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01. Mai 2021

Das „alte Spiel“ ist aus

Der Machtkampf zwischen Reformern und Hardlinern hat sich überholt. Bei den iranischen Präsidentschaftwahlen könnte erstmals ein Revolutionsgardist ins Amt kommen.

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Bild: Eine Demonstration in Isfahan in 2019
Neben dem Auf und Ab in Sachen Atomabkommen war die Amtszeit Rohanis von Demonstrationen geprägt, die zeitweilig alle Teile des Landes erfassten: Proteste gegen Benzinpreiserhöhungen in Isfahan 2019.
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Am 18. Juni wird im Iran der Nachfolger von Präsident Hassan Rohani gewählt, der nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal antreten darf. Die ersten Präsidentschaftswahlen im neuen iranischen Jahrhundert (am 20. März begann laut iranischem Kalender das Jahr 1400) stehen unter außergewöhnlichen Vorzeichen und könnten richtungsweisend sein. Es zeichnet sich ab, dass die konservativen Kräfte die Macht in der Islamischen Republik unter sich aufteilen werden.



Rohanis Vermächtnis

Das Ansehen der Rohani-Regierung ist derweil so stark gesunken, dass die reformerischen Unterstützer, die sie einst trugen, seit einiger Zeit auf Distanz gegangen sind. Dieser rapide Ansehensverlust liegt darin begründet, dass Rohanis Wahlversprechen auf ganzer Linie uneingelöst geblieben sind. Vor allem zwei Entwicklungen prägten seine Amtszeit: Einerseits der Aufstieg und Niedergang des Atomdeals und damit die Aufhebung beziehungsweise Wiedereinführung lähmender US-Sanktionen, die eine hausgemachte Wirtschaftskrise dramatisch verschärften. Hinzu kommen die radikalsten Anti-Regime-Proteste in der Geschichte der Islamischen Republik.



Zwischen beiden Entwicklungen besteht ein enger Zusammenhang. Nachdem der Atomdeal im Januar 2016 in Kraft getreten war und die nuklearbezogenen Sanktionen wegfielen, profitierten vor allem mit dem Regime verbundene Organe vom nun wieder möglichen Außenhandel. Gleichzeitig sorgte Rohanis autoritär-neoliberale Wirtschaftspolitik für größere Einkommensungleichheit. Soziale Frustration machte sich breit, die sich zwischen März 2016 und der Jahreswende 2017/18 in rund 1700 sozialen Protesten entlud. Zum ersten Mal gingen die unteren Schichten, die bis dato als entweder loyal zum Regime oder als dessen soziale Basis angesehen wurden, massenweise auf die Straßen, um ihre grundsätzliche Ablehnung des Systems – ob Hardliner, sogenannte Reformer, Klerus oder Garden – kundzutun.



Die zweite Welle des Volkszorns baute sich im November 2019 auf, als Proteste gegen das System durch eine Verdreifachung der Benzinpreise ausgelöst wurden – eine Schockmaßnahme der Elite, um die klaffende, sanktionsbedingte Lücke im Staatsbudget zu verringern, und dies auf Kosten der „kleinen Leute“. Dieses Mal gingen laut Zahlen des iranischen Innenministeriums 200 000 Demonstranten (viermal so viel wie bei der ersten Protestwelle) in allen Teilen des Landes auf die Straße – eine beispiellose regionale Ausweitung. Während einer mehr als einwöchigen totalen Internetblockade wurden an die 1500 Demonstranten von Sicherheitskräften, oft auf offener Straße, regelrecht hingerichtet.



Diese Protestwellen muss man, ähnlich wie beim Arabischen Frühling, als Teil eines langfristigen revolutionären Prozesses begreifen. Denn unter Iranern hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das System der Islamischen Republik nicht reformierbar ist. Wie ernst die Lage wirklich ist, wird von den Machthabern zum Teil auch erkannt. Die alte Ordnung liegt im Sterben, während eine neue noch nicht entsteht.



Die Auserwählten

Zwar wird der Präsident wie das Parlament in direkter Wahl vom Volk bestimmt, doch sind die Wahlen im Iran weder frei noch fair. Denn der Wächterrat lässt nur jene Kandidaten zur Wahl zu, denen eine Loyalität zum System der Islamischen Republik attestiert werden kann. Zudem tendiert das erzkonservative Gremium dazu, ihm politisch-ideologisch Nahestehende zu bevorzugen und zuletzt sogar Kandidaten des rivalisierenden reformerischen Flügels des Regimes en masse auszuschließen. Infolgedessen stehen in der Regel lediglich Vertreter aus verschiedenen Lagern der Elite zur Wahl: Reformer, Konservative und Fundamentalisten. Somit bleibt den Iranern, wie es im Volksmund heißt, nur die Wahl zwischen einem kleineren (die Reformer) und einem größeren Übel (die Hardliner). Den Machthabern ging es in der Vergangenheit oft darum, den Frust der Bevölkerung in die Wahl eines „Moderaten“ zu kanalisieren – zur Stabilisierung des Regimes.



Doch jetzt könnte dieses Spiel vorbei sein. Denn die Reformer stecken in ihrer bislang tiefsten Legitimationskrise. In weiten Teilen der Bevölkerung haben sie Vertrauen eingebüßt, zumal sie es versäumt haben, Reformen „von oben“ in ihrem Sinne ernsthaft anzustreben. Vielmehr verfestigte sich unter Rohani der Eindruck, dass die Reformer untrennbar mit der Islamischen Republik verbandelt seien und mit den Hardlinern in einem Boot säßen.



Die Krise des iranischen Reformismus, der sich als loyale, systeminterne Opposition eine relative Öffnung des Systems auf die Fahnen geschrieben hat, könnte unwiderruflich sein. Nach den eher ernüchternden Erfahrungen mit der Präsidentschaft des Reformers Mohammad Khatami (1997–2005) haben sich nun die mit der Präsidentschaft Rohanis verbundenen Reformhoffnungen als Fata Morgana entpuppt. Das liegt nicht nur am Widerstand konservativer Machtzentren gegen Reformbestrebungen, sondern auch an fehlendem politischen Willen seitens der reformerischen Elite selbst. Im Gegensatz zur Grünen Bewegung von 2009 war bei den jüngsten Protestwellen nämlich auch der Reformflügel Zielscheibe des Volkszorns. „Reformer, Prinzipientreue, das Spiel ist vorbei!“ avancierte zu einem der häufigsten Protestslogans. Auch führende Sicherheitspolitiker wie der ehemalige Kommandeur der Revolutionsgarden Mohsen Rezai haben erklärt, das altbewährte, systemstabilisierende „Spiel“ zwischen Reformern und Hardlinern sei „vorbei“. Die einzig verbliebene Hoffnung der Reformer: das Atomabkommen wiederzubeleben und so doch noch die vielen Desillusionierten an die Wahlurne locken zu können.



Das konservative Lager vor dem Sieg?

Beflügelt vom Sieg bei den Parlamentswahlen im Februar 2020 scheint aber der Sieg eines Konservativen oder Hardliners wahrscheinlicher. Beides sind keine monolithischen Lager; sie eint vor allem ihre Opposition zu den Reformern.



Der Oberste Führer Ajatollah Khamenei hat bereits deutlich gemacht, in welche Richtung sich die Islamische Republik von nun an entwickeln soll: Eine junge Generation ideologisch gefestigter islamischer Revolutionäre soll vermehrt politische Verantwortung übernehmen. Als theokratisches Staatsoberhaupt kann Khamenei seine Kandidatur-Präferenzen dem ihm hörigen Wächterrat oktroyieren. Dem Wunschprofil Khameneis entsprechend, kandidiert eine Reihe von Revolutionsgardisten für das Präsidentenamt, denen auch gute Aussichten zugesprochen werden.



Doch im Gegensatz zu vielen Staaten in Irans Nachbarschaft würde auch mit einem Präsidenten, der aus den Reihen der Garden kommt, keine offene Militärherrschaft beginnen wie beispielsweise in Ägypten. Ein Präsident in Uniform wäre mit der politischen Kultur des Landes nicht ohne Weiteres zu vereinbaren, sodass auch die Kandidaten der Garden ihre Wahlkämpfe in Zivil führen. Mit einem Sieg eines ihnen nahestehenden Kandidaten würden die Revolutionsgarden ihre bereits etablierte wirtschaftliche, sicherheitspolitische und geheimdienstliche Dominanz auch auf die politische Ebene ausweiten.



Angesichts der weit vorangeschrittenen Säkularisierung großer Teile der Gesellschaft sowie des Ansehensverlusts des politisch regierenden schiitischen Klerus käme unter einem Präsidenten aus den Reihen der Revolutionsgarden der Nationalismus stärker zum Zug – relativ auf Kosten des Islamismus, der mit seiner ideologisch-revolutionären Propaganda massiv an Wirkmächtigkeit eingebüßt hat. Ein solcher Präsident könnte sich als Modernisierer mit eiserner Faust stilisieren wollen.



Niedrige Wahlbeteiligung

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen will das Regime das Fiasko der Parlamentswahlen von 2020 verhindern, die die niedrigste Wahlbeteiligung seit Gründung der Islamischen Republik verzeichneten. Und dies, obwohl das Regime damals in perfider Machtbesessenheit die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie verschwiegen hatte, um die Menschen nicht von der als patriotische Pflicht gepriesenen Beteiligung an den Wahlen abzubringen.



Laut mit Vorsicht zu genießenden, im Land durchgeführten Meinungsumfragen wollen knapp 40 Prozent der Iranerinnen und Iraner nicht zur Wahl gehen; jeder Vierte hält sie für belanglos. Dies ist wenig überraschend, da der Präsident und seine Regierung relativ machtlos sind gegenüber dem klerikal-kommerziell-militärischen Machtapparat, der letztlich alle Fäden in der Hand hält.



So dürfte viel versucht werden, um für eine höhere Wahlbeteiligung zu sorgen. Denn trotz des autokratischen Charakters des Systems sehen die Machthaber Wahlen als wichtige Legitimationsbasis für die Islamische Republik an. Zumindest rhetorisch wird großer Wert auf Volksbeteiligung gesetzt – nicht zuletzt, um gegenüber dem Ausland den Schein einer Republik aufrechtzuerhalten.



Welche Maßnahmen das Regime zur Sicherstellung einer höheren Wahlbeteiligung ergreifen will, zeichnet sich bereits ab. Dazu gehört die Teilnahme hochrangiger Regimevertreter und Kandidaten an Diskussionen in sozialen Netzwerken (oft auf Clubhouse). So soll der Anschein einer freien Debattenkultur erweckt werden. Es gibt sogar Spekulationen, dass all jene, die ihren Stimmzettel abgeben, anschließend zur Belohnung gegen das Coronavirus geimpft würden – ein Versprechen, das in einem Land, das als Epizentrum der Pandemie im Nahen und Mittleren Osten gilt und wo das Virus nach wie vor wütet, einen besonderen Beigeschmack hat, vor allem angesichts des Missmanagements der Pandemie durch den Staat. Es ist allerdings fraglich, ob solche Manöver die weitverbreitete Apathie durchbrechen können. Viel zu oft schon waren vor Präsidentschaftswahlen die Iraner Zeugen vermeintlich euphorisierender Debatten. Diese schlugen nach der Wahl schnell in Ernüchterung um. „Maximales Drama, minimale Veränderung“, brachte es der Iran-Experte der Carnegie Endowment, Karim Sadjadpour, einst auf den Punkt.



Die Herausforderungen bleiben gleich

Die Dreifachkrise der Islamischen Republik – politisch, sozioökonomisch und ökologisch – hat sich unter Rohani weiter verfestigt. Unabhängig vom Ausgang der Wahlen dürfte sie das Land weiter im Griff haben und sich sogar verschärfen. Jede dieser Krisen kann für sich genommen das Regime destabilisieren. Auch bleiben sie weiterhin ein Auslöser für Proteste.



Überdies wird für die Zukunft des Iran viel davon abhängen, ob die Aushöhlung der Mittelschicht fortschreitet; politisch hat dies eine besondere Brisanz. Die Verarmung breiter Teile der Bevölkerung kann in unterschiedliche politische Bahnen münden: in einen Abschied von der Forderung nach Demokratisierung, da das bloße Über-die-Runden-Kommen alles überschattet; oder in eine sozioökonomische Annäherung an die unteren Schichten, die auch eine politische Dimension gewinnt. Sie könnte perspektivisch zu einer Allianz führen, die das Regime vor sehr große Herausforderungen stellen würde.



Außenpolitisch werden die Beziehungen zum „Erzfeind“ USA und die weltweit wirkmächtigen US-Sanktionen weiterhin alles dominieren. Die Feindschaft zu den USA ist ein ideologischer Grundpfeiler der Islamischen Republik, den auch ein neuer Präsident oder ein Khamenei-Nachfolger nicht aufgeben wird. Das Verhältnis überschattet alle anderen auswärtigen Beziehungen des Iran, sowohl mit Europa als auch mit China und Russland.



Von dem auf 25 Jahre geschlossenen iranisch-chinesischen Abkommen, das beide Seiten Ende März in Teheran unterzeichneten, dürfte zumindest vorerst keine neue Dynamik ausgehen. Im Grunde schreibt es nur Pekings über die vergangenen Jahre stark gewachsene Bedeutung für die Islamische Republik fest. Die Geheimhaltung der Inhalte des Paktes bestärkt die Befürchtung vieler Iraner, dass das Regime einen Ausverkauf nationaler Interessen betrieben hat, einzig um sein Überleben zu sichern.



Eine von den Revolutionsgarden getragene Präsidentschaft könnte auch eine Phase der Transformation der Islamischen Republik einläuten, in der die politische Herrschaft des Klerus, der angesichts seiner Inkompetenz und Korruption in weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, ihrem Ende näher kommt. Und eine Machtmonopolisierung durch das konservative Establishment böte theoretisch die Möglichkeit, dass es einen Teil der Profite der von ihm kontrollierten Wirtschaftsimperien abzweigt, um das Land in sozioökonomischer Hinsicht zu stabilisieren.



Doch dafür müsste es zu einem Sinneswandel einer oligarchischen Elite kommen. Diese setzte einst die „Islamische Revolution“ im Namen der „Entrechteten“ um – heute beantwortet sie die fortschreitende Verelendung aber fast nur noch mit einer Mischung aus populistischen finanziellen Zuwendungen, die nicht mehr als kosmetische Linderung bringen, und nackter Gewalt.

 

Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Iran-Experte und Autor des Buches „Iran in an Emerging New World Order: From Ahmadinejad to Rouhani“ (2021).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 79-83

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