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19. Mai 2014

Die Euro-Krise

Ein Faktencheck europäischer Schuld(en)fragen

Wie konnte es zur Krise der Euro-Zone kommen? Bei der Suche nach Schuldigen macht man es sich gern einfach, besonders in Deutschland. Aber stimmt die Erzählung von guten und bösen, von fleißigen und weniger fleißigen Volkswirtschaften? Ein Faktencheck zu den gängigsten Mythen der europäischen Krise – Mythen, die gerade in Wahlkampfzeiten Hochkonjunktur genießen.

„Die Südeuropäer haben über ihre Verhältnisse gelebt“

Nein. Oder zumindest: längst nicht alle.  Betrachtet man die jährlichen Haushaltsbudgets, so ergibt sich ein differenziertes Bild: In der Tat hielt Griechenland mit seinen frisierten Statistiken die Eckdaten des Stabilitätspakts nie ein. Irland und Spanien hingegen haben vom Start der Währungsunion bis 2007 die Defizitgrenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts von −3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht nur vorbildlich eingehalten, sondern erzielten sogar Haushaltsüberschüsse.

Auch Italien (−1,6 Prozent) und Portugal (−3,1 Prozent) erreichten 2007 passable Werte. Insgesamt sank das Defizit der Euro-Zone im gleichen Jahr auf nur −0,7 Prozent, der Stabilitätspakt wirkte. Erst 2008 und in den Folgejahren stieg das Defizit erheblich an – eindeutig eine Folge der mit Staatsgeldern betriebenen Bankenrettungsprogramme.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der öffentlichen Schuldenquote: Lag sie 2007 im Durchschnitt der Euro-Zone nur sechs Punkte über den erlaubten 60 Prozent des BIP, stieg sie bis 2013 auf über 90 Prozent an. Es war nicht der Staats-, sondern der Privatsektor, der sich in den heutigen Krisenländern hoch verschuldet hatte. Angeregt worden war dies durch die niedrigen Zinssätze und die Entstehung von Immobilienpreisblasen. Als diese infolge der globalen Finanzkrise platzten, gerieten die Banken ins Wanken und mussten mit frischem Kapital versorgt werden: Der schwarze Peter wurde an die Staatshaushalte weitergegeben.

„Wir hätten keine Krise, wenn alle wie Deutschland wirtschaften würden.“

Ganz schlechte Idee. Natürlich, Deutschlands Sozial- und Arbeitsmarktreformen zu Beginn dieses Jahrhunderts mögen einige Verkrustungen des deutschen Sozialstaats gelöst haben. Zugleich haben sie jedoch die Schaffung eines Niedriglohnsektors befördert, der zusammen mit einer über zehn Jahre betriebenen zurückhaltenden Lohnpolitik in der Tat zum Erfolg der deutschen Exporte beigetragen hat. Denn so konnten deutsche Waren günstiger auf den Märkten angeboten werden und gewannen hierdurch einen preislichen Wettbewerbsvorteil.

Zu niedrige Lohnzuwächse sind aber ein zentrales Problem der Euro-Krise. Denn sie führten zu ausbleibendem Konsum, sodass die Binnennachfrage im Vergleich zur Exportwirtschaft zurückblieb. In den heutigen Krisenstaaten versprach höheres Wachstum dagegen lange höhere Erträge. Und so gingen deutsche Anleger dorthin und trugen kräftig zur Aufblähung der Finanzblasen bei. Während Deutschlands Produktivität rasante Steigerungsquoten erfuhr, sanken die Reallöhne zum Teil. Die deutsche Wirtschaftspolitik ist für die auseinanderlaufenden Leistungsbilanzen mitverantwortlich, die in die Krise geführt haben.

Deutschland hat quasi „unter seinen Verhältnissen gelebt“ und konnte so eine Trittbrettfahrerposition gegenüber seinen europäischen Partnern einnehmen. Abgesehen davon, dass die Austeritätsmaßnahmen in den Krisenländern viel umfassendere Einschnitte vorsehen, als es die Agenda 2010 jemals tat, kann das „deutsche Modell“ kaum Pate für andere Euro-Staaten stehen. Denn wenn sich alle in Lohnzurückhaltung üben, den Niedriglohnsektor ausweiten und auf Exportüberschüsse setzen, schwindet der Vorteil, funktioniert das Geschäft innereuropäisch nicht mehr. Findige Geister fordern daher einen dauerhaften Leistungsbilanzüberschuss der Euro-Zone gegenüber Drittstaaten. Sie unterschlagen, dass diese über das Instrument der Währungsabwertung verfügen und es so locker mit Preissenkungsstrategien aufnehmen können.

„Deutschland ist der Zahlmeister für die Fehler der anderen.“

Ist es nicht. Von Transfers, wie sie etwa der Länderfinanzausgleich in Deutschland organisiert, kann in der Euro-Rettungspolitik überhaupt keine Rede sein. Die Krisenstaaten erhalten über die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Kredite, die nach vereinbarter Laufzeit zurückgezahlt werden müssen und auf die selbstverständlich Zinszahlungen zu leisten sind.

Deutschland als wichtiger Gläubiger profitiert bislang sogar von diesem System. Ein nicht zu unterschätzender positiver Effekt für die Bundesrepublik und andere Gläubigerstaaten ist die gestiegene Nachfrage nach Staatsanleihen dieser Länder. Trotz niedriger Renditen suchen die Anleger einen „sicheren Hafen“. Dadurch bescheren sie dem deutschen Staat Vorteile bei der eigenen Refinanzierung und erleichtern den Schuldenabbau erheblich. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat errechnet, dass die Bundesregierung von 2009 bis 2014 mehr als 100 Milliarden Euro an Zinszahlungen spart. Auch dank der Krise rückt die „schwarze Null“ für den Finanzminister in greifbare Nähe.

Zum Finanztransfer werden die Kredite nur, falls einer der Staaten unter den Rettungsschirmen seine Schulden nicht mehr bedient. Wer offensiv für einen Austritt der Krisenstaaten aus der Währungsunion trommelt, sollte bedenken, dass Deutschland dann Hilfskredite, Vermögensanlagen und Target-Verbindlichkeiten nicht mehr wiedersieht.

„Es gibt keine Alternative zur Austerität.“

Doch. Die Idee hinter der Sparpolitik lautet bekanntlich: Durch geringere Lohn- und Sozialkosten sowie Privatisierung öffentlichen Eigentums bauen die Krisenstaaten ihre Schulden ab und werden wieder attraktiv für Investoren, die dann das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Diese Logik des „Heraussparens“ aus der Krise kann aber nicht funktionieren, denn sie übersieht, dass staatliche Ausgabensenkungen zu niedrigeren Einkommen führen. Wenn die griechischen Arbeitnehmer und Rentner Gehalts- und Leistungskürzungen bis zu 20 Prozent erfahren, werden sie notgedrungen weniger konsumieren. Darunter leiden Unternehmen, die in der Folge weniger investieren werden und Arbeitsstellen streichen oder gar ganz schließen müssen.

Bei stark sinkender Wirtschaftsleistung steigen bei übermäßiger Konsolidierungspolitik die Staatsschulden im Vergleich zum BIP sogar an, anstatt zu sinken. Dieser so genannte fiskalische Multiplikatoreffekt wird erhöht durch ausbleibende Steuereinnahmen infolge von Unternehmenspleiten und steigenden Staatsausgaben zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut. Griechenlands Schuldenquote illustriert diesen Kreislaufeffekt gut: In der Krise stieg der öffentliche Schuldenstand von 113 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf 175 Prozent des BIP bis Ende 2013 an. Damit wurde das erklärte Ziel der Austeritätspolitik klar verfehlt.

Der häufige Verweis auf das angebliche Erfolgsmodell der Austerität in den baltischen Staaten relativiert sich schnell, betrachtet man in Lettland und Litauen die infolge dieser Politik um über 20 Prozent in die Höhe geschossenen Schuldenquoten, den Braindrain infolge hoher Arbeitslosigkeit und die verbreitete Armutsgefährdung.

Ein „Herauswachsen“ aus der Krise wäre die bessere Alternative zur Austerität. Während der Privatsektor seine Schulden begleicht, darf der Staat trotz hoher Schuldenstände seine öffentlichen Ausgaben nicht kürzen, denn private Ersparnisse müssen ja irgendwoher kommen. Mit einer europäischen Investitionsstrategie könnte das Wachstum in den Krisenländern angekurbelt werden. Und wenn der Wirtschaftsmotor erst wieder läuft, kann der Staat durch steigende Steuereinnahmen sein Defizit in der Regel schnell abbauen.

„Eine Abschaffung des Euro würde die Krise beenden.“ 

Unsinn. Man muss kein Freund der Währungsunion sein, deren Architektur unvollständig und stellenweise dysfunktional ist, um zu erkennen, dass ihre Auflösung die Krisensituation verschlimmern würde. Allein die Diskussion über den Austritt aus der Euro-Zone würde für Verunsicherung sorgen. Wer sich des künftigen Währungsregimes nicht sicher ist, wird sein Vermögen ins Ausland transferieren und Investitionen unterlassen. Einem wahrscheinlichen bank run könnte niemand Einhalt gebieten. Auch eine Übergangszeit mit Parallelwährungen wäre der falsche Weg: Warum sollten sich Unternehmer, Einkommens- und Sozialtransferempfänger mit Zahlungen in einer Währung mit halbem Wert zufriedengeben, wenn der stabile Euro weiterexistiert?

Von den Verfechtern einer souveränen Geldpolitik des Nationalstaats wird verschwiegen, dass eine monetäre Abwertung in Griechenland, Spanien und anderen Krisenstaaten auf die Reallöhne faktisch den gleichen, nur verzögerten Effekt hätte wie die derzeit betriebenen Nominallohnkürzungen im Zuge der Austeritätspolitik. Denn während die Exporte des abwertenden Landes günstiger werden, verteuern sich die Importe. Da in einer offenen Volkswirtschaft nicht davon auszugehen ist, dass die Konsumenten ausschließlich einheimische Produkte kaufen, steigen die Kosten ihres Warenkorbs. Dies gilt in ähnlicher Weise für Unternehmen, die zu Produktionszwecken Rohstoffe, Öl, Energie und anderes importieren müssen. Ein Blick nach Großbritannien zeigt zudem, dass die Verfügungsgewalt über das Abwertungsinstrument und seine Nutzung nicht per se vor Austerität schützen.

Auch die Schulden der Krisenländer würden durch einen Euro-Ausstieg nicht einfach verschwinden, sie wären weiter in Euro notiert und könnten mit schwachen nationalen Währungen kaum bedient werden. Schuldenschnitte wären unvermeidbar, würden aber ein Kollabieren des Bankensystems und einen erneuten Vertrauensverlust auf den Märkten nach sich ziehen. Auch für Deutschland wäre nichts gewonnen: Der Erfolg im Exportsektor wäre durch die unvermeidliche Aufwertung der wiedereingeführten D-Mark schnell dahin. Hohe Arbeitslosigkeit und erhebliche Wirtschaftseinbußen, die von der Prognos AG auf 1,2 Billionen Euro taxiert werden, wären die Folgen.

Und warum eine neue Runde der Devisenspekulation zwischen den Euro-Staaten ein erstrebenswertes Ziel sein soll, wo doch unlängst über die sich verselbständigenden Finanzmärkte geklagt wurde, haben die Befürworter von „Grexit“ und weiteren Abwicklungsplänen bislang nicht erklären können.

„Die Krise ist vorbei.“

Das ist sie leider nicht. Jubel allenthalben im Frühjahr 2014 über Irland und Portugal, die den EU-Rettungsschirm verlassen, über Griechenland, das sich erfolgreich Geld an den Kapitalmärkten leihen kann, über die positiven Konjunkturaussichten für Europa. War der Weg durchs dunkle Tal entbehrungsreicher Anpassungen in den Krisenländern am Ende erfolgreich? Wohl kaum. Zwar lässt sich nach der doppelten Rezession infolge der globalen Finanzkrise wieder leichtes Wachstum vermelden, doch bleibt es mit geschätzten 1,5 Prozent des BIP 2014 für die EU weit unter dem Vorkrisenniveau. Die zweite Rezession durch die Krise der Euro-Zone ist auf Politikversagen und falsche Rezepte zu ihrer Überwindung zurückzuführen, und so hinkt der europäische Wirtschaftsaufschwung dem amerikanischen weit hinterher.

Zudem ist die EU tief gespalten – in eine Gruppe von Ländern, vor allem in Nordeuropa, die mit passablen Wachstumsraten bei niedriger Arbeitslosigkeit aufwarten können, und in eine Gruppe von Staaten Südeuropas, die in negativen Wirtschaftskreisläufen gefangen sind.

Die Tatsache, dass die makroökonomischen Ungleichgewichte kleiner werden, ist vor allem auf den Rückgang der Leistungsbilanzdefizite in den Krisenstaaten zurückzuführen. Sie spiegelt mitnichten eine real gestärkte Wettbewerbsposition, sondern wegbrechende Waren- und Kapitalimporte.

In Spanien und Griechenland ist mehr als ein Viertel der Erwerbsbevölkerung arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit nähert sich der 60-Prozent-Marke. Entsprechend negativ fällt die Zwischenbilanz der sozialen Ziele der Europa 2020-Strategie aus: Die Beschäftigtenquote in der EU ist auf 68 Prozent gefallen, anstatt sich der Zielmarke von 75 Prozent zu nähern – und die Anzahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, ist zwischen 2009 und 2012 um zehn Millionen gestiegen. Die vereinbarte Armutsreduzierung um mindestens 20 Millionen Menschen wird bis 2020 nicht zu erreichen sein. Die soziale Verelendung sucht sich ein politisches Ventil. Zudem besteht für die Euro-Zone mit einer Preissteigerungsrate von nur 0,5 Prozent im März 2014 eine akute Deflationsgefahr.

Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht, und so bleibt der prognostizierte Aufschwung fragil. Statt eine systemische Krise durch Reformen der Euro-Zonen-Architektur zu überwinden, wird weiter der bereits 2010 eingeschlagene Kurs asymmetrischer, allein den Krisenstaaten aufgebürdeter Anpassungen verfolgt.

Dr. Björn Hacker ist Referent für europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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