Titelthema

24. Juni 2024

Der Bedrohungsmultiplikator: Die vielen ­Farben der Desinformation

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Als das Weltwirtschaftsforum im Januar 2024 in seinem Global Risks Report Fehl- und Desinformation als das größte globale Risiko binnen der nächsten zwei Jahre bezeichnete, berührte es damit eine Grundwahrheit: Diese beiden eng verwandten Probleme verschärfen alle anderen großen Herausforderungen unserer Zeit, von bewaffneten Konflikten bis zum Klimawandel. Desinformation ist ein Bedrohungsmultiplikator.

Fehlinformationen im Zusammenhang mit dem Klimawandel haben überhaupt erst dazu beigetragen, dass die Existenz dieser planetaren Krise infrage gestellt wurde – vor allem in den USA, dem bisher größten CO2-Emittenten (und zweitgrößten Emittenten pro Jahr heute). Entsprechende Kampagnen gaben ein frühes Beispiel, wie falsche Informationen das Wohl der Menschheit beeinflussen können. Sowohl akademische Forschungsprojekte als auch politische Untersuchungsausschüsse haben festgestellt, dass Ölkonzerne die Erkenntnisse der Klimawissenschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts absichtlich heruntergespielt und verschleiert haben. Daraus resultierten grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Faktenlage, die wiederum eine schnelle und zielgerichtete Reaktion der Politik verhindert haben, um der größten existenziellen Bedrohung unserer Zeit entgegenzuwirken. 

Auch während der Corona-Pandemie wurde die Welt Zeuge der schädlichen Auswirkungen von Fehlinformationen. Rasend schnell verbreiteten sich gefälschte medizinische Ratschläge über das Virus und über Impfstoffe und gefährdeten so Menschenleben unmittelbar. In den USA stellten damals nicht nur Influencer in den sozialen Medien, sondern auch Politikerinnen und Politiker die Existenz des neuartigen Coronavirus infrage. Das veranlasste die Faktenchecker von Politifact dazu, das Leugnen von Covid-19 zur „Lüge des Jahres 2020“ zu erklären. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte zudem vor einer „Infodemie, die eine globale Reaktion untergräbt und Maßnahmen zur Kontrolle der Pandemie gefährdet“. Die WHO fügte unverblümt hinzu: „Fehlinformationen kosten Leben.“


Ein globales Problem

Die Flut von Falschinformationen wird zu einem noch größeren Problem, wenn sie von staatlichen Akteuren unterstützt wird. Denn an diesem Punkt geht Fehl- in Desinformation über – und das ist gerade in einer Zeit des wachsenden Wettbewerbs der Großmächte ein globales Problem.

China nutzte beispielsweise Desinformation, um die Schuld an der Corona-Pandemie von sich zu weisen. Chinesische Regierungsvertreter stellten dazu die Verschwörungstheorie in den Raum, das Virus sei eine absichtlich in Wuhan eingesetzte US-Biowaffe. Russland verbreitet derzeit wiederum laufend Desinformation, um seine Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen. Dazu gehört auch die Verschwörungstheorie, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland Biowaffenprogramme in der Ukraine betreiben. Der Konflikt zwischen der Hamas und Israel im Gazastreifen spielt sich auch als regelrechter Informationskrieg im Cyberspace ab, wobei die Hamas versucht, die am 7. Oktober begangenen Gräueltaten zu verharmlosen, und Israel immer wieder Beweise für die massive Zahl ziviler Opfer in Gaza in Zweifel zieht.

Auch im indopazifischen Raum, dem Schwerpunktgebiet von The Diplomat, erleben wir den ruchlosen Einsatz von staatlich unterstützter Desinformation: Hier nehmen staatliche Akteure immer wieder ihre Bürgerinnen und Bürger mit hasserfüllter Propaganda ins Visier. Minderheitengruppen, die davon betroffen sind, verfügen nicht über die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen, um die Flut der Desinformation zu bekämpfen.

In Myanmar wurde die ethnische Säuberung gegen die Rohingya-Bevölkerung im Jahr 2017 durch eine breit angelegte Desinformationskampagne in den sozialen Medien unterstützt. Diese vom Militär gesteuerte Propagandakampagne sollte den Hass gegen die Rohingya anheizen und den Weg für einen Völkermord ebnen.  


Vertuschung und Propaganda

In Indien nutzt die regierende Bharatiya Janata Party ihre gut geölte Social-­Media-Maschine, um Desinformationen und Hass­rede gegen die Muslime des Landes zu verbreiten. Zum Beispiel, indem Muslime für die Verbreitung des Coronavirus in Indien verantwortlich gemacht oder Massen von fabrizierten Posts zu angeblichen Morden an Hindus und einem vermeintlichen „Liebesdschihad“ gegen Hindu-­Mädchen veröffentlicht werden. 

China versucht derweil mit Desinformation, massive Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang zu vertuschen. Im Gegensatz zu Indien und Myanmar, die auf ein inländisches Publikum abzielten, versucht Peking die Weltöffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die gut dokumentierten Fälle von Zwangsinhaftierungen, Folter und Einschränkung der Religionsfreiheit allesamt auf Lügen basieren. Diese seien von den USA und ihren Verbündeten fabriziert worden – und das, obwohl der Hohe UN-Kommissar für Menschenrechte diese Anschuldigungen für „glaubwürdig“ und angesichts ihres Ausmaßes für potenzielle „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ hält. 

Doch auch die vermeintlichen Bemühungen zur Bekämpfung von Desinformation können Schaden anrichten. So beobachten wir im indopazifischen Raum derzeit beispielsweise den besorgniserregenden Trend, dass Regierungen sogenannte Fake-News-Gesetze verabschieden, um unter diesem Deckmantel gegen die Meinungs- und Pressefreiheit vorzugehen. Bangladesch, Indien, Malaysia, Pakistan, Singapur, Thailand und Vietnam haben zuletzt Gesetze verabschiedet, die angeblich gegen Desinformation und Verleumdung vorgehen sollen. Es wird jedoch von verschiedener Seite kritisiert, dass diese Gesetze dazu verwendet werden könnten, sowohl abweichende Meinungen zu zensieren als auch Journalistinnen und Journalisten zu verhaften. 

Der Mediensektor spielt bei dem Desinformationsproblem eine Schlüsselrolle. Er ist gleichzeitig Teil der Lösung und Teil des Problems. Desinformationen können beispielsweise von den Medien verbreitet werden, wenn Behauptungen aus Regierungsquellen unkritisch aufgegriffen werden – eine Dynamik, die im großen Stil etwa während der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 zu beobachten war. 

Desinformation kann auch von Journalisten selbst betrieben werden. Das ist beispielsweise das Ziel der chinesischen Strategie, wenn sie vermehrt staatlich organisierte (und offensichtlich inszenierte) Pressereisen durch Xinjiang anbietet. Gleichzeitig ist eine strenge Überprüfung der Fakten durch Medien und zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich der Flut von Falschinformationen und Desinformation entgegenstellen, einer der besten Schutzmechanismen, die wir haben. Das rasche Wachstum generativer KI-Tools wird das Problem allerdings weiter verschärfen, da sie es einfacher (und billiger) denn je machen, täuschend echte Falsch­informationen zu produzieren, einschließlich gefälschter Video- und Audioclips.

Wir werden also in Zukunft mit der Frage ringen müssen, wie wir eine Balance zwischen der notwendigen Bekämpfung der Desinformation und dem notwendigen Schutz der freien Medien und offener gesellschaftlicher Debatten finden können. Beides ist integraler Teil verantwortungsbewusster Regierungsführung.

Aus dem Englischen von Kai Schnier
 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 50-51

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Shannon Tiezzi ist Chefredakteurin von The Diplomat, dem führenden internationalen Magazin für aktuelle Nachrichten aus dem asiatisch-pazifischen Raum.

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