Titelthema

24. Juni 2024

Das offene Geheimnis

Wie Israels Politik der strategischen Ambiguität öffentliche Kritik verhindert und demokratische Prozesse untergräbt.

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Amihai Eliyahu, Israels Minister für religiöses und kulturelles Erbe, deutete in einem Interview im November 2023 an, dass Israel im Gazakrieg Atomwaffen einsetzen könnte – und sorgte damit für einen politischen Eklat. Denn: Mit seinem Statement hatte Eliyahu Israels Politik der strategischen Ambiguität (Hebräisch: „Amimut“) missachtet, also eine Politik, bei der gewisse Handlungen oder Fähigkeiten – in diesem Fall Israels nukleare Fähigkeiten – weder offen zugegeben noch geleugnet werden. Dadurch entsteht eine Art „offenes Geheimnis“, das zwar allseits bekannt ist, aber nicht öffentlich diskutiert werden darf. Als Konsequenz für seine Äußerung wurde Eliyahu von mehreren Kabinettssitzungen ausgeschlossen.

 Diese Reaktion verdeutlicht, wie sehr die Politik der strategischen Ambiguität das politische Leben in Israel prägt. Aber auch die öffentliche Diskussion wird durch sie entscheidend beeinflusst, denn Amimut schränkt das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Information und Transparenz ein. Dies wird oftmals damit gerechtfertigt, dass strategische Ambiguität den Einfluss nach außen stärkt.

Einige der Maßnahmen, die im Rahmen einer Politik der strategischen Ambiguität ergriffen werden, sind Maßnahmen, die auch im Kontext einer Politik der völligen Geheimhaltung angewandt würden. Dazu zählen etwa die Einschränkung der Medien und die Vermeidung einer direkten Reaktion auf Anfragen zu Regierungsaktivitäten. Dennoch gibt es zentrale Unterschiede zwischen strategischer Ambiguität und Geheimhaltung. Eine Politik der Geheimhaltung zielt darauf ab, bestimmte Informationen vor anderen Staaten und der heimischen Öffentlichkeit schlicht zu verbergen. Nur wenn jemand sich nicht ans Protokoll hält und ein Geheimnis preisgibt, werden solche geheimen Informationen offenbart. Eine Politik der strategischen Ambiguität hingegen zielt weder darauf ab, bestimmte Informationen zu verbergen, noch leugnet sie diese. Informationen können also sowohl im In- als auch im Ausland bekannt sein, werden aber vonseiten des Staates nie öffentlich diskutiert. Eine Politik der Geheimhaltung schafft also ein Geheimnis, eine Politik der Ambiguität hingegen ein offenes Geheimnis, das jeder kennen, aber niemand kritisieren darf.

Amimut ist in der Praxis nur schwer nachzuzeichnen, weil es schlicht an verlässlichen Informationen mangelt. Die israelische Regierung liefert erwartungsgemäß weder eine offizielle Definition ihrer Amimut-Politik noch eine offizielle Erklärung, wie und warum sie angewandt wird. Dennoch ist es mit Blick auf die israelische Sicherheitspolitik möglich, gewisse Verhaltensweisen und Muster zu identifizieren, die auf eine Politik der strategischen Ambiguität hinweisen. 


Israels nukleare Ambiguität

Die israelische Amimut-Politik ist untrennbar mit der Nuklearstrategie des Landes verbunden. Da man die eigenen nuklearen Fähigkeiten auf Dauer kaum mehr geheim halten konnte, einigte man sich als Kompromiss auf eine zweideutige Haltung. 

Avner Cohen, der über Israels Nukleargeschichte und die Entwicklung der strategischen Ambiguität geschrieben hat, erklärt den Übergang von „Irpul“ zu Amimut. Der hebräische Begriff Irpul meint eine Politik, die sich weiterhin um Geheimhaltung bemüht, obwohl bereits Informationen durchgedrungen sind. Sie zielt darauf ab, die verfügbaren Informationen einzuschränken und bereits aufgedeckte Informationen zu leugnen. Auslöser für den Übergang zwischen den beiden Strategien war eine durchgesickerte Information über Israels nukleare Fähigkeiten, die von ausländischen Zeitungen veröffentlicht wurde, wodurch die Bemühungen, die Fakten zu leugnen, immer aussichtsloser schienen. Infolgedessen reagierte Israel mit vagen Botschaften – ohne dabei die enthüllten Informationen zu leugnen. Damit nahm Israel in Kauf, einen Teil seiner Geheimhaltung zu verlieren, lockerte aber nicht die De-facto-Beschränkungen für öffentliche Debatten im Inland. 

Ausgehend von diesen besonderen Umständen hat sich Amimut mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil der israelischen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt. Dieser Prozess wurde von Debatten über Kosten und Nutzen dieser Strategie begleitet. Das Argument für die nukleare Ambiguität stützt sich in der Regel auf zwei wesentliche Vorteile dieser Politik.

Die israelische Politik der strategischen Ambiguität ist in ihrer Entstehung untrennbar mit der Nuklearstrategie des Landes verbunden

Der erste Vorteil besteht darin, dass sie die Motivation von Nachbarstaaten, ihrerseits Atomwaffen zu entwickeln, stark einschränkt. Häufig wird in diesem Zusammenhang behauptet, dass die nukleare Ambiguität dazu beiträgt, Israels Atom­arsenal als rein defensiv darzustellen und damit das Bedrohungsszenario für rivalisierende Länder zu verringern. Zweitens vermeidet Israel dadurch die Konsequenzen, beispielsweise Sanktionen, mit denen andere Atomstaaten leben ­müssen. Mit anderen Worten: In beiden Fällen trägt die strategische Ambiguität dazu bei, externe Kosten zu begrenzen, die mit der Offenlegung der eigenen strategischen Fähigkeiten verbunden wären. 

Diese Vorteile werden noch klarer, wenn man die sicherheitspolitischen Alternativen zur Amimut-Politik betrachtet. Aufgrund der enthüllten Informationen über Israels nukleare Fähigkeiten und Pläne wäre eine Politik der totalen Geheimhaltung ineffektiv gewesen und hätte Israel im Zweifelsfall sogar als unglaubwürdigen Akteur dastehen lassen. Eine andere Möglichkeit hätte darin bestanden, die Existenz des atomaren Arsenals öffentlich anzuerkennen und die damit verbundenen internationalen Beschränkungen und Auswirkungen in Kauf zu nehmen. Wozu das führen kann, sieht man am Beispiel des Iran, der heute unter harten Sanktionen leidet – und trotzdem nicht als vertrauenswürdig gilt und zudem die offensiven Absichten seines Atomwaffenprogramms leugnet. 

Andererseits ist eine Politik der strategischen Ambiguität auch mit erheblichen Kosten verbunden. Sie führt zwangsläufig zu einer Machtkonzentration, bei der eine kleine politische Gruppe entscheidet – was die Möglichkeiten demokratischer Kontrolle und öffentlicher Kritik stark einschränkt. Zudem begrenzt strategische Ambiguität demokratische Rechte und Freiheiten, wie etwa die Redefreiheit und das Recht der Bürgerinnen und Bürger, über strategische Entscheidungen ihrer Regierung informiert zu werden.

Einer der Hauptkritiker der nuklearen Ambiguität war der israelische Intellektuelle Yeshayahu Leibowitz. Leibowitz verstand Israels Sicherheitspolitik als Fortführung innenpolitischer Interessen. Er behauptete sogar, dass Zensurmaßnahmen nicht dazu dienten, Geheimnisse von sicherheitspolitischer Bedeutung vor den Feinden Israels zu schützen, sondern dazu, die Handlungen des Regimes vor der Öffentlichkeit zu verbergen. In diesem Sinne warnte Leibowitz vor den antidemokratischen Risiken der strategischen Ambiguität.

Die Entscheidung für oder gegen den Einsatz von strategischer Ambiguität erfordert also ein Abwägen zwischen positiver Wirkung nach ­außen und negativem Einfluss im Inneren: Einerseits kann sie abschreckend wirken und internationaler Kritik und Sanktionen zuvorkommen, andererseits kann sie das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Transparenz und Redefreiheit einschränken.

Strategische Ambiguität wird in Israel inzwischen so routinemäßig eingesetzt, dass ein Großteil der Informationen über aktuelle Ereignisse nur über ausländische Medien zugänglich ist

Es ist unmöglich, die wahren Absichten der israelischen Regierung zu kennen, wenn sie sich in bestimmten Fällen für oder gegen die Anwendung strategischer Ambiguität entscheidet. Dennoch lassen sich zwei Risiken identifizieren: Zum einen könnte ein ausschließlicher Fokus auf sicherheits- und außenpolitische Erwägungen dazu führen, dass sich die Regierung der strategischen Ambiguität bedient, obwohl die internen Kosten höher sind als der externe Nutzen. Das zweite und gefährlichere Risiko ist die Möglichkeit, dass Ambiguität angewendet wird, um interne Kontrolle und nicht externe Einflussnahme zu erreichen. Wenn zum Beispiel das Recht der Öffentlichkeit auf Informationen und Kritik eingeschränkt wird, um die öffentliche Meinung zu kontrollieren, dann ist das eindeutig undemokratisch.

Diese beiden Risiken werfen die Frage auf, warum sich strategische Ambiguität überhaupt als tragfähige Strategie in der israelischen Sicherheitspolitik etabliert hat. Drei aktuelle Beispiele aus dem Kontext des Gazakriegs sollen dabei helfen, diese Frage zu beantworten.


Wahrheit wagen oder vage bleiben?

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, der den Krieg zwischen beiden Seiten ausgelöst hat, gilt als Wendepunkt in der israelischen Sicherheitspolitik. Er hat deutlich gezeigt, dass Fehler in Israels sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen möglich sind.

Allerdings lässt sich im Rahmen des Gaza­kriegs die Anwendung strategischer Ambiguität noch schwerer erörtern als ohnehin schon. Dies liegt vor allem daran, dass der Krieg noch nicht vorbei ist und sich somit die Entscheidungsmuster stets weiterentwickeln. So kann zum Beispiel ein bestimmtes Ereignis heute geheim sein, aber morgen nicht mehr. Dennoch lässt sich aktuell beobachten, wie sich die Politik der strategischen Ambiguität auf weitere Bereiche der israelischen Sicherheitspolitik ausweitet. Schon in den vergangenen Jahren beschränkte sich die strategische Ambiguität nicht mehr nur auf die nuklearen Fähigkeiten Israels. Vielmehr wurde das Prinzip der Mehrdeutigkeit auch auf andere „strategische“ staatliche Handlungen übertragen.

Mittlerweile ist die strategische Ambiguität als politisches Instrument wohl so weit verbreitet wie nie zuvor. Sie wird in Israel inzwischen so routinemäßig eingesetzt, dass ein Großteil der Informationen über aktuelle Ereignisse nur über ausländische Medien zugänglich ist. Wer also auf Hebräisch über den Krieg liest, stößt dabei höchstwahrscheinlich auf Formulierungen wie „laut ausländischen Quellen“. Ein Beispiel: Ausländischen Quellen zufolge hat Israel am 2. Januar 2024 den Vizechef des Politbüros der Hamas, Saleh al-Arouri, in Beirut getötet. Am selben Tag wurde Mark Regev, der außenpolitische Berater von Premier Benjamin Netanjahu, vom US-Nachrichtensender MSNBC zu dem Anschlag interviewt. Während dieses Interviews geriet Regev ins Stottern, als er versuchte, die Botschaft hinter dem Attentat zu erklären: „Wer auch immer diesen Anschlag verübt hat, ist mit chirurgischer Präzision vorgegangen und hat ein Ziel der Hamas gewählt, weil Israel sich im Krieg befindet ... Wer auch immer das getan hat, hat ein Problem mit der Hamas.“

Zunächst einmal zeigt die Analyse dieses Zitats, wie man einen Fall strategischer Ambiguität erkennen kann. Regev verwendet vage Worte, um das Ereignis zu beschreiben („wer auch immer das getan hat“). Dies deutet auf eine Politik hin, die versucht, die Beteiligung Israels an dem Anschlag weder zuzugeben noch zurückzuweisen. Zudem lässt sich in Regevs Aussage auch die Widersprüchlichkeit strategischer Ambiguität erkennen: Regev hielt es wohl für sinnvoll, die Botschaft des Attentats öffentlich zu machen, um Stärke nach außen zu zeigen, wurde aber – so lässt sich sein Stottern interpretieren – durch die Politik der strategischen Ambiguität daran gehindert. Stattdessen deutete er seinen Standpunkt nur an.

 Doch hätte es in diesem Fall nicht gute Gründe gegeben, sich eindeutig zu äußern und so Stärke nach außen zu demonstrieren? Hier bieten sich verschiedene Beobachtungen an. Ein Kernargument für Israels nukleare Ambiguität liegt da­rin, die externen Kosten, die mit dem Besitz von Atomwaffen verbunden sind, zu vermeiden. Dieses Argument lässt sich jedoch kaum auf die Ermordung von Saleh al-Arouri übertragen: Wie sollte eine Politik der Mehrdeutigkeit im Kontext von Attentaten dabei helfen, rechtliche Konsequenzen oder Sanktionen seitens der internationalen Gemeinschaft zu vermeiden? Vor allem aber greift die Logik der Mehrdeutigkeit, mit der das Fehlen offensiver Absichten kommuniziert werden soll, bei einem Angriff auf dem Territorium eines anderen Staates nicht. Dies dürften die Gründe dafür sein, warum Regev das Bedürfnis hatte, einen anderen Weg zu finden, um die Botschaft hinter dem Attentat zu vermitteln.

Setzt man in diesem Fall auf strategische Ambiguität, so wäre – zumindest in der Theorie – die Ermordung al-Arouris durch Israel ein offenes Geheimnis, was von den regionalen Widersachern und der internationalen Gemeinschaft zwar vermutet, aber nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden kann. Die Tatsache, dass Israels strategische Ambiguität in diesem Fall vom Ausland jedoch weitgehend ignoriert wurde, lässt Zweifel an der Wirksamkeit dieser Strategie aufkommen. So berichteten zahlreiche ausländische Medien aus dem Nahen Osten und dem Westen, dass Israel ohne Zweifel für das Attentat verantwortlich sei.

Eine weitere Beobachtung ist, dass hochrangige Personen in Israel, die im Gegensatz zu einem Regierungssprecher wie Regev weniger an Kommunikationsvorgaben gebunden sind, sich relativ eindeutig dazu geäußert haben, wer für das Attentat verantwortlich ist. Beispiele hierfür sind der Abgeordnete Dani Danon, der dem israelischen Sicherheitsapparat zu dem Attentat gratulierte, und Finanzminister Bezalel Smotrich, der die Verantwortung Israels für den Anschlag öffentlich andeutete. Interessanterweise veröffentlichte die israelische Regierung kurze Zeit später ein offizielles Dementi zu den Äußerungen von Danon und Smotrich. 

Es gibt mindestens zwei Erklärungsansätze dafür, warum diese Politiker dem Regierungskurs nicht gefolgt sind. Entweder waren sie nicht davon überzeugt, dass strategische Ambiguität in diesem Fall zur Sicherheit des Landes beiträgt. Oder sie glaubten tatsächlich an den Nutzen der Amimut-Politik für Israel, aber entschieden sich offen gegen diese Linie, um politischen Profit zu schlagen. Letztlich lässt sich kaum feststellen, wann ein Politiker strategische Ambiguität zu seinem eigenen politischen Vorteil nutzt und wann es ihm um die Sicherheit des Landes geht. Dennoch führen beide Erklärungsansätze zu der gleichen Schlussfolgerung: Zweifel an der Notwendigkeit und der Rechtfertigung von strategischer Ambiguität sind berechtigt. 


Amimut als Sicherheitsrisiko 

Das zweite Beispiel: Ausländischen Quellen zufolge hat Israel am 1. April 2024 ein Gebäude in der syrischen Hauptstadt Damaskus angegriffen, das angeblich Teil der iranischen Botschaft war. Dieser Anschlag ähnelt dem Attentat auf Saleh al-Arouri insofern, als er sich ebenfalls in einer ausländischen Hauptstadt ereignete, ähnlich starke Reaktionen im Ausland auslöste und von Israel vergleichbar mehrdeutig kommentiert wurde. So weigerte sich der Sprecher des israelischen Militärs Daniel Hagari auf einer Pressekonferenz, mit ausländischen Reportern über den Anschlag zu reden. Später erklärte er in einem Interview mit CNN wiederum, dass sich der Angriff nach Angaben des israelischen Geheimdiensts gegen ein militärisches Ziel und nicht gegen eine offizielle Botschaft richtete. Diese Äußerung kann als Versuch interpretiert werden, die Botschaft des Anschlags direkt zu vermitteln. 

Der Iran startete wenige Tage später den ersten direkten Angriff auf Israel, bei dem Drohnen, Marsch­flugkörper und ballistische Raketen eingesetzt wurden. Ausländischen Quellen zufolge reagierte Israel daraufhin am 19. April mit Luftangriffen auf den Iran. Auch in diesem Fall setzte die Regierung auf Amimut, die jedoch von hochrangigen Persönlichkeiten wie dem Abgeordneten Revital „Tally“ Gotliv und dem Minister für öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ignoriert wurde.

Diese Eskalationsspirale verdeutlicht, dass strategische Ambiguität auch zu einer erhöhten Gefahr von Fehleinschätzungen führen kann. Denn sie verhinderte letztendlich das direkte Eingeständnis der Absicht, militärische und nicht diplomatische Ziele anzugreifen, und erhöhte somit das Risiko von Fehlinterpretationen. Die iranische Antwort konnte durch die mehrdeutigen Aussagen der israelischen Regierung nicht verhindert werden. Auch in diesem Fall sind also Zweifel an der Notwendigkeit und der Rechtfertigung der strategischen Ambiguität angebracht.

Es gibt nur wenige Themen, die für Israel so strategisch bedeutsam sind wie das, was manche als einen „inoffiziellen Krieg mit dem Iran“ bezeichnen. Dieses Thema wird in Israel jedoch weder öffentlich noch in der Politik diskutiert, da die Regierung auch hier strategische Ambiguität walten lässt. Doch sollte dieser zentrale Bestandteil der israelischen Sicherheitspolitik nicht viel mehr öffentlich untersucht und kritisiert werden? Haben die Bürgerinnen und Bürger, die mitten in der Nacht in Schutzräume rennen mussten, nicht das Recht zu erfahren, ob diese Eskalation beabsichtigt war oder ob sie auf einem Missverständnis beruhte, wie es Hagari andeutete? 


Zwischen Zensur und Patriotismus

Ein weiteres Beispiel für die Anwendung strategischer Ambiguität im Gazakrieg, mit der eine öffentliche Debatte verhindert werden sollte, bezieht sich auf die Flutung der Hamas-Tunnel im Gazastreifen. Um mehr über dieses Thema zu erfahren, muss man sich einmal mehr ausländischer Quellen bedienen. So berichtete vor allem das Wall Street Journal darüber, wie Israel begann, Meerwasser in die Tunnel der Hamas zu pumpen. Dabei wurde in der Berichterstattung auch die Frage aufgeworfen, welche Folgen diese Strategie für israelische Geiseln haben könnte.

Als Reaktion auf die Veröffentlichung des Wall Street Journal schrieb Amit Segal, ein rechtskonservativer israelischer Journalist, dass er aus Gründen der Zensur und des Patriotismus nicht näher auf das Thema eingehen könne – deutete aber an, dass israelische Journalisten in der Regel mit ausländischen Nachrichten vertraut seien. Dieser Kommentar wirft zentrale Fragen auf: Können Entscheidungsträger und Journalisten, die in der Lage sein sollten, objektiv auf die Politik des eigenen Landes zu blicken, den Unterschied zwischen Zensur und Patriotismus erkennen – und sehen sie den Unterschied zwischen der Enthüllung strategischer Geheimnisse und legitimer Kritik an der Sicherheitspolitik Israels? 

Ähnlich wie bei den Anschlägen in Beirut und Damaskus kann auch hier der Einsatz strategischer Ambiguität angezweifelt werden: Was ist der externe Nutzen dieses Vorgehens? Und warum bestätigte Israel die Informationen der ausländischen Presse später doch noch? Die Tatsache, dass die Hamas immer noch israelische Geiseln im Gazastreifen festhält, treibt die internen Kosten der Amimut-Politik in die Höhe. Israel hat sich zwei Kriegsziele gesetzt: die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln. In der öffentlichen Debatte wird auf die Widersprüche zwischen diesen beiden Zielen hingewiesen, die sich auch in der bewaffneten Auseinandersetzung mit der Hamas immer wieder gezeigt haben. Die politische Polarisierung dieser Debatten schafft Anreize für Israels Entscheidungsträger, öffentliche Kritik zu unterdrücken und Aussagen zu ihrer Bereitschaft, das Leben von Geiseln zu riskieren, zu vermeiden.

All diese Beispiele zeigen: In israelischen Regierungskreisen gibt es die Tendenz, eine Politik der strategischen Ambiguität anzuwenden, um die eigene Sicherheitspolitik als unanfechtbar darzustellen und berechtigte Kritik als ungerechtfertigten Angriff abzutun. Dieses Anwendungsmuster von Amimut ist ein Risiko für die Demokratie und eine wertebasierte Politik. Diese setzt voraus, dass auch der mögliche Schaden von sicherheitspolitischen Entscheidungen sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als auch für die Demokratie selbst berücksichtigt werden muss. Um das zu erreichen, muss Israel transparenter werden, öffentliche Kritik ermöglichen und einen Raum für unterschiedliche sicherheitspolitische Standpunkte schaffen. •

Aus dem Englischen von Kai Schnier

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 3, Juli/August 2024, S. 35-41

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Or Reis ist Masterstudent der Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Nahoststudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seine Masterarbeit befasst sich mit „Nonviolence in Israel/Palestine: understanding and application of the concept of Nonviolence by Palestinians and Israelis“. Im Rahmen seines Studiums verbrachte Or ein Auslands­semester in Marburg. Or engagiert sich ehrenamtlich in israelisch-palästinensischen Begegnungsprojekten in Jerusalem.