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29. Apr. 2024

Das Von-der-Leyen-Paradoxon

Ihre Präsidentin kennen die Europäer gut, ausreichend informiert über ihre politische Arbeit aber fühlen sie sich nicht. Dahinter steckt ein ganz grundsätzliches Problem.

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Bild: Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz im EU-Parlament in Brüssel
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Wieder einmal wird in Europa gewählt, wieder einmal betonen politische Beobachter im Vorfeld der Wahl, wie fragil die EU ist. 

Da sind die wachsenden Spannungen auf der Weltbühne, auf die Europas Außenpolitik nur unzureichend vorbereitet ist. Da ist der Widerstand gegen die EU-Klimapolitik. Und da ist last not least die schwächelnde wirtschaftliche Basis, die eine politissche Polarisierung in den Mitgliedstaaten befeuert. 

Diese Polarisierung dürfte die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments spürbar verändern. Prognosen zufolge könnte die große Koalition aus Sozialdemokraten (Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten, S&D), dem Bündnis aus Christdemokraten und Mitte-rechts-Parteien (Europäische Volkspartei, EVP) und Liberalen (Renew Europe, RE) ihre Mehrheit behalten. 

Doch steht zu erwarten, dass Fraktionen der radikalen Rechten wie die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) sowie Identität und Demokratie (ID) erhebliche Zugewinne verzeichnen. Sollten sich diese zwei Gruppierungen zusammenschließen, könnten sie mit rund einem Viertel der Sitze die größte Fraktion bilden. Das lässt erahnen, welche Probleme auf Europas Entscheidungsträger zukommen könnten. Die Zukunft von Vorzeigeprojekten wie dem Green Deal stünde auf dem Spiel. 

Politische Lösungen für die anhaltenden Herausforderungen der EU zu entwickeln, ist bereits jetzt nicht ganz einfach, aber künftig könnte es noch schwieriger werden, Mehrheiten in der Bevölkerung dafür zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, wer die nächste Kommissionspräsidentin wird, besonders wichtig; ist es doch seine oder ihre Auf­gabe, im Brüsseler Tagesgeschäft Führung zu organisieren.


Geschärftes Profil

In den vergangenen fünf Jahren hat Ursula von der Leyen die Europäische Kommission geführt. Von der Leyen hat das Profil der Kommissionpräsidentin auf internationaler Ebene geschärft, insbesondere als es darum ging, auf die russische ­Invasion der Ukraine zu reagieren. Indem sie die europäischen Antworten auf Herausforderungen wie die Versorgung mit Impfstoffen oder die Unterstützung der Ukraine effektiv organisiert, koordiniert und kommuniziert hat, hat Ursula von der Leyen die Sichtbarkeit der EU auf der Weltbühne erhöht. 

Doch wie blicken die Bürgerinnen und Bürger in Europa auf ihre Kommissionspräsidentin? Ist es von der Leyen auch ihnen gegenüber gelungen, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen? Was sehen die Menschen als Europas wichtigste Aufgaben für die nahe Zukunft? Diese Fragen stellen sich vor den kommenden Europawahlen mit besonderer Dringlichkeit, denn Ursula von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit an. 


Begrenzt urteilsbereit

Um diese Fragen zu beantworten, hat eupinions, die Plattform für europäische Meinungsforschung der Bertelsmann Stiftung, im Dezember 2023 zusammen mit dem Institute for European Policymaking an der Bocconi-Universität über 13 800 Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union befragt. Zunächst fragten wir die Teilnehmer, ob sie wissen, wer derzeit das Amt des Kommissionspräsidenten bekleidet, wobei wir eine Liste mit Namen als Antwortmöglichkeiten vorgelegt haben. 

Danach wollten wir wissen, ob sie meinen, ausreichend informiert zu sein, um Kommissionspräsidentin von der ­Leyen zu bewerten; falls ja, fragten wir sie, wie sie von der Leyens Leistungen einschätzten und welche davon sie für die wichtigste hielten. Zudem erkundigten wir uns bei den Teilnehmern, ob sie sich an den bevorstehenden Europawahlen beteiligen wollen und ob die Besetzung der Europäischen Kommission eine Rolle bei ihrer Wahlentscheidung spielen würde. Schließlich fragten wir sie nach den wichtigsten Aufgaben, die die Europäische Union in den kommenden Jahren angehen sollte. 

Die Umfrage liefert in zweifacher Weise Erkenntnisse: erstens mithilfe einer Stichprobe, die die öffentliche Meinung in allen Mitgliedstaaten ermittelt, zweitens durch einen etwas detaillierteren Blick auf die Antworten von Teilnehmern aus sieben Mitgliedstaaten, nämlich Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Polen und Spanien. Unsere Daten sind für die EU insgesamt sowie für diese sieben Mitgliedstaaten repräsentativ. 

Nach unseren Erkenntnissen ist derzeit eine große Mehrheit der Europäerinnen und Europäer (75 Prozent) in der Lage, die Kommissionspräsidentin zu benennen – im Unterschied zu früheren Umfragen und früheren Präsidenten. Dieser Wert ist in Polen mit 86 Prozent am höchsten und in Frankreich mit 54 Prozent am niedrigsten.

Nach Ansicht der Befragten sollte sich die EU-Kommission vornehmlich auf die Sicherung des 
Friedens, das Migrationsmanagement und den Schutz der Bürgerrechte konzentrieren

Allerdings zeigen unsere Ergebnisse auch, dass die Europäer sich insgesamt nicht gut genug informiert fühlen, um die Arbeit Ursula von der Leyens zu bewerten. 70 Prozent der Europäer geben an, nicht über ausreichende Kenntnisse zu verfügen. Diese Zahl ist in Deutschland (60 Prozent) am niedrigsten und in Spanien (79 Prozent) am höchsten.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage, die meinen, ausreichend informiert zu sein, um die Arbeit der Kommissionspräsidentin einzuschätzen, bewerten sie ziemlich wohlwollend. Die Koordination der europäischen Antwort auf den Ukraine-Krieg betrachten sie als von der Leyens größte Leistung (35 Prozent) – vor dem Umgang mit der Corona-Pandemie, der Klimapolitik und der Migrationspolitik. 

Immerhin 60 Prozent der Teilnehmer erklären, an den anstehenden Europawahlen teilnehmen zu wollen. Ihr Einfluss auf die Besetzung des Amtes des Kommissionspräsidenten scheint für ihre Wahlentscheidung indes kein maßgeblicher Faktor zu sein – nur für 38 Prozent der Befragten steht dieser Punkt im Vordergrund. Wichtiger ist es danach, eine politische Partei zu unterstützen (51 Prozent) oder die Zukunft der Europäischen Union mitzugestalten (45 Prozent, Mehrfachnennungen waren möglich). 

Als wichtigste Aufgabe der Kommission betrachten 46 Prozent der Europäerinnen und Europäer die Sicherung des Friedens, gefolgt vom Migrationsmanagement (41 Prozent) und dem Schutz der Bürgerrechte (38 Prozent; auch hier waren Mehrfachnennungen möglich).


Demokratisches Defizit

Insgesamt stützen die Daten die Beobachtung, dass Ursula von der Leyen das Profil des Amtes des Kommissionspräsidenten bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern geschärft hat. Gleichzeitig haben die Teilnehmer der Umfrage aber nicht den Eindruck, dass sie genug über von der ­Leyens Arbeit wüssten, um ihre Amtsführung bewerten zu können. Sie wollen ihre Wahlentscheidung auch nicht dafür nutzen, zu beeinflussen, ob die amtierende Kommissionspräsidentin eine zweite Amtszeit erhält. 

Unsere Erkenntnisse untermauern diesen – nennen wir ihn mal – „Von-der-Leyen-Effekt“. Während vorherige Amts­inhaber in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt waren, weiß heute eine große Mehrheit der Europäer, wer Ursula von der Leyen ist. Das ist eine beachtliche Leistung, ist doch die Medienberichterstattung für gewöhnlich stark auf die nationale Ebene der Mitgliedstaaten fokussiert. Gleichzeitig übersetzt sich der Von-der-Leyen-Effekt nicht in konkretes Wissen über die EU-Politik: das Von-der-Leyen-Paradoxon.

Ursula von der Leyen hat die Basis für eine sichtbarere politische Führung der EU gelegt, doch die Verbindung zwischen Amt und politischem Mandat in der EU bleibt schwach. Unter von der Leyen hat das Amt des Kommissionspräsidenten fraglos an Statur gewonnen; die Verbindung zu konkreten politischen Entscheidungen bleibt allerdings in den Augen der Wählerinnen und Wähler undurchsichtig.

Das ist keine Kleinigkeit, sollen demokratische Wahlen doch eine Verbindung zwischen Wählern und ihrer politischen Führung herstellen. Die Europawahlen sollten es den Wählerinnen und Wählern ermöglichen, der Führung in Europa ein Mandat zu erteilen, welche Politik sie verfolgen soll; andersherum sollten sie es den europäischen Wählern auch ermöglichen, die Leistung ihrer Politiker zu bewerten, indem sie sie nach einer Amtszeit zur ­Rechenschaft ziehen. 

Dieser Konnex kann jedoch nur funktionieren, wenn die Wähler ihre Politiker nicht nur kennen, sondern auch in der Lage sind, ihre politische Leistung zu bewerten. Diese Voraussetzungen für demokratische Wahlen sind auf der EU-Ebene nur teilweise erfüllt.


Verwundbare Politiker

Warum ist das von Bedeutung? Weil es die führenden Politiker der EU verwundbar macht. Das ließ sich kürzlich bei den Bauernprotesten gegen den Green Deal der EU beobachten. Präsidentin von der Leyen und ihre Kommission mussten den Forderungen der Landwirte sehr schnell nachgeben, weil sie ihnen nicht mit dem Hinweis begegnen konnten, dass die Kommission die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für ihr Handeln erhalten habe. Partikularinteressen können so erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung der Union ausüben, wenn sich ihre Vertreter nur laut genug äußern.

Was lässt sich tun, um die Verbindung zwischen Wählern und Politikern bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu stärken? Ein entscheidender Schritt wäre es, einen offeneren Wettbewerb um das Amt des Kommissionspräsidenten – den wichtigsten Exekutivposten der Europäischen Union – zuzulassen. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder eine Stärkung der indirekten Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament oder eine direkte Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger.

Dieser Text basiert auf einer Studie, die von eupinions (Bertelsmann Stiftung) und dem Institute for European Policymaking an der Bocconi-Universität (IEP@BU) unter dem Titel „The Von der Leyen Effect. Does Visibility lead to Accountability?” auf www.eupinions.eu veröffentlicht wird. 
Aus dem Englischen von Matthias Hempert

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 18-21

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Themen und Regionen

Prof. Dr. Simon Hix ist Inhaber des 
Stein-Rokkan-Lehrstuhls am Europäischen Hochschul­institut in Florenz. 

Isabell Hoffmann ist Senior Expert Europäische Integration im Programm Europas Zukunft und Projektleiterin von eupinions, dem europäischen Meinungsforschungsprojekt der Bertelsmann Stiftung.

Prof. Dr. Catherine de Vries ist Dekanin für Internationale Beziehungen und Professorin für Politikwissenschaft an der Bocconi-Universität in Mailand.