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24. Jan. 2014

Deutschland und der Chodorkowski-Knoten

Nützlich, aber nicht maßgeblich: Berlins Rolle wird überbewertet

Aus humanitären Gesichtspunkten hat die deutsche Diplomatie bei der Freilassung des russischen Oligarchen das Richtige getan. Die Freiheit eines Menschen ist es wert, sich dafür mit allen Mitteln einzusetzen. Die politische Ausbeute ist dagegen bescheiden: Zwar lässt sich die Rolle Deutschlands als „ehrlicher Makler“ nach außen gut verkaufen. Der Illusion, dass Deutschland von sich aus stark genug war, den Fall Chodorkowski zu lösen, sollte man sich aber nicht hingeben.

Die Welt übt sich wieder in „Kremlinologie“.  Alle rätseln über die Gründe der plötzlichen Begnadigungslaune in Moskau. Und doch weiß niemand richtig Bescheid. Nicht weniger rätselhaft klingen die Nachrichten über die Rolle Deutschlands. Berichtet wird über „geheime Kanäle“ und ihre Nützlichkeit. Nicht berichtet wird, woher und wohin diese Kanäle genau führen und was über sie in der begnadigungsfreien Zeit transportiert wird. In diesen Wochen wirkten Deutschlands politische Eliten nicht nur geheimnis-, sondern auch verheißungsvoll. Wir stehen endlich einmal im Mittelpunkt, so der Subtext. Und zwar nicht nur als Transitland für Gefangene, als die Glienicker Brücke der Welt. Nein, wir sind ein „Player“ geworden, ein Bettermann-Jet der Welt, Zimmer im Adlon und Pressekonferenz im Check-Point-Charlie inklusive.

Kremlinologie und Kanzlerologie

Indes sind beide Fragen (die nach der Motivation des russischen Präsidenten einerseits und die nach Deutschlands Rolle andererseits) fest miteinander verwoben. Und es lohnt sich, „Kremlinologie“ und „Kanzlerologie“ realistisch zu Ende zu denken. Denn im Grunde gibt es nur drei Möglichkeiten, die das Geschehene erklären könnten: a) Wladimir Putins Wille, Chodorkowski freizulassen, war erheblich und Deutschland wurde von ihm benutzt, diesen Willen durchzusetzen; b) Wladimir Putins Wille war ansatzweise da und Deutschland hat diesen Willen entscheidend gestärkt und schließlich c) Wladimir Putins Wille war minimal und eine Freilassung war nur dank deutschen Verhandlungsgeschicks möglich.

Wer die aktuelle russische Politik verfolgt, der weiß, wie unwahrscheinlich die letzten beiden Optionen sind. Dies liegt sowohl an der Art Putins zu regieren wie auch an der gegenwärtigen politischen Lage. Der russische Präsident hat stets Wert darauf gelegt, sich in seinen Entscheidungen als unabhängig von externen Faktoren zu zeigen oder doch zumindest diesen Eindruck zu erwecken.

Zudem ist Putin derzeit innenpolitisch stark wie lange nicht mehr. Die Opposition spielt weiterhin keine entscheidende Rolle: Die Protestwelle ist nach zahlreichen Abschreckungsmaßnahmen abgeebbt. Putin hat das Gefühl, er brauche keine Angst vor Opposition zu haben, solange er weiterhin an den entscheidenden Schrauben stellt. Die Propagandamaschine arbeitet mit Erfolg daran, eine neue gesamtrussische Identität zu konstruieren, die sich als nationale Idee aus angeblichen „Traditionen“ und „konservativen Werten“ speist. So wird im Lande der Anschein verstärkt, Russland sei eine erwachende und effektive globale Führungsmacht.

Was genau Deutschland in einer solchen Situation Russland und konkret seinem Präsidenten anzubieten hätte, bleibt genauso im Dunkeln wie die „geheimen diplomatischen Kanäle“, die solche Angebote übermitteln sollen. Auch an effektive wirtschaftliche und politische Drohinstrumente in der Causa Chodorkowski ist zum jetzigen Zeitpunkt kaum zu denken. Nachdem man sich zehn Jahre praktisch nicht mit der Frage beschäftigt hatte, könnte Angela Merkel eine plötzliche offene Konfrontation der Öffentlichkeit kaum vermitteln. Erst recht nicht so kurz vor Chodorkowskis Haftende und zu Beginn einer Koalition mit der SPD, die ihre neue Russland-Politik noch nicht definiert hat. Und auch die häufig erwähnte olympische Karte hat Berlin erst durch Joachim Gauck, später durch die Kanzlerin selbst gezogen, ohne sie im Deal einzusetzen. 

Und so bleibt nur noch die erste Erklärungsoption übrig: Die Freilassung Chodorkowskis war in Putins eigenem Interesse, und Deutschlands Bemühungen kamen ihm dabei gelegen. Doch warum war es ihm wichtig, den Chodorkowski-Knoten zu durchschlagen? Der oft geäußerte Verweis auf die Olympischen Spiele von Sotschi eignet sich kaum als Erklärung. Der Fall Chodorkowski spielte bei den Protesten gegen die Spiele kaum eine Rolle. Wäre es Putins Ziel gewesen, seine Olympischen Spiele aus der Schusslinie zu bringen, wäre die (zeitweilige) Aussetzung der Gesetze gegen die Propaganda „nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ ein wirksameres und bei Weitem weniger riskantes Manöver gewesen. Das Thema Olympische Spiele war wohl auch kein Gegenstand der Verhandlungen. Wäre es das gewesen, hätte Angela Merkel nicht so kurz nach Chodorkowskis Freilassung verlautbaren lassen, dass sie den Spielen fernbleiben werde.

Gefährliche Eigendynamik

Die Freilassung Chodorkowskis muss also in einem breiteren Kontext gesehen werden. Und dafür kann es einige Erklärungsmodelle geben. Eines davon wird selten genannt, ich nenne es ein Vermenschlichungsmodell: Auch Präsidenten müssen sich selbst gelegentlich in die Augen schauen, spätestens morgens beim Rasieren. Wenn Wladimir Putin in den Spiegel blickt, dürften quasi zwei Putins – oder, präziser: die zwei Teile seiner Persönlichkeit – zurückschauen: Einerseits ist Putin das Produkt der Geheimdienste, ein bekennender und stolzer KGB-Agent mit Hang zum rücksichtslosen Durchgreifen. Andererseits hat der russische Präsident seine politische Karriere in den Perestroika-Jahren gestartet, in der liberalen Umgebung von Boris Jelzin und dem Umfeld des Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatolij Sobtschak.

In der politischen Praxis spielen beide Teile der putinschen Persönlichkeit ihre Rolle. Dort ist er ein strenger, aber „guter“ Souverän. Er muss ein Volk auf Biegen und Brechen durchregieren, das sich – so steht es in Putins Drehbuch – nach einem Durchregieren sehnt: autoritäre Volkserziehung als einziger Weg zur Rettung des Landes.

Doch autoritäre Erziehungsübungen am eigenen Volk haben eine gefährliche Eigendynamik und enden meist in Gewalt; eine Dynamik, aus der die Machthaber selten unbeschadet davonkommen. Putin hatte sich in einer solchen Gewaltdynamik verfangen. Es gab kaum vernünftige Wege, die begangenen Grausamkeiten zurückzunehmen: Gefangene wie Pussy Riot kann man per Massenamnestie auf freien Fuß setzen, doch was tun mit dem gefährlichen Freigeist Chodorkowski? Wegen seiner Symbolkraft wäre ein Verbleib in Russland außerhalb der Lagermauern zu riskant.

Geradezu lächerlich wäre es aber auch gewesen, ein drittes Verfahren gegen ihn anzustreben, nachdem sogar der Europäische Gerichtshof die bisherigen Verfahrensverletzungen beanstandet hatte. Indes nahte die reguläre Freilassung im Jahr 2014. Und ein Chodorkowski, der das Lager nach voller Haftzeit und nicht aus Gnade des Präsidenten verließe, ein solcher „Chodorkowski ohne Deal“, wäre eindeutig ein schwer kalkulierbares Risiko. Ein Deal musste her. Wichtig war, eine Lösung zu finden, die eine erneute Verurteilung unnötig macht, eine erneute Teilnahme am politischen Leben in Russland verhindert und die Freilassung als Gnade des Präsidenten darstellt. Und da erinnerte man sich an die Deutschen, die seit Jahren im Hintergrund für die Freiheit des Gefangenen kämpften.

Auch wer Putin jegliches gute Gewissen abspricht, müsste die Notwendigkeit eines Deals aus seiner Sicht nachvollziehen können. Gründe dafür, die leidige Chodorkowski-Geschichte ad acta zu legen, gab es genug. Eine öffentlich wirksame Begnadigung wurde eingeleitet, und damit hatte man den angenehmen Nebeneffekt, dass das Thema „pro-europäischer Aufstand in der Ukraine“ zumindest zeitweise von den Titelseiten der Zeitungen verschwand.

Was bedeutet all das für Deutschland? Die Folgerungen sind zweierlei: Aus humanitären Gesichtspunkten hat die deutsche Diplomatie genau das Richtige getan – die Freiheit eines Menschen ist es wert, sich dafür mit allen Mitteln einzusetzen.  Die politische Ausbeute ist dagegen bescheiden: Zwar lässt sich die Rolle Deutschlands als „ehrlicher Makler“ nach außen gut verkaufen. Der Illusion, dass Deutschland von sich aus stark genug war, den Chodorkowski-Knoten zu durchschlagen, sollte man sich aber nicht hingeben. Deutschland war für den russischen Präsidenten nützlich (und aus biografischen Gründen als Partner angenehm). Der Professionalität aller Beteiligten gebührt ein großer Dank. Auf diplomatische Erfolge, die man tatsächlich der eigenen Strategie zuschreiben könnte, wird das außenpolitische Ego Deutschlands noch etwas länger warten müssen.   

Dr. Sergey Lagodinsky ist Publizist und Jurist in Berlin. 

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