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02. März 2018

„Den europäischen Traum verteidigen“

Emma Bonino über Italiens Rolle in Europa und die gemeinsame Afrika-Politik

Bei den Wahlen am 4. März haben Italiens euroskeptische Parteien triumphiert. Das Land hat aber nicht nur viel von seinem Glauben an Europa verloren, sondern auch an Einfluss eingebüßt. Dabei hätte es gerade in der Mittelmeer- und Afrika-Politik viel zu sagen. Emma Bonino, ehemalige Außenministerin und Verfechterin eines föderalen Europas, im Gespräch.

IP: Frau Bonino, bei den Parlamentswahlen am 4. März sind Sie mit der Liste „+Europa“ angetreten. Welche Ziele verfolgt „+Europa“?
Emma Bonino: Heute geht es nicht mehr um links oder rechts, heute geht es um Europa. Auch in Italien nehmen Rassismus, Populismus, Nationalismus und Europa-Feindlichkeit zu. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, das buntgescheckte, aber ziemlich große Lager der Europa-Skeptiker zu bekämpfen. Wir wollen den europäischen Traum verteidigen und verwirklichen.

IP: Welche Parteien profitieren von der antieuropäischen Stimmung?
Bonino: Allen voran die Fünf-Sterne-Bewegung, einst vom Komiker Beppe Grillo geführt, heute vom jungen Spitzenkandidaten Luigi Di Maio. Außerdem die populistische Lega von Matteo Salvini und natürlich Giorgia Meloni mit ihrer rechten Partei Brüder Italiens. Und dann gibt es noch diejenigen, die abwechselnd für oder gegen Europa sind, je nachdem wie es im Bauch der Bevölkerung gerade rumort. Die einen wollen weniger EU, die anderen überhaupt keine EU mehr, und dann gibt es noch diejenigen, die sich zwar zur EU bekennen, aber nicht zur jetzigen. Eine Erklärung, wie die EU sein sollte, die ihnen vorschwebt, bleiben die meisten aber schuldig.

IP: Und welches Europa wollen Sie?
Bonino: Wir treten schon seit Altiero Spinelli für ein föderales Europa ein.

IP: Der damalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz forderte im Dezember die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025. Halten Sie das für machbar?
Bonino: Ich bin etwas vorsichtiger. Demokratische Neuorientierungen, also auch eine föderale Wende, brauchen Zeit. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten kann man nicht unter den Teppich kehren, man muss auf sie eingehen. Mir geht es vornehmlich darum, dass der Weg, der zu diesem Ziel führt, gewissenhaft und verantwortungsvoll gestaltet wird.

IP: Warum ist Ihnen die EU so wichtig?
Bonino: Schauen wir uns einmal die Welt an, mit Donald Trump auf der einen und Wladimir Putin auf der anderen Seite. Das Mittelmeer steht in Flammen, Millionen von Migranten sind auf der Flucht vor Krieg und Armut. Und wir wollen gerade jetzt das europäische Projekt in Schutt und Asche legen? Jeder will alleine mit ­China konkurrieren? Schon heute gibt es keinen einzigen Staat in Europa, der alleine auf der internationalen Bühne bestehen kann. Aber die Politik hat sich Scheuklappen angelegt. Jeder hat nur noch die nächsten Wahlen im Blick, und statt sich mit möglichen Lösungen auseinanderzusetzen, macht man die Flüchtlinge und Migranten zu Sündenböcken im Wahlkampf.

IP: Das Misstrauen, das die Italiener der EU heute entgegenbringen, hätte man noch vor zehn Jahren für unmöglich gehalten …
Bonino: Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Ich bin keine Sozialwissenschaftlerin, deswegen möchte ich hier nur die zwei hervorheben, die mir unstrittig erscheinen. Fangen wir mit der Finanzkrise an, die in eine gesellschaftliche und politische Krise ausartete. Unsere Politiker wussten selbst keine Lösungen. Deswegen haben sie die Europäische Union zum Sündenbock gemacht. Statt sich zu fragen, wie man in den vergangenen Jahren gewirtschaftet hatte, machte man die Bürokraten in Brüssel dafür verantwortlich, dass italienische Staatsanleihen auf einmal so viel weniger wert waren als die deutschen. Auch für die lange Rezessionsphase schob man der EU die Schuld zu. Die Politiker selbst übten sich eifrig in Unschuldsbekundungen.

IP: Und der zweite Grund?
Bonino: Das war das Migrationsproblem, bei dem Brüssel uns im Stich gelassen hat. Die Mitgliedstaaten haben jede gemeinsame Lösung verhindert. Sie bestehen darauf, dass die Kontrolle ihrer Grenzen in ihrer nationalen Verantwortung bleiben muss, und solange das so ist, kann Brüssel nicht viel machen.

IP: Es waren Italiener wie Altiero Spinelli und Alcide De Gasperi, die sich erfolgreich für ein vereintes Europa einsetzten. Heutzutage hat man das Gefühl, Italiens Politiker hinken dem deutsch-französischen Tandem einfach hinterher.
Bonino: Italien hat lange eine wichtige Rolle als Brückenbauer gespielt. Manchmal geschah dies hinter den Kulissen, manchmal auf offener Bühne. Wenn aber ein Land im Laufe einer fünfjährigen Legislaturperiode viermal den Premierminister wechselt, büßt es, wenn schon nicht an Glaubwürdigkeit, dann doch an Zuverlässigkeit ein. Wenn wir die Staatsverschuldung nicht senken, sondern steigen lassen, ist es schwer, sich in der europäischen Finanzdebatte Gehör zu verschaffen.

IP: Italien wird nicht mehr ernst genommen?
Bonino: Es stimmt, wir haben an Gewicht verloren. Aber nicht, weil die anderen böse sind und uns verdrängen wollen, sondern wegen unseres eigenen Verhaltens. Dabei müsste Italiens Stimme gerade jetzt Gehör finden, wo sich die geopolitische Lage so stark verändert hat.

IP: Bei welchen Themen wäre das wichtig?
Bonino: Heute stehen für Europa nicht mehr Russland und Putin im Fokus, zumindest nicht in vorderster Reihe. Prioritär ist heute die Mittelmeer-­Region, wo die Spannungen steigen, und hier könnte Italien sehr wohl zur Entspannung beitragen. Man muss das aber auch wollen. Nichts ist fragiler als Politik und nichts beständiger als Geografie.

IP: Während Ihrer Zeit als Außenministerin haben Sie eine Italien-Afrika-Konferenz ins Leben gerufen. Wie stehen Sie zu den jüngsten Abkommen, die Italien mit mehreren afrikanischen Staaten getroffen hat, um den Migrationsandrang zu stoppen?
Bonino: Ich habe da große Vorbehalte. Für mich und meine Partei ist das Mittelmeer nicht ein Meer, das trennt, sondern ein kleiner See, der verbindet. Und während auf der einen Seite, also in Europa, die Bevölkerung dramatisch schrumpft und altert, schaut man auf der anderen Seite, keine 300 Kilometer entfernt, auf eine überfüllte Krabbelstube. Was wir brauchen, sind tragfähige Ansätze, um die Entwicklung dieser Länder zu unterstützen. Aber ich befürchte, dass die Vereinbarungen, die Italien unlängst mit den fünf Sahel-Staaten unterschrieben hat, einzig und allein auf verschärfte Sicherheitsmaßnahmen zielen. Das erinnert mich an das EU-Abkommen mit der Türkei, das ich ebenfalls für fragwürdig halte. Genau genommen haben wir bis jetzt nur eines getan – wir haben die Kontrolle unserer Grenzen und das Migrations­problem an andere verpachtet.

IP: Die Sicherung der Grenzen soll nur der erste Schritt sein, hat Innenminister Marco Minniti versichert …
Bonino: Die Einstellung „Schickt sie alle zurück“ wird nicht allein von populistischen und rechten Kreisen vertreten. Zwar hört sich die Forderung „­Helfen wir ihnen bei sich zu Hause“ besser an, gemeint ist aber letztendlich dasselbe. Wohlgemerkt, die Hilfe vor Ort ist nichts Schlechtes, nur müssten wir uns auch darüber bewusst sein, dass eine ernst gemeinte Entwicklungshilfe erst in ein, zwei oder sogar drei Generationen greifbare Ergebnisse erbringen wird. Ganz abgesehen davon, dass auch nicht alle afrikanischen Staaten bettelarm sind. Nehmen wir Niger und Nigeria, beide sind reich an Rohstoffen, doch dieser Reichtum kommt nur bei wenigen an. Man muss sich also auch mit dem Problem der Governance, der politischen Steuerung befassen. Daher setze ich mich für eine weitsichtige Politik ein, deswegen unterstütze ich das Projekt einer EU-Afrika-Partnerschaft, auch wenn im Moment dafür weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen als für das EU-Türkei-Abkommen.

IP: Was ist zwischen den Staaten Osteuropas, vor allem Polen und Ungarn, mit der EU schiefgelaufen?
Bonino: Wir haben diese Länder nicht rechtzeitig und bestimmt genug darauf hingewiesen, dass Abkommen eingehalten werden müssen.

IP: Es sind Länder, die sich darüber beschweren, sie würden wie die armen Verwandten behandelt, man würde ihnen zu wenig Gehör schenken.
Bonino: Natürlich muss man sich gegenseitig entgegenkommen. Und sicher sollten wir mehr Verständnis für die Vergangenheit und die spezifischen Ängste der Osteuropäer haben. Für uns Italiener ist das nicht ganz leicht, weil diese Länder doch ziemlich weit weg sind. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter mich fragte, wo eigentlich Vilnius sei. Tunis ist uns, auch von der Kultur her, sicher näher. Trotzdem, Vereinbarungen muss man einhalten. Und persönlich denke ich, dass man bei Polen zu lange gewartet hat, das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge einzuleiten.

IP: Das ist der Artikel der EU-Verträge, der es möglich macht, Ländern wegen einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Grundwerte die Stimmrechte zu entziehen. Allerdings braucht es dafür Einstimmigkeit im EU-Rat, und die wird vermutlich nicht zustandekommen. Wie will die EU die Europäer zurückgewinnen, wenn es nicht einmal möglich ist, die Grundwerte zu verteidigen?
Bonino: Solange die EU ein zwischenstaatlicher Bund ist, wird sich in der Tat nicht viel ändern. Deswegen steht „+Europa“ für ein föderales Europa.

IP: Sind Sie optimistisch, was die Zukunft der EU betrifft?
Bonino: Ich? Ich bin fest entschlossen! Mein Vater war ein einfacher Bauer, der mir immer wieder sagte, „Lass diesen Kampf gegen das Abtreibungsverbot, setz dich für Europa ein! Für diese Sache musst du kämpfen!“

Das Interview führte Andrea Affaticati.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 68 - 71

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