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01. Sep 2020

Der Schlüssel für Brüssel

Drei Köpfe, drei Fragen.

Wofür setzen sich EU-Abgeordnete aus dem Revier ein, und wie gehen sie dabei vor?

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Bild: Porträts der Interviewten
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Jens Geier (SPD) geboren 1961 in Frankfurt am Main und aufgewachsen in Essen, ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und seit 2017 Vorsitzender der SPD-Gruppe in der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D).

Dennis Radtke (CDU) geboren 1979 in Bochum-Wattenscheid, ist seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments. Radtke gehört der Europäischen Volkspartei an und ist Koordinator seiner Fraktion im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.

Theresa „Terry“ Reintke (Die Grünen) geboren 1987 in Gelsenkirchen, war von 2011 bis 2013 Sprecherin der Federation of Young European Greens. Sie gehört dem Europäischen Parlament seit 2014 als Mitglied der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz an.

 

Wie ist Ihre Liebe zu Europa entstanden?

Jens Geier: Ich war als Student mit den Jungsozialisten in Straßburg und hatte dort Gelegenheit, an einer Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament teilzunehmen.

Dass Politikerinnen und Politiker aus ganz unterschiedlichen Ländern mit ganz unterschiedlicher Geschichte und Kultur an einem gemeinsamen Ziel arbeiten, der europäischen Zusammenarbeit, das hat mich fasziniert. Das finde ich auch bis heute erheblich interessanter als in einem nationalen Parlament zu arbeiten. Damals habe ich mir gesagt: Wenn ich einmal ein Mandat anstrebe, dann sollte es auf jeden Fall eines im Europäischen Parlament sein.

Dennis Radtke: Fragt man Bürgerinnen und Bürger, was Europa für sie ausmacht, erhält man zuallererst folgende Nennungen: Frieden, kultureller Reichtum, offene Grenzen, Binnenmarkt, Studien- und Schüleraustausche etc. All das sind Errungenschaften seit Gründung der europäischen Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, mit denen auch ich groß geworden bin. Die „europäische Idee“ bringt den Menschen im Alltag vielerlei Vorteile.

Meine beiden Großväter waren sehr stark politisch engagiert. Mit ihnen habe ich von klein auf viel über politische Themen diskutiert. Zudem wurde an der Märkischen Schule in meiner Heimatstadt Wattenscheid, an der ich 1998 mein Abitur machte, politisches Engagement stets durch die Lehrer gefördert.

Im Jahr 2000 nahm ich an der „Deutschen Jugendkonferenz“ in Berlin teil. 90 junge Menschen aus ganz Deutschland trafen sich, um ihre Ideen für das jugendpolitische Weißbuch der Europäischen Union zu formulieren. So habe ich mich bereits früh mit europäischen Themen beschäftigt. Diese Erfahrungen und Erlebnisse sind für mich bis heute prägend. Hinzu kamen Jugendaustausche in andere europäische Länder. Diese Begeisterung ist bis heute geblieben.

Später habe ich meine politische Heimat in der Christlich Demokratischen Union gefunden. Dort habe ich mich anfangs in der Jungen Union engagiert. Bereits während meiner Ausbildung zum Industriekaufmann war ich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung und der Gewerkschaft engagiert. So war es naheliegend, dass ich mich besonders in die Arbeit der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) einbrachte.

2014 kandidierte ich erstmalig für das Europäische Parlament. Mein Listenplatz zog allerdings damals nicht direkt. Die CDU hat dann 2017 nach der gewonnenen Landtagswahl gemeinsam mit der FDP die Landesregierung gebildet. Herbert Reul wechselte aus dem Europäischen Parlament als Innenminister nach Nordrhein-Westfalen. So hatte ich die Chance, über die CDU-Landesliste ins EU-Parlament nachzurücken. 2019 habe ich erneut und diesmal erfolgreich bei der Europawahl kandidiert.

Im Europäischen Parlament gehöre ich als Mitglied dem Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) sowie als stellvertretendes Mitglied dem Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) an: zwei Ausschüsse, in die ich nun mein berufliches Fachwissen einbringen und gleichzeitig etwas für die Menschen in meiner Heimatregion erreichen kann.

Terry Reintke: Mein politisches Engagement geht auf meine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zurück – und auf die Frage, ob unsere Urgroßeltern und Großeltern nicht anders hätten handeln müssen, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und mit der Unterdrückung von Demokratie, Freiheit und Minderheiten begannen. Daraus ergab sich eher unbewusst der Anspruch, Haltung zu zeigen, gegen Ungerechtigkeit einzutreten und schließlich der Einstieg in die Politik.

Die europäische Perspektive hat sich mir immer mehr geöffnet, als das Leben internationaler wurde: Ich habe in Schottland studiert, bin oft ins europäische Ausland gereist und habe auch durch mein politisches Engagement in der Föderation junger europäischer Grüner Freundschaften auf dem gesamten Kontinent geschlossen. Ich habe das europäische Geschenk grenzenlosen Zusammenlebens, des Friedens und der Freundschaft in dieser Zeit schätzen gelernt. Und wenn man überlegt, dass es aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, ist es für mich umso wichtiger, dafür zu streiten. •

 

Für welche Themen kämpfen Sie in Brüssel?

Jens Geier: Ich stehe für mehr europäische Zusammenarbeit, weil ich überzeugt bin, dass wir die großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, nur als Europäerinnen und Europäer gemeinsam bewältigen können: für Kooperation, gegen nationalistische Engstirnigkeit.

Die Größe der Bevölkerung Europas geht im Verhältnis zu anderen Weltregionen immer weiter zurück. Auch die Wirtschaftskraft unseres Kontinents nimmt im weltweiten Vergleich ab. Halten wir als Europäerinnen und Europäer nicht zusammen, dann werden wir irgendwann keine Rolle mehr spielen.

Früher gab es eine Bipolarität zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und der Sowjetunion und ihren Verbündeten andererseits. Heute ist das anders, heute ist die Welt multipolar. China, Indien, Russland, Brasilien und andere bevölkerungsreiche und wirtschaftlich starke Länder gewinnen immer mehr an Einfluss. In dieser Situation können die Staaten der EU wirtschaftlich und politisch nur bestehen, wenn wir unsere Stärken zusammenlegen und miteinander kooperieren.

Am deutlichsten ist das in der Handelspolitik: Da die Europäische Union ein wirtschaftlich bedeutender Markt ist, können wir die Bedingungen des internationalen Handels bestimmen, wenn wir das wollen. Über Regeln zur Nachhaltigkeit oder die Einhaltung von Schutzrechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kann Globalisierung gerechter gestaltet werden. Die Einrichtung eines Schiedsgerichts kann die Stärke des Rechts im Welthandel durchsetzen.

Als Europäische Union haben wir die Macht dafür. Dann muss noch der politische Wille dazukommen. Umgekehrt könnte sich ein Land aus der Europäischen Union allein wohl kaum in diesem Umfang international durchsetzen – Großbritannien wird das bald erkennen.

Das Ruhrgebiet ist immer noch das Herzstück Deutschlands. Den notwendigen Klimaschutz mit den Bedingungen einer Industriegesellschaft in Einklang zu bringen, ist eine große Herausforderung. Eine Industrie ohne CO2 ist möglich, bedarf aber großer Anstrengungen. Die Regeln dafür werden ganz überwiegend in Brüssel gemacht, daher muss der Umbau zur CO2-freien Wirtschaft auch durch die Investitionen der EU gesteuert werden. Es geht um nichts weniger als darum, industrielle Arbeitsplätze im Umbau zu sichern. Darüber hinaus gilt es, Chancen durch neue Produkte und Verfahren zu schaffen.

Europa soll bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Dafür muss unsere Energieversorgung auf erneuerbare Energien und Wasserstofftechnologie umgestellt werden. Die Volkswirtschaften der EU-Staaten sind bereits eng verkoppelt, deswegen gelingt diese Umstellung besser gemeinsam, weil die Wirkung für den Klimaschutz größer ist und keine Verwerfungen im Wettbewerb entstehen. Klimaschutz geht also besser europäisch, daher sehe ich hier auch für mich die besten Gestaltungsmöglichkeiten.

Dennis Radtke: Als Koordinator meiner EVP-Fraktion im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten stehen soziale Themen bei mir ganz oben auf der Agenda. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) maßgeblich vorangetrieben. Mit dieser Initiative der EU-Kommission sollen umfassende Reformen der europäischen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme angestoßen werden.

Beim Gipfel in Göteborg im November 2017 bekannten sich alle EU-Staaten zu gemeinsamen Mindeststandards wie fairen Löhnen, Hilfe bei Arbeitslosigkeit und angemessenen Renten. Junckers Ziel war es, dadurch ein neues Wir-Gefühl bei den EU-Bürgern zu schaffen. Diese Analyse teile ich uneingeschränkt. Nun gilt es, dieses Vorhaben weiter mit Leben zu füllen.

Dabei ist es mir ein besonderes Anliegen, dass die Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip in ganz Europa etabliert und der soziale Dialog gestärkt werden. Mein Heimatland Nordrhein-Westfalen ist ein Industrieland mitten in Europa. Daher setze ich mich für eine Energiepolitik mit Augenmaß ein. Auch in Brüssel und Straßburg werde ich für den Erhalt tariflich gut bezahlter Industriearbeitsplätze – gerade bei uns im Ruhrgebiet – kämpfen. Wir brauchen eine sozialverträgliche Energiewende, die auch die Arbeitsplätze in den energieintensiven Branchen fest im Blick hat.

Terry Reintke: Meine Motivation, in die Politik zu gehen, spiegelt sich auch in meiner Mitgliedschaft im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Um zu verhindern, dass man in frühere Zeiten zurückfällt, müssen die europäischen Grundwerte verteidigt werden. Und dabei erleben wir gerade in den vergangenen Jahren leider einen Rückschritt – etwa in Polen und Ungarn.

Diese Themen gehören zu den Schwerpunkten meiner Arbeit. Sie lassen sich unter der Fragestellung zusammenfassen, wie mit Minderheiten und marginalisierten Gruppen umgegangen wird. So gibt es in Polen Regionen, die sich als LGBTI*-frei bezeichnen. Frauenrechte und das Recht auf Abtreibung werden beschnitten, und Ungarn erlässt Gesetze, die Transpersonen diskriminieren und ausgrenzen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ich sehe mich als Abgeordnete im Europäischen Parlament auch als Ansprechpartnerin und Streiterin für Menschen, die in ihren Ländern diskriminiert werden oder deren Rechte dort verletzt werden.

Dazu kommen dann als Abgeordnete des Ruhrgebiets auch immer lokale Themen, etwa Fragen der Förderpolitik. Derzeit betreue ich die Verhandlungen zum Europäischen Sozialfonds und zum Finanzrahmen der EU. Das tue ich nicht nur, um den Einsatz für Menschenrechte finanziell abzusichern, sondern natürlich auch, um diese für die Entwicklung im Ruhrgebiet wichtige Finanzquelle so zu gestalten, dass sie vor Ort auch zielgerichtet genutzt werden kann.

Und in den vergangenen Jahren hat mich schon aufgrund meiner Studienzeit in Schottland der Brexit nicht losgelassen. Mittels Studien habe ich die Auswirkungen auf NRW festgestellt, vor Ort und in Großbritannien Gespräche geführt und jetzt nach dem Austritt im Europaparlament eine „Friendship Group“ gegründet, die die wichtigen Verbindungen zum Vereinigten Königreich pflegen soll und die Verhandlungen weiter begleitet. •

 

Wie lässt sich das, was in der EU entschieden wird, zuhause „verkaufen“?

Jens Geier: Ich versuche engen Kontakt mit all denjenigen hier im Ruhrgebiet zu halten, die von Regulierungen in der EU betroffen sind. Schließlich will ich wissen, wie das, was in Brüssel beschlossen wird, zuhause ankommt. Gleichzeitig brauche ich fachlichen Input. Auch wenn sich meine Arbeit selten in den lokalen Medien niederschlägt, sind die Betroffenen an diesen engen Kontakten sehr interessiert.

Dennis Radtke: Ich verstehe meine Aufgabe als Politiker auch darin, komplexe politische Sachverhalte in eine einfache und für jeden Bürger verständliche Sprache zu bringen. Viele europäische Entscheidungen betreffen meine Heimatregion ganz konkret. Hier ist etwa der Strukturwandel an vielen Stellen nur deshalb gelungen, weil Projekte auch mit EU-Fördermitteln verwirklicht werden konnten – aus dem Europäischen Sozialfonds, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung oder aus einem der anderen Fördertöpfe.

Daher lade ich regelmäßig Bürgerinnen und Bürger aus dem gesamten Revier zu EU-Fördermittel-Touren ein. Mit dem Bus steuern wir Förderprojekte in der Region an und lassen uns diese vorstellen. Viele Menschen sind verblüfft, wo überall EU-Gelder drinstecken. So versuche ich Europa ganz konkret für die Menschen spürbar zu machen.

Neben klassischen Berichten aus Brüssel und Straßburg bei Zusammenkünften von Vereinen, Verbänden, Multiplikatoren etc. sowie der klassischen Pressearbeit nehmen das Internet und die sozialen Netzwerke eine immer größere Stellung ein. So bin ich auf Facebook, Instagram und Twitter aktiv. Gerade junge Menschen beziehen ihre Nachrichten nicht mehr aus der Tageszeitung, sondern aus ihren Timelines. Mir ist es wichtig, die Europapolitik für die Menschen in meinem Wahlbezirk aus der Anonymität einer Brüsseler Filterblase herauszuholen. Gerade die Angebote in den sozialen Netzwerken werden sehr stark frequentiert. Das zeigt mir, dass der Weg richtig ist!

Terry Reintke: Zuhause erkennt man Europa am einfachsten auf vielen Bauschildern oder in Broschüren sozialer Initiativen. Das Ruhrgebiet kann in der aktuellen Förderperiode auf Investitionen von über einer halben Milliarde Euro blicken, die es ohne Europa nicht gegeben hätte. Mir ist es wichtig, diese Projekte immer wieder gezielt anzusprechen und zu besuchen, um sie vorzustellen und den europäischen Einfluss zu betonen. Hinzu kommen natürlich die üblichen Veranstaltungen, Ortstermine im Ruhrgebiet, Gesprächsrunden mit Nichtregierungsorganisationen, Publikationen und soziale Medien, die ich nutze, um über meine Arbeit und die Entscheidungen der EU zu informieren.

Leider haben es europäische Themen noch immer schwer, in Deutschland Fuß zu fassen. Wenn es nicht die großen Themen wie die Urheberrechtsdiskussion sind, taucht Europa oft nur bei strittigen Fragen auf und wird dann medial mit der Frage verbunden, ob die EU knusprige Pommes verbieten wolle.

Das führt dann leider dazu, dass manche anderswo vieldiskutierte Themen kaum Beachtung in Deutschland finden. Ein Beispiel ist die Reform der Entsenderichtlinie. Diese Richtlinie definiert, unter welchen Bedingungen Angestellte von Dienstleistungsunternehmen in einem anderen Staat eingesetzt werden dürfen. Uns ist es dort gelungen, eine weitestgehende Gleichstellung durchzusetzen, so dass etwa Tariflöhne bezahlt werden müssen und „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gilt. •

Bibliografische Angaben

IP Special 01, September 2020, S. 38-42

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