer der terroristischen IS-Miliz mit für eine Destabilisierung Syriens und Iraks gesorgt hatten.

Den zuerst vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán eingeschlagenen Kurs, sich im nationalen Alleingang gegen die steigende Zahl von Flüchtlingen und Migranten mit Grenzzäunen abzuschotten, wies Merkel deshalb früh und entschieden zurück. Stattdessen organisierte sie zusammen mit der EU-Kommission eine Balkan-Konferenz, um die betroffenen Staaten auf der Flüchtlingsroute zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Als Grund nannte Merkel offen die Sorge, dass sich auf dem Westbalkan alte Konflikte zwischen den mittlerweile zu EU-Beitrittsaspiranten gemauserten Staaten durch eine chaotische Flüchtlingssituation wieder gefährlich zuspitzen könnten.

In Deutschland wies Merkel sowohl die Forderungen der CSU nach einer Obergrenze für Flüchtlinge zurück als auch den Einsatz bayerischer Grenzschützer an der deutsch-österreichischen Grenze – und ließ sich diese Position noch Anfang Januar von der CDU-Spitze bestätigen. Die Kanzlerin forcierte zwar ein Bündel nationaler Maßnahmen, um die „Pullfaktoren“ abzubauen und den Flüchtlingszustrom zu ordnen, Anreize für Migranten abzubauen, Abschiebungen zu vereinfachen und um endlich wieder einen Überblick über die ankommenden Menschen zu erhalten. Aber sowohl auf dem EU-Gipfel im Dezember, auf dem folgenden CDU-Bundesparteitag als auch bei den Unions-Klausurtagungen im Januar bestand sie trotz heftigen Widerstands darauf, dass die Reduzierung der Flüchtlingszahlen nur durch Absprachen auf europäischer Ebene, mit der Türkei und den Herkunftsländern zu erreichen sei. 

Der Grund: Merkel war überzeugt davon, dass ein einseitiges Vorgehen des hauptbetroffenen Landes Deutschland die EU sprengen würde. „Ich bin überzeugt, dass gerade Deutschland, das volkswirtschaftlich stärkste Land Europas, in dieser Zeit eine besondere Verantwortung wahrzunehmen hat und dass es oft ganz besonders auf unser Land ankommt, wenn es darum geht, die Errungenschaften der europäischen Integration zu wahren und zu schützen. Die beiden wichtigsten sind für mich die offenen Binnengrenzen und die gemeinsame Währung“, sagte sie in ihrer Regierungserklärung am 17. Dezember. Diese Errungenschaften zu bewahren, liege zutiefst im deutschen Interesse. „Deshalb dürfen wir gerade in schwierigen Zeiten nicht der Ver­suchung erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen. Ab­schottung ist im 21. Jahrhundert keine vernünftige Option.“

Weil die EU-Partner aber weder die Beschlüsse zum Aufbau von Registrier- und Verteilzentren (Hotspots) in Italien und Griechenland noch die Verteilung zumindest von 160 000 syrischen Flüchtlingen umsetzen wollten, erhöhte Merkel im Januar notgedrungen den Druck: Weil sie nach den sexuellen Übergriffen vor allem von Nordafrikanern in der Silvesternacht in Köln innenpolitisch unter immer größeren Druck geriet, erinnerte sie am 11. Januar daran, dass ein Scheitern des passfreien Schengen-Raums und die Rückkehr zu nationalen Grenzkontrollen gravierende Folgen für die ganze EU ­haben würden. „Der Euro und die Freizügigkeit der Bewegung über Grenzen hinweg hängen unmittelbar zusammen“, mahnte sie. Wenige Tage später folgten Schäuble und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit ähnlichen, teilweise dramatischen Warnungen, dass der Zusammenhalt der gesamten EU auf dem Spiel stehe.

Trotz des wachsenden Drucks auch durch Umfragen widerstand Merkel weiter den Forderungen aus Bayern und von der CDU-Rechten, die deutsch-österreichische Grenze dicht zu machen. Deutschland als größte Volkswirtschaft in der Mitte der EU habe eine besondere Aufgabe, die Freizügigkeit der Bewegung im europäischen Binnenmarkt zu erhalten, betonte sie. Es gebe in Wahrheit keine gute Alternative zu einem gemeinsamen EU-Vorgehen, sekundierte Schäuble. Merkel machte zugleich klar, dass Deutschland irgendwann handeln müsse, aber der letzte Staat sein werde, der zu nationalen Lösungen zurückkehren werde.

Die europäische Dimension ihrer Politik wird vor allem deutlich, wenn man sich das Verhalten anderer EU-Staaten anschaut: Frankreich und Großbritannien denken wegen gravierender Terroranschläge und eines Austrittsreferendums nur noch national, ebenso wie ein vom Zerfall bedrohtes Spanien, ein rechtsnational regiertes Polen oder ein von innenpolitischen Kämpfen geprägtes Italien – um nur die großen EU-Staaten zu nennen. Mit Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann entschied sich unter innenpolitischem Druck am 20. Januar auch noch der letzte wirkliche Verbündete in der Flüchtlingskrise für eine nationale Obergrenze von 130 000 Flüchtlingen für die kommenden vier Jahre. Merkel ließ aber auch danach noch verkünden, dass sie weiter an einer gemeinsamen europäischen Lösung festhalte, um die Zahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig zu reduzieren.

Merkels Credo ist ähnlich dem in der Euro-Krise: Ihre Vorgänger haben sich für europäische Schönwetterprojekte wie Schengen und Dublin-Regelung feiern lassen; nun gilt es, die Regeln auch für schlechte Zeiten wetterfest zu machen. Und Merkel will die mittlerweile in Europa fast einzigartige Stabilität der Großen Koalition in Berlin dafür nutzen. 

Verhinderung eines Brexit

Merkels Beharren auf die Einheit der EU bezieht sich aber auch auf die Erosionsgefahren an anderen Rändern der Union. Deshalb zeigt sie mehr Verständnis für die britischen Anliegen einer Neuordnung der Beziehungen zur EU als viele andere europäischen Partner – obwohl sie den britischen Premierminister David Cameron schon vor dessen Wiederwahl gewarnt hatte, nicht mit einem Referendumsversprechen und Zugeständnissen auf die EU-Gegner in Großbritannien zu reagieren. Aber in ihrer zehnjährigen Amtszeit hat Merkel die Erfahrung gemacht, dass sich Entwicklungen in anderen EU-Staaten nur sehr begrenzt steuern lassen – man sich also wie bei Griechenland darauf einstellen muss, neu gewählte Regierungen mit nationalistischen Tendenzen in den europäischen Klub zu integrieren. Demokratie in Europa sorgt nun einmal dafür, dass in nationalen Wahlen der 28 EU-Staaten immer wieder neue politische Konstellationen in Europa entstehen. „Deutschland jedenfalls wünscht sich, dass Großbritannien dauerhaft ein aktiver Partner in einer starken Europäischen Union bleibt“, betonte Merkel deshalb am 17. Dezember – wiederum mit Blick auf das große Ganze. „Denn es ist eben nicht nur das Vereinigte Königreich selbst, das von seiner Mitgliedschaft profitiert; es ist auch die Europäische Union als Ganzes, die ohne das Vereinigte Königreich deutlich an Gewicht verlieren würde“, mahnte sie und verwies auf die 15 Prozent Wirtschaftskraft der EU und den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. „Das ist gerade in diesen Zeiten von enormer Bedeutung, in Zeiten, in denen Europa international gefordert ist wie nie zuvor.“

Wie beim Schengen-Raum und Euro argumentiert Merkel auch hier durchaus offen mit nationalem Interesse – das für sie in sehr vielen Punkten mit einer vertieften und erweiterten EU übereinstimmt. Großbritannien verfolge in vielen europäischen Politikbereichen ähnliche Ziele wie Deutschland. „Es ist in vielen Fragen ein natürlicher Verbündeter“, sagt sie. Anders ausgedrückt: Merkel braucht Großbritannien als Partner, um Ziele wie mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit durchzusetzen. „Denn Europa muss auf einem wirtschaftlich soliden Fundament stehen, um auch alle anderen Herausforderungen überhaupt bewältigen zu können.“ Deshalb verwendet die Bundesregierung derzeit mehr Energie und Kreativität als wohl jede andere EU-Regierung darauf, Cameron Brücken zu bauen – etwa mit dem Vorstoß, den Sozialhilfeanspruch von EU-Ausländern per Gesetz auch in Deutschland zu beschränken.

Schwierige Partner Ungarn und Polen

Übersehen wird oft, dass Merkel sich nicht nur bei den Abspaltungstendenzen als „letzte Europäerin“ zeigt, sondern auch bei der Verteidigung dessen, was die EU eigentlich ausmacht. Stärker als andere setzt sie sich dafür ein, dass grundlegende Spielregeln und gemeinsame Werte eingehalten werden. Menschenrechte spricht Merkel – anders als etwa der Brite Cameron – auch dann an, wenn sie in China auf Staatsbesuch ist. Bei den meisten Reisen pocht sie auf Pressekonferenzen im Gastland, in denen auch kritische Fragen gestellt werden können. Und wo immer möglich, fordert sie ihre Gäste in Berlin dazu auf, sich Pressekonferenzen zu stellen, die eine Grundvoraussetzung für freie Berichterstattung und einen demokratischen Diskurs sind. Das Credo lautet dabei stets: Die EU kann in der Welt nur dann ihre Werte durchsetzen, wenn sie sich selbst daran hält. Dazu gehören wie in der Flüchtlingsfrage auch die Offenheit gegenüber anderen Religionen, das ernsthafte Vorleben christlicher Werte und eben der Schutz von Schutzbedürftigen. Am 11. Januar sagte sie: „Ich glaube, wir mit unserem Wertesystem, wir mit dem, was wir über Demokratie, über Menschenwürde sagen, müssen dazu einen Beitrag leisten, wenn man nicht alles, was wir über unsere Werte sagen, über unsere Interessen, über das, was uns leitet, im Rest der Welt als Schall und Rauch verbuchen will.“

Gerade diese Haltung macht die Auseinandersetzung mit EU-Partnern wie Ungarn oder Polen schwierig, deren rechtsnationale Regierungen dem Vorwurf ausgesetzt sind, rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen. Merkel hat bisher der Versuchung widerstanden, offen harte Kritik an den Regierungen in Budapest oder Warschau zu üben. Dies hängt weniger damit zusammen, dass die Ostdeutsche ohnehin die politischen und mentalen Brüche besser kennt, die die ehemaligen kommunistischen Ostblock-Gesellschaften auch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zu durchleben haben. Entscheidender ist, dass Merkel – schon im deutschen Interesse – daran festhalten will, dass solche Rechtsstaatsdebatten von der EU-Kommission, aber nicht von einzelnen EU-Staaten geführt werden. Der Stabilitätsgewinn durch die EU liegt gerade darin, auf dem alten Kontinent solche Differenzen nicht mehr bilateral auszutragen. Deshalb hat sie sich mit Kritik an der neuen polnischen PiS-Regierung bewusst zurückgehalten und stattdessen den Willen zur Zusammenarbeit betont. Ungehalten wird Merkel nur dann, wenn sich die östlichen EU-Partner bewusst europäischen Absprachen wie der Verteilung von Flüchtlingen widersetzen. Dann erinnert die Kanzlerin schon einmal daran, dass sie in der Ukraine-Krise durchaus auch im Interesse der Stabilität Osteuropas die Initiative ergriffen und mit Russland verhandelt hat – und die von ihr wegen des Ukraine-Konflikts forcierten Sanktionen gegen Russland überproportional stark die deutsche Wirtschaft treffen.

Wie bei Griechenland, Großbritannien und nun den Osteuropäern sieht Merkel nur ein mögliches, erstrebenswertes Ziel: Am Ende muss mehr und nicht weniger Europa stehen. Die Gemeinschaft muss sich ein Regelwerk schaffen, das den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist. Dies ist nicht altruistische oder EU-Schwärmerei. Auch hier überlappen sich deutsche und europäische Interessen. „Kein Land in Europa profitiert von diesen Errungenschaften so wie wir und braucht sie allein aufgrund der geografischen Lage so wie wir“, sagte sie am 17. Dezember mit Blick auf den Euro und die Schengen-Zone. Und angesichts der um sich greifenden Europa-Skepsis erinnerte sie daran, wieviel in den vergangenen Jahrzehnten in Wahrheit erreicht worden sei. „Statt in einem Europa des Krieges und der Unfreiheit leben wir heute in einem Europa des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands und der guten Nachbarschaft, und das ist alles andere als selbstverständlich“, mahnte sie. „Es ist das Ergebnis einer europäischen Politik, die immer wieder zähes Ringen, intensive Arbeit, Kompromissbereitschaft, Kompromissfähigkeit und auch gegenseitige Solidarität erfordert. Das ist aus meiner Sicht wichtiger denn je, da wir in Zeiten leben, in denen wir unsere Werte und Interessen in einem äußerst harten globalen Wettbewerb behaupten müssen.“ Kein EU-Staat werde sich im globalen Wettbewerb alleine behaupten, den Terrorismus besiegen oder den Klimawandel aufhalten können. „Keinem Land wird es alleine gelingen, ein Leben in Wohlstand und Frieden zu sichern.“ Angesichts der Apathie im Rest Europas, dem Regionalismus der CSU und national-konservativen Strömungen in ihrer eigenen CDU klingt dies wie das Bekenntnis der „letzten Europäerin“.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

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