„Das ist ein Wandel, den hatte ich so nicht erwartet“
Ein Gespräch über den außen- und sicherheitspolitischen Meinungsumschwung und die wehrhafte Demokratie.
IP: Herr Bundespräsident, Sie haben schon 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz für mehr sicherheitspolitisches Engagement geworben und dafür den Begriff „neue Verantwortung“ geprägt, zusammen mit der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Ihrem heutigen Nachfolger. Die Resonanz war bescheiden …
Joachim Gauck: Ja, es gab da noch eine sehr große Koalition aus Politikerinnen und Politikern – auch unter denen, die regierten – und breiten Teilen der Bevölkerung, die in einer Lebenssituation der Sicherheit, der Friedlichkeit und des Wohlstands nicht akzeptierten, neue Aufgaben anzunehmen, die mit Anstrengungen verbunden sind: Das zu vermitteln, ist ein schwieriges Unterfangen. Ich war damals dankbar dafür, dass die Ministerin und der Minister den Appell aufgegriffen haben. Aber dann passierte nichts. Und das war enttäuschend.
Warum passierte nichts?
Wir waren mental noch nicht so weit. Und die Notwendigkeit, aber etwa auch die Verfasstheit des Putin-Systems, ist den Menschen nicht genug bewusst gewesen.
Offensichtlich gibt es eine Tendenz bei Menschen, sich die Wirklichkeit schönzureden und unangenehme Entschlüsse hinauszuschieben. Dabei waren die Fakten erkennbar – etwa die Herrschaftsmechanismen Wladimir Putins: Das ist Sowjetmacht pur – Verabsolutierung der Macht, Leugnung der Rechte der Einzelnen, keine Zivilgesellschaft zulassen und dazu noch ein geheimpolizeilicher Angstapparat. Alle diese Elemente, die die Sowjetherrschaft stabilisiert haben, sind in Russland wieder da, nur unter anderem Firmenschild, nämlich dem des Nationalismus.
Allein schon die Feindschaft gegenüber dem Recht hätte dafür sorgen müssen, dass der Gesprächspartner dort in Moskau als ein strukturell Anderer, als ein Autoritärer erkannt wird. Ich sage noch nicht: als Feind. Als Feind hat er sich erst dargestellt mit seiner zunehmenden Bereitschaft, das Völkerrecht zu brechen. Aber zumindest dieses strukturell Andersartige hätte bei uns dazu führen müssen, zu sagen: Da denken wir mal über den Grundsatz neu nach, dass angeblich „Sicherheit in Europa nur mit Russland herstellbar“ sei. Auf deutscher Seite gab es schlicht einen Realitätsverlust …
… und entsprechend groß war dann ja auch der Schock am 24. Februar 2022. Wenn Sie die Debatten über die Zeitenwende seitdem mit denen von 2014 vergleichen, welche Unterschiede sehen Sie?
Krisen beschleunigen natürlich alle möglichen Prozesse und in diesem Fall auch den Mentalitätswandel. Wir sehen zum ersten Mal, dass eine Mehrheit der Deutschen höhere Ausgaben fürs Militär nicht mehr kritisch sieht, sondern positiv bewertet. Wir sehen, dass nach wie vor eine große Mehrheit die Unterstützung der Ukraine auch mit Waffen befürwortet. Das hätte ich früher nicht erwartet und 2014 schon gar nicht. Es gibt sogar mehr Leute, die mehr Waffenunterstützung fordern als Leute, die weniger fordern. Und das ist ein Wandel, den hatte ich so nicht erwartet.
Auf den Veranstaltungen von „Zeitenwende on tour“ zeigt sich, dass Bürgerinnen und Bürger heute schon oft viel weiter sind als die Politik. Unter anderem deshalb fragt man sich, ob es nicht auch an politischer Kommunikation gehapert hat ...
Sehr wichtiges Thema!
Welche Defizite gab und gibt es?
Das zu beantworten, ist schwierig, denn natürlich gibt es auf dem Feld der kommunikativen Kompetenz ganz unterschiedliche Ansätze und auch Talente. Wenn wir zum Beispiel auf den Vizekanzler Robert Habeck schauen, dann sehen wir, dass er nach der Methode vorgeht: Ich stelle mich vor die Bevölkerung unter der Annahme, dass, wenn ich ernsthaft mit den Leuten rede, sie mich auch verstehen werden. Wenn ich im Zweifel bin, muss ich den Zweifel nicht verbergen. Wenn ich ein Dilemma sehe, kann ich es sogar Dilemma nennen. So etwas funktioniert aber natürlich nur, wenn die Sinnhaftigkeit einer Entscheidung tatsächlich erkennbar wird. Kommunikation und hieb- und stichfeste Beschlüsse müssen zusammenkommen. Manchmal fehlt es bei uns an dem Einen, manchmal an dem Anderen.
Der Satz „Den Deutschen sind höhere Verteidigungsausgaben nicht vermittelbar“, den man sehr lange hörte aus der Politik, stimmte also nicht?
Ja, der Satz ist falsch. Denn wir dürfen nicht gering von unserer Bevölkerung denken. Deshalb ist es so wichtig, in aller Ernsthaftigkeit zu sagen, was zu geschehen hat. Bundeskanzler Olaf Scholz ist das gelungen in seiner „Zeitenwende-Rede“, mit der er wohl selbst einen Großteil seiner eigenen Parteigenossen überrascht hat. Aber er ist völlig klar in seiner Zielsetzung gewesen in diesem Moment. Deshalb konnte er überzeugen. In meinem neuen Buch verweise ich unter anderem auf Winston Churchill. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat er seinem Volk gesagt: Die Lage ist so und so, und das Negative kann uns auch passieren. Ich kann euch nichts versprechen. Und plötzlich erwacht da eine Nation zu einer Verteidigungsbereitschaft und Entschlossenheit, die es vorher nicht gab. Erklären lässt so Vertrauen wachsen auch zu Beschlüssen, die zunächst unpopulär sein können.
Die Deutschen galten als mehrheitlich pazifistisches Volk vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, vielleicht nach dem Mauerfall noch stärker als zuvor. Verändert sich nun auch die Einstellung gegenüber dem Militärischen?
Ich denke ja. Dabei müssen wir immer sehen, was wir verlieren können und wozu Menschen fähig sind. Ich bin nicht ohne Grund jahrelang Vorsitzender von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ gewesen. Aber wir haben nicht nur destruktive, sondern auch konstruktive Kräfte, die diesen vorbildlichen Rechts- und Sozialstaat errichtet haben auf so schlechten Fundamenten. Sich darüber nicht freuen zu können und daraus nicht Stärke zu beziehen – das ist mir immer als ein Element der Schwäche erschienen. Und als Bundespräsident habe ich auch immer versucht, die Deutschen daran zu erinnern: Sie mögen doch bitte an das glauben, das sie selbst geschaffen haben. Und anerkennen, dass dieses Gut verteidigungswert ist. Aber die Last der mörderischen Vergangenheit war so groß, dass der Glaube an uns selbst lange defizitär geblieben ist.
Es gibt auch noch diejenigen, die grundsätzlich anfangen, uns zu misstrauen, wenn wir uns mehr Stärke zutrauen. Aber wohin soll das führen? Wenn die Anständigen sich Stärke nicht erlauben, wird sich der Unanständige nicht fragen, ob das eine Tugend ist, der er nacheifern muss. Das ist das Problem, das ich mit „Auf-jeden-Fall-Pazifisten“ habe. Einen individuellen Pazifismus kann ich achten, aber damit haben sie keine angemessene politische oder auch nur moralische Lösung gefunden. In der Breite der Gesellschaft ist diese Haltung auch nicht mehr vorhanden. Es könnte sogar sein, dass in der jungen Generation wieder so etwas wächst wie ein Gefühl der Verantwortung nicht nur gegenüber einer Ordnung des Rechts, sondern auch gegenüber der eigenen Nation. Durchaus möglich, dass auch die Bundeswehr davon profitiert.
Entsteht damit auch etwas, was lange fehlte: die oft bemühte „strategische Kultur“?
Auch so ein Begriff, an dem ich seit meiner Präsidentschaft herumknabbere. Ja, das möchte man sich schon wünschen, dass hier in diesem Land – es ist immerhin das größte und wirtschaftlich stärkste Land Europas – endlich eine strategische Kompetenz erwächst. Strategiedebatten leisteten wir uns ein bisschen so wie die Hochkultur. Strategische Kompetenz ist aber kein Orchideenfach. Wenn ich mich verteidigen will, muss ich wissen: Wie verändert sich die geopolitische Lage? Wer sind meine Bündnispartner? Wer sind meine Gegner? Welche Strategien will ich verfolgen? Und wenn man auf den einen oder anderen Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron schaut, fragt man sich: Wo stehen wir als Europäer? Wie wollen wir eine strategische Autonomie überhaupt erreichen? An diesen Fragen kann man spüren, wie groß unser Defizit ist.
Denken Sie, dass sich mit der Zeitenwende auch unterschiedliche Denkweisen mit Blick auf unsere Nachbarländer annähern, zum Beispiel Polen?
Das hoffe ich. Abgesehen von unseren Differenzen zur polnischen Regierung, was rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien anbelangt, haben unsere östlichen Nachbarn uns etwas voraus, wenn es um den Blick auf Russland geht. Sie haben zum Teil traumatische Erfahrungen, haben intensiver als auch die Ostdeutschen hingeschaut und intensiver Macht und Ohnmacht dekonstruiert. Deshalb lohnt es sich, ihnen zuzuhören und auch mal zu sagen: Mensch, da hatten Sie recht!
Nehmen Sie die Debatte um die Nord-Stream-Pipelines. Vielfach hieß es: Die Kritik geht ins Leere, die Amerikaner wollen uns ja nur ihr teures Flüssiggas verkaufen. Als mein Amtsvorgänger Bundespräsident Horst Köhler seinen ersten Besuch in Polen machte, haben ihm die Polen aber gesagt: Jetzt hat Deutschland Polen und der Ukraine schon wieder einen Stich in den Rücken versetzt, weil es eine Konkurrenz zu den bestehenden Landleitungen geschaffen hat. Auf solche Stimmen haben wir nicht gehört, denn wir hatten ja die „besseren“ Einsichten, waren „souveräner“ in unserem Erkennen …
Wie lässt sich das dadurch verlorene Vertrauen wiedergewinnen?
Wir sind kräftig dabei. Für die Polen war es natürlich sehr wichtig, dass auf die „Zeitenwende-Rede“ – verzögert, aber dann doch – eine Politik der Unterstützung für die Ukraine folgte. Bei Fragen wie der Rechtsstaatlichkeit wird es nach wie vor eine Debatte der Europäer mit den Polen geben. In Bezug aber auf europäische Verteidigungsbereitschaft gegen Russland habe ich allerdings sowohl vom SPD-Parteichef als auch von unserem Bundeskanzler als auch vom Bundespräsidenten solche Signale gehört: Ja, wir haben eure Kritik verstanden.
Warum, denken Sie, wurde der verbrecherische Charakter des Regimes von Wladimir Putin so lange ausgeblendet?
Dafür gibt es ein Bündel von Ursachen. Es gibt eine kulturalistische Linie, die bei einigen Intellektuellen noch existiert. Denken wir etwa an diese kitschige Begrifflichkeit von der „russischen Seele“. Es gibt eine lange gehegte, die westliche Zivilisation kritisch bewertende Haltung deutscher Eliten. Denken Sie an den jungen Thomas Mann, der in einer Rede die Tiefe unserer Kultur gegen die Oberflächlichkeit der westlichen Zivilisation setzte. Das ist eine alte Tradition, die mit dem romantischen Denken verbunden ist. Die Tiefe ist angeblich das Eigentliche, und nicht die Verabredung der Vielen auf den Märkten des Alltags. Diese antimoderne Beheimatung im ursprünglichen Sinn, das ist eine alte Linie, die viele Menschen miteinander verbunden hat.
Ein weiteres Element, und das kann man sehr deutlich bei den Ostdeutschen sehen: Wir haben über zwei Generationen politische Ohnmacht erlebt, und der Garant dieser Ohnmacht waren die Sowjets, und sie waren jederzeit imstande, uns Böses anzutun. Am eklatantesten war das 1953, als der erste Aufstand der Bevölkerung im Sowjetblock mit Panzern der Sowjets niedergewalzt wurde. Ohne die Sowjetarmee hätten die Aufständischen ihren Willen durchgesetzt. Danach haben sich die allermeisten Ostdeutschen daran gewöhnt, dass die Welt nicht zu verändern ist durch unsere Wünsche. Es ist gewissermaßen zu einem Sympathisieren mit den „Geiselnehmern“ gekommen, zu einer Art „Stockholm-Syndrom“.
Und schließlich gab es in Westeuropa parallel dazu eine gewisse Blindheit auf dem linken Auge – eine Denktradition, die etwa folgendermaßen lautet: Wenn die fortschrittlichen, also nichtkapitalistischen Kräfte Fehler machen, dann ist das weniger schlimm, als wenn eine kapitalistische Gesellschaft Fehler macht. Für einen aufgeklärten Antikommunismus gab es gerade nach 1968 oft zu wenig Platz. Das verband sich mit einer Ostpolitik, die zunächst einen großen Erfolg erzielte, als sie auch die kommunistischen Staaten mit der KSZE-Schlussakte 1975 zur Einhaltung von Menschenrechten verpflichten konnte, dann aber – als sich die Unterdrückten in Ostmitteleuropa tatsächlich zu Wort meldeten – daran festhielt, eine Veränderung in den kommunistischen Staaten allein über die Machthaber, also von oben, anzustreben. Es herrschte die irrige Vorstellung, dass autoritäre Führer zu Zugeständnissen bereit sind, wenn sie sich „sicher“ fühlen können. Die Verbindung zur Taktik „Wandel durch Handel“ ist offenkundig.
Diese Tradition der Gutwilligkeit und damit verbunden einer mangelnden Entschlossenheit, auch unter Umständen militärisch zu agieren, die muss gebrochen werden. Das muss einsickern in die Gefühlshaushalte der Europäerinnen und Europäer.
Wie können wir uns am besten schützen vor Putins Russland, gegen das wir jetzt unsere Sicherheit organisieren müssen?
Vor allen Dingen dürfen wir Wladimir Putin nicht unsere Angst schenken. Putins Drohungen zum Beispiel, dass er Atomwaffen hat und da könnte ja dieses und jenes passieren – auf wie fruchtbaren Boden das hierzulande gefallen ist. Natürlich kennt er die Struktur des Denkens gerade in Deutschland und die machtvollen Ängste, die da existieren. Angesichts einer Kriegsführung der Russen, die es nicht schaffen, unter immensem Verlust an Soldaten und Material eine benachbarte Nation, die viel schlechter ausgerüstet war, niederzuwerfen – ist es unter diesen Umständen eine wahrscheinliche Variante, dass sich Putin mit der ganzen NATO anlegen würde? Ist also die Drohung mit der Atomwaffe nicht auch zu dekonstruieren? Was für uns so wichtig ist: Welchen Raum diese Drohung bei der Meinungsbildung in der deutschen Öffentlichkeit gewonnen hat. Deshalb gehört eben nicht nur die Ertüchtigung unseres Militärs, sondern auch die Furchtlosigkeit unseres demokratischen Bewusstseins zu den Erfordernissen der Gegenwart. Die Friedenssehnsucht, so erstrebenswert eine allgemeine Friedfertigkeit auch ist, darf nicht dazu führen, dass man sich einem Aggressor freiwillig unterwirft. Deshalb brauchen wir die Einsicht: Es geht nur gut, wenn wir bereit sind, das, was wir lieben und schätzen, auch zu verteidigen.
Das Gespräch führten Martin Bialecki, Henning Hoff und Ulrike Strauss.
Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 33-39