Der Glaube an eine freie Welt
Ein Grußwort von Tzipi Livni
Unsere Welt verändert sich in rasantem Tempo. Die Werte und die internationale Ordnung, auf die sich die Weltgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verständigt hat, werden zusehends ausgehöhlt. Gleichzeitig werden demokratische Institutionen von populistischen Bewegungen herausgefordert und verlieren in einer kritischen Zeit an Unterstützung, in der die Menschheit selbst durch Pandemien und Klimawandel bedroht ist.
Während technologischer Fortschritt und die Globalisierung vielen Entwicklung und Wohlstand gebracht haben, ist auch die Ungleichheit gewachsen. Ein zu großer Teil der Weltbevölkerung ist frustriert und wütend auf der Strecke geblieben. Derweil münden Angst, Frustration und Unsicherheit in einen Nationalismus, bei dem die Grenzen zwischen Patriotismus (Loyalität und Hingabe für das Vaterland) und Nationalismus (Überhöhung einer Nation über andere) verschwimmen.
Soziale Netzwerke verbinden Menschen weltweit, zugleich setzen sie Milliarden Desinformation und Hetzkampagnen aus. Aber ohne anerkannte Fakten gibt es keine Basis für eine Diskussion, sondern nur mehr Platz für Gehirnwäsche.
All diese Trends greifen das Fundament unserer Gesellschaften an: das demokratische System selbst und die Werte, die es repräsentiert. Die Welle der Wut stärkt populistische Politiker und ermutigt sie, althergebrachte Regeln der freiheitlichen Weltgemeinschaft zu brechen. So werden jene Minderheiten, zu deren Schutz diese Regeln erfunden wurden, verwundbar. Die Welt aus der Corona-Krise herauszusteuern, den Planeten gemeinsam vor dem Klimawandel und seiner zerstörerischen Kraft zu retten und die Demokratie zu schützen – all diese Herausforderungen suchen ihresgleichen und können weder allein von einem Land noch von einer einzelnen Führungspersönlichkeit bewältigt werden. Was wir deshalb brauchen, ist ein multilateraler Ansatz und Führungsstärke, ein internationales Bündnis, angeführt von den Vereinigten Staaten, als Kompass für die freie Welt. Die Politik der Biden-Regierung macht neue Hoffnung, dass die USA diese Rolle einmal mehr ausfüllen könnten.
Israel und Deutschland gehören derweil zu jenen gleichgesinnten Staaten, die neue Partnerschaften und Allianzen schmieden müssen, eine Koalition aus Nationen und Politikern, aus politischen Parteien, aus Unternehmern, Wissenschaftlern, Künstlern und anderen öffentlichen Meinungsmachern. Denn den großen Herausforderungen unserer Zeit mutig zu begegnen, wird für unsere Zukunft und insbesondere für die jüngere Generation, die ebenfalls mit ins Boot geholt werden muss, wegweisend sein. Dabei wird es von entscheidender Bedeutung sein, junge Menschen davon zu überzeugen, dass der Glaube an die freie Welt und eine kooperative globale Gemeinschaft identitätsstiftend sein kann.
Das Sylke-Tempel-Stipendienprogramm trägt zu dieser Diskussion bei und hilft dabei, eine bessere Zukunft für Deutschland, Israel und die gesamte internationale Gemeinschaft zu gestalten.
Tzipi Livni war von 2006 bis 2009 Außenministerin Israels sowie 2013/14 Justizministerin. Sie ist Schirmherrin des Sylke-Tempel-Fellowship-Programms.
Aus dem Englischen von Kai Schnier
Internationale Politik Special 7, November 2021, S. 4