Buchkritik: Die tragische Natur der Politik
Zu wenig Persönliches, fehlende Selbstkritik: Auf ungeteilte Zustimmung sind die Memoiren Angela Merkels nicht gestoßen. Zwei Argumente sind es, mit denen eine nähere Beschäftigung lohnt – denn sie betreffen den Kern allen außenpolitischen Handelns.
Es ist bemerkenswert, wie rasch der Nimbus Angela Merkels nach ihrem Rückzug aus dem Amt verblasst ist. Galt die Bundeskanzlerin zuvor als unübertroffene Expertokratin des Machtgewinns und -erhalts, galt sie als unbestrittene Führungsfigur in Europa, so schlug die Bewunderung nach ihrem Abgang schnell um in harsche Kritik. Im Rückblick lastet man Merkel eine ganze Reihe schwerwiegender innenpolitischer Versäumnisse und außenpolitischer Fehleinschätzungen an. Hinzu kommt, dass viele der Ex-Kanzlerin attestieren, sich jeglicher Selbstkritik geradezu störrisch zu verweigern.
Was ihr wollt
Hart mit Merkel ins Gericht geht etwa der FAZ-Journalist und langjährige Beobachter der Kanzlerin Eckart Lohse in seiner klugen, kenntnisreichen Analyse des Verhältnisses von Angela Merkel zu „ihren“ Deutschen. Das dogmatische Festhalten an der „schwarzen Null“ im Haushalt, die Vernachlässigung der aufgestauten Probleme bei Bahn und Bundeswehr, der Atomausstieg, die verkorkste Energiewende, eine widersprüchliche Russland- und eine verhängnisvolle Migrationspolitik – die Liste der Fehler und Versäumnisse, die Lohse zusammengestellt hat, ist lang.
Die Erklärung, die der Autor hierfür findet, ist einfach: Die Kanzlerin habe die Politik verfolgt, die sich die Deutschen wünschten. Merkel habe es ihnen erlaubt, den Kopf in den Sand zu stecken, die Umbrüche der Weltpolitik um Deutschland herum zu ignorieren und in einer Welt, die immer mehr aus den Fugen geriet, auch weiterhin eine Friedensdividende zu beanspruchen.
Die tieferen Ursachen dafür, wie Merkel als Bundeskanzlerin agierte, findet Lohse in ihrer ostdeutschen Herkunft: Angela Merkel habe, so seine zentrale These, die damit verbundenen Kränkungen und Zurücksetzungen in ihrer Partei und im vereinten Deutschland niemals ganz akzeptiert. Sie wollte beweisen, dass sie es – als Ostdeutsche und als Frau, in dieser Reihenfolge – besser konnte als all die machtbewussten Männer, die sie im Laufe der Zeit hinter sich ließ.
Merkels wichtigste Machttechnik bestand darin, es ihrer Partei und den Wählerinnen und Wählern recht zu machen – selbst dann, wenn sie dabei gegen die eigenen Überzeugungen handeln musste, etwa beim Atomausstieg.
Der Preis der Erfolge der Kanzlerin war Lohse zufolge eine große „Täuschung“: Merkel täuschte die Deutschen darüber hinweg, wie gefährlich die Welt geworden war. Sie machte sich zur „Kanzlerin des Bewahrens“, als sie gewahr wurde, wie gering die Bereitschaft der Deutschen war, einen Wandel zu riskieren.
Politik als Versuchsanordnung
Liest man Merkels mit ihrer langjährigen Bürochefin Beate Baumann verfassten Erinnerungen aus der von Eckard Lohse entfalteten Perspektive, so findet man manches von dem gespiegelt, das Lohse konstatiert. Etwa im ausführlichen, lebhaften Rückblick auf Merkels „glückliche Kindheit“ und Jugend in der DDR.
Dagegen liest sich der Bericht über die Jahre im Bundeskanzleramt über weite Strecken wenig inspirierend. Daten und Fakten werden zusammengestellt wie in einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung, Ein- und Zuordnungen werden vorgenommen und abgewogen und dann das Ergebnis präsentiert – in der Regel ein Kompromiss.
Dabei zeigt sich Merkel entgegen einer verbreiteten Einschätzung durchaus fähig zur Selbstkritik, wenn auch nur im Detail. An den großen Linien ihrer Politik hält sie beharrlich fest. Und trotz der scheinbar nüchternen, faktengesättigten und unaufgeregt-neutralen Darstellung geht es Merkel erkennbar darum, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Außenpolitisch betrifft das vor allem ihre Russland- und Ukraine-Politik, aber auch das Verhältnis zu Israel als Manifestation deutscher Staatsraison.
Wie nicht anders zu erwarten, hält sich Merkel weitgehend bedeckt, was Persönliches angeht; und auch im Urteil über andere bleibt sie zurückhaltend. Selbst ihre Einschätzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, über den sie sich schon früh im Klaren zu sein schien, schimmert nur zwischen den Zeilen durch. Etwa wenn sie beschreibt, wie Putin die anderen Staats- und Regierungschefs der G7 beim Gipfeltreffen in Heiligendamm 2007 eine dreiviertel Stunde warten lässt – und anschließend, Zitat: „grinsend“ Merkel die Schuld dafür in die Schuhe schiebt.
Diese Zurückhaltung kann man weder dem Buch noch den Autorinnen anlasten. Aber es finden sich auch in der Sache zwei Leerstellen – und die sind gewichtig. Denn sie betreffen den Kern der Außenpolitik. Merkel schildert zwar anschaulich die Dilemmata außenpolitischen Entscheidens: Zeitdruck, unvollständiges Wissen um den Sachverhalt, widersprüchliche Interessen, viele Mit- und Gegenspieler. Doch sie versäumt es, sich einzugestehen – und bei der Leserschaft um Verständnis dafür zu werben –, dass diese Dilemmata, dass die im Kern tragische Natur der Politik als Wahl zwischen unterschiedlichen Übeln auf prekärer Grundlage fast zwangsläufig auch zu Fehlentscheidungen führen muss.
Zudem garantieren selbst in sich stimmige außenpolitische Entscheidungen keineswegs schon den Erfolg: Vieles in der Politik, zumal in der internationalen Politik, ist kontingent, hängt ab von gegebenen Umständen und dem Agieren vieler anderer; die Folgen werden demnach nicht selten nicht wegen, sondern trotz der getroffenen Entscheidungen so ausfallen, wie sie ausfallen.
Der Politikbetrieb kultiviert jedoch einen Perfektionsanspruch, der diesen Gegebenheiten immer weniger Rechnung trägt und so Politikverdrossenheit schürt. Mehr Toleranz gegenüber den harten Realitäten demokratischer (Außen-)Politik täte unserer politischen Kultur gut.
Merkels Memoiren hätten dafür werben können. Sie tun es kaum; wichtiger ist der Ex-Kanzlerin, recht zu behalten. Dieses Versäumnis, für die Belange der Außenpolitik mehr Verständnis und Unterstützung einzuwerben, ist die erste große Leerstelle in diesen Memoiren.
Keine Strategie, nirgends
Um die zweite Leerstelle zu identifizieren, müssen wir ein wenig ausholen. Angela Merkels Außenpolitik beruhte auf klar umrissenen Prinzipien und Werten; aus diesen ergaben sich ihre außenpolitischen Ziele. Beides, Werte und Ziele, orientierte sich mit guten Gründen an den Traditionslinien der bundesdeutschen Außenpolitik.
Merkels Fähigkeit zur Beurteilung und Bewertung außenpolitischer Entscheidungssituationen ist bemerkenswert – mit einer Einschränkung: Die militärischen Dimensionen der internationalen Politik liegen ihr erkennbar fern, mit ihnen fremdelt sie. Damit ist sie freilich in Deutschland in bester Gesellschaft.
Bezeichnend für diesen grundsätzlich sympathischen blinden Fleck im ansonsten so bemerkenswerten Sensorium der Bundeskanzlerin ist eine Geschichte aus dem Jahre 2009. Ihr damaliger Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg war im Kontext des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr rhetorisch vorgeprescht und hatte seine Kanzlerin dazu bewegt, sich den Realitäten im achten Jahr des NATO-Einsatzes am Hindukusch zu stellen.
Nachlesbar fällt es der Kanzlerin schwer, sich selbst zu korrigieren und zuzugeben, dass „aus der Sicht unserer Soldaten kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans herrschen, auch wenn der Begriff ‚Krieg‘ aus dem klassischen Völkerrecht auf die jetzige Situation nicht zutrifft“.
In diesem etwas verschwurbelten Satz zeigt sich die Quintessenz der Politikerin Angela Merkel: So lange wie möglich an einer rosaroten Deutung der Realität festhalten, Veränderungen möglichst nur in kleinen Schritten vornehmen. Und stets darauf beharren, recht zu behalten: Sie habe ja Gründe gehabt, das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit Afghanistan nicht in den Mund zu nehmen.
Nicht diese Schwierigkeiten im Umgang mit Militär und Krieg bilden jedoch die zweite schwerwiegende Leerstelle in Angela Merkels Außenpolitik. Sondern das Fehlen von Strategien, das im Umgang mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan sichtbar wird. Dafür gibt es viele Beispiele. So rechtfertigt Merkel ausführlich – und in sich durchaus nachvollziehbar – ihre Entscheidungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine, der ja schon 2014 mit der Besetzung und Annexion der Krim begann, sowie ihr Festhalten an Bezügen von russischem Erdgas, einschließlich des Nord Stream 2-Projekts.
Warum aber zog die Kanzlerin aus ihren Einsichten nicht schon damals, 2014, strategische Konsequenzen, indem sie sich für eine massive Ausweitung der Verteidigungsausgaben und eine rasche Umstellung der deutschen Energieversorgung einsetzte? Warum erhöhte sich stattdessen von 2014 bis 2022 der Anteil des Verteidigungshaushalts am Bruttoinlandsprodukt gerade mal von 1,2 auf 1,3 Prozent, warum stieg der Anteil der russischen Gaslieferungen im selben Zeitraum kontinuierlich auf über 55 Prozent der Erdgasversorgung Deutschlands?
Und wenn schon nicht eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben und eine Verringerung der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen – welche anderen Schritte unternahm die Bundesregierung nach 2014, um die deutsche und europäische Position unter den neuen Rahmenbedingungen systematisch zu stärken? Zu diesen Fragen gibt es nicht nur keine Antworten, sie werden in diesen Memoiren nirgendwo gestellt und diskutiert.
Ähnlich fällt der Befund auch in einem anderen Zusammenhang aus, dem deutschen Verhältnis zu Israel. „Auf Adenauers Spuren“: So beginnt das entsprechende Kapitel, eines der eindrucksvollsten und persönlichsten in den außenpolitischen Passagen des Buches. Ausführlich schildert Angela Merkel darin ihre Begegnungen in Israel. Dann begründet sie, warum sie den Begriff der „Staatsraison“ heranzog, um Deutschlands Verantwortung für die Sicherheit Israels zu bekräftigen, und erläutert dann, was aus diesem Prinzip folgt: das Engagement für eine Zweistaatenlösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, diplomatische Bemühungen um die Eindämmung des Atomprogramms des Iran, Waffenlieferungen an Israel.
Überlegungen dazu, wie genau Deutschland denn eine Zweistaatenlösung voranbringen könnte, wie es dazu beitragen könnte, eine atomare Aufrüstung des Iran zu verhindern oder welche alternativen Strategien geeignet wären, die Sicherheit Israels langfristig zu gewährleisten, finden sich dagegen nicht einmal ansatzweise. Auch hier klafft zwischen Prinzipien und Zielen, zwischen verfügbaren außenpolitischen Instrumenten und angestrebten Ergebnissen eine Lücke: Es fehlt eine Strategie.
„Freiheit“: Unter dieses Motto stellt Angela Merkel ihren Bericht. Dass sie auch die Zwillingsschwester der Freiheit, die Verantwortung, in ihrer Zeit im Kanzleramt stets im Auge hatte, ist unbestreitbar.
In diesen zwei Punkten ist sie ihr jedoch nicht ganz gerecht geworden: Sie hat zu wenig dafür getan, für außenpolitische Weichenstellungen innenpolitisches Verständnis und Unterstützung einzuwerben. Und eine strategische Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik, die den veränderten Rahmenbedingungen gerecht geworden wäre, hat sie in ihrer langen Zeit im Bundeskanzleramt versäumt.
Fundiertes mit Pathos
Wird das unter der nächsten Bundesregierung anders? Einer von denen, auf die es dabei ankommen könnte, ist Norbert Röttgen. Seit 30 Jahren sitzt er für die CDU im Bundestag und gehört zum innersten Kreis der Außenpolitiker der Partei. Zugleich profilierte er sich in wichtigen Fragen wie der Energiewende und der Energieabhängigkeit von Russland als innerparteilicher Kritiker von Angela Merkel.
In „Demokratie und Krieg“ legt Röttgen nun seine Diagnose der neuen außenpolitischen Rahmenbedingungen vor. Er kann dabei für sich in Anspruch nehmen, bei Nord Stream 2, bei der Vernachlässigung der Bundeswehr und bei seiner Einschätzung von Putins Russland recht behalten zu haben. Auch seine Kritik an der Ampel und insbesondere an Bundeskanzler Olaf Scholz erscheint berechtigt. Tatsächlich gibt es an diesem Buch substanziell kaum etwas zu kritisieren: Röttgens außenpolitische Einschätzungen sind durchweg fundiert und auch dann nachvollziehbar, wenn man seine Schlussfolgerungen nicht teilt.
Wenn das Buch diesen Leser dennoch etwas unzufrieden zurückließ, so liegt das an seinem gelegentlich recht dick aufgetragenen Pathos. „Frieden und Demokratie: Der moralisch-historische Imperativ deutscher Politik“ lautet die Überschrift des Schlusskapitels. Gewiss: Den Krieg überwinden zu wollen, gehört seit je zum Selbstverständnis der bundesdeutschen Außenpolitik. Aber geht es dabei nicht schlicht darum, denjenigen in den Arm zu fallen, die ihre Ziele mit allen, auch kriegerischen Mitteln durchzusetzen versuchen? Zudem wünscht man sich auch hier Konkreteres zu einer außenpolitischen Strategie Deutschlands, um Frieden und Demokratie zu bewahren. Immerhin: Röttgens Forderungen nach konsequenter Unterstützung der Ukraine und nach einer deutschen Führungsrolle in der multilateralen Zusammenarbeit weisen in die richtige Richtung.
Eckart Lohse: Die Täuschung. Angela Merkel und ihre Deutschen. München: dtv 2024. 336 Seiten, 25,00 Euro
Angela Merkel mit Beate Baumann: Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024. 736 Seiten, 42,00 Euro
Norbert Röttgen: Demokratie und Krieg. Deutsche Politik und deutsche Identität in Zeiten globaler Gefahr. München: dtv 2024. 240 Seiten, 18,00 Euro
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 124-127
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