Buch des Jahres 2012
Leseempfehlungen zur Außenpolitik
„Welches Buch zur internationalen Politik war in diesem Jahr das wichtigste
für Sie und warum?“ Diese Frage haben wir an Politiker, Wissenschaftler
und Publizisten gestellt. Das Ergebnis: Vor allem die Kennan-Biografie von
J. L. Gaddis (drei Nennungen) und Kissingers China-Buch (zwei Nennungen)
sollte man gelesen haben – aber auch noch ein paar andere Titel.
Thomas Bagger
Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt
John Lewis Gaddis’ Biografie über George F. Kennan. Gaddis zeichnet nicht nur ein faszinierendes Porträt einer eindrucksvollen und vielschichtigen Persönlichkeit, sondern macht Kennans Leidenschaft für und zugleich sein Leiden an der US-Außenpolitik anschaulich: seine innere Zerrissenheit zwischen der unbedingten Notwendigkeit außenpolitischer Strategiebildung und der immer neuen Einsicht in ihre praktische Unmöglichkeit.
John Lewis Gaddis: George F. Kennan.
An American Life, Penguin Press 2011
Egon Bahr
Bundesminister a. D.
Ein Historiker mit globalen Regierungserfahrungen, der die Annäherung zwischen den USA und China eingeleitet und die Führungsgenerationen seit Mao persönlich kennengelernt hat, entwickelt aus der Kenntnis der 4000-jährigen Geschichte die Perspektive der beiden Giganten beiderseits des Pazifischen Ozeans. Kissingers „China“ ist faszinierend und reizt, es nicht nur einmal zu lesen.
Henry A. Kissinger: China. Zwischen Tradition und Herausforderung, C. Bertelsmann 2011
Klaus-Dieter
Frankenberger
Leiter Außenpolitik, FAZ
Wer wissen will,
wie der Westen zur historischen Dominanz gelangt ist, findet hier ebenso spannende wie brillante Antworten – und die Zuversicht, dass der Westen noch lange nicht die weltpolitischen Segel streichen muss, solange er nur seine Stärken richtig einsetzt.
Niall Ferguson: Civilization. The West and the Rest, Allen Lane 2011
Wolfgang Gehrcke
Außenpolitischer Sprecher der Partei Die Linke
Aus der Lektüre dieses Buches lernt man nicht nur die Schwierigkeiten, Verstrickungen und Wendungen der Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde kennen, sondern auch die der deutschen Palästina-Politik. Ein unerlässliches Buch für alle, die gleichermaßen an der Geschichte und an aktuellen Entscheidungen interessiert sind.
Abdallah Frangi: Der Gesandte. Mein Leben für Palästina, Heyne 2011
Ulrike Guérot
European Council on Foreign Relations
Dani Rodrik zeigt die Aufgabe, die das Staatensystem lösen muss: den Nexus zwischen Globalisierung, Demokratie und Souveränität neu definieren, damit die Hyper-Globalisierung nicht um den Preis einer Infragestellung der Demokratie kommt – durch jene Teile der Bevölkerung, die am Gewinn der Globalisierung keinen oder nur einen geringen Anteil haben.
Dani Rodrik: Das Globalisierungsparadox,
C. H. Beck 2011
Christoph Heusgen
Außenpolitischer Berater der Bundeskanzlerin
Dieses fesselnd geschriebene Buch ist ein "muss" für jeden, der die russische Politik verstehen will, wer mehr über den Lebenslauf des russischen Präsidenten erfahren und wissen will, was und wer ihn geprägt hat. Wer noch die Hoffnung hegt, dass sich in Russland unter Präsident Putin eine liberale, freiheitliche Gesellschaftsordnung entwickeln kann, sollte von der Lektüre Abstand nehmen.
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin – eine Enthüllung, Piper 2012
Elke Hoff
Sicherheitspolitische
Sprecherin der FDP
Diese Novelle gehört mit Abstand zum Besten, das über die Kriege der Gegenwart geschrieben wurde. Kevin Powers lässt uns teilhaben an dem rapiden Zerfall von Werten, die sich in der erbarmungslosen Hitze des Irak ebenso schnell zersetzen wie die Körper der Getöteten. Niemand, der dieses Buch gelesen hat, kann danach zur Tagesordnung übergehen.
Kevin Powers: The Yellow Birds, Little, Brown and Company 2012
Gunter Hofmann
Freier Publizist, u.a.
DIE ZEIT
Was das Buch leistet, ist mehr als eine west-ost-europäische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Vielmehr erscheint es mir wie eine grandiose Erinnerung daran, wie tief die -europäischen Wurzeln im amerikani-
schen Denken sind, weshalb man selbst bei Barack Obama – der sich angeblich anderen Weltgegenden zuwendet – eine erstaunlich europäische Grundmelodie heraushören kann.
Tony Judt und Timothy Snyder: Thinking the Twentieth Century, Penguin Press 2012
Hans-Ulrich Klose
Stellvertr. Vorsitzender
Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags
Ansary, geboren in Kabul, Vater Afghane, Mutter Amerikanerin, lebt in San Francisco und wundert sich seit Jahren über die geringe Beachtung der islamischen Geschichte im Westen. Wer die heutigen Konflikte der islamischen Welt im Verhältnis zu westlichen Ländern begreifen wolle, müsse sie mit den Augen islamischer Historiker betrachten. Das Ergebnis ist hinreißend: Wer Ansary liest, lernt eine andere Wahrheit kennen und mehr von der Welt, auch von der eigenen.
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der
Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht,
Campus 2010
Stefan Kornelius
Leiter Außenpolitik,
Süddeutsche Zeitung
Eine grandiose Wiederentdeckung. Fallada beschreibt, wie sich Totalitarismus ganz unten bei den einfachen Menschen anfühlt, wie viel Mut Widerstand erfordert, und wie wichtig es ist, dass die Unterdrückten und Unfreien ein Fünkchen Hoffnung haben.
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein,
Aufbau 1947
Hanns W. Maull
Professor für Internationale Beziehungen, Trier
Dieser brillant gemachte Polit-Thriller konstruiert vor dem Hintergrund dramatischer Zuspitzungen des Klimawandels das fiktive Szenario eines gewaltigen Zusammenpralls zwischen den USA und der Volksrepublik China. Derzeit entwickeln sich die Trends sowohl beim Klimawandel als auch im amerikanisch-chinesischen Verhältnis in eine Richtung, die diesen Science-Fiction-Albtraum unangenehm plausibel scheinen lassen.
Matthew Glass: Ultimatum, Grove Press 2010
Philipp Mißfelder
Außenpolitischer Sprecher der CDU
Für Deutschlands Sicherheit und Wohlstand wird es entscheidend sein, wie eng wir in Zukunft mit Moskau zusammenarbeiten. Es ist dabei in unserem Interesse, Gemeinsamkeiten auf allen Gebieten herauszuarbeiten. Wer Russland und seine Ambivalenz zwischen Großmachtanspruch und Modernisierungsdefiziten verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Alexander Rahr: Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen, Hanser 2011
Rolf Mützenich
Außenpolitischer Sprecher der SPD
Senghaas spiegelt frühere Erkenntnisse mit neuen Trends und erläutert Ursachen für Konflikte. Anstelle des „Sicherheitsdilemmas“ macht er ein „Entwicklungsdilemma“ aus, das auch scheinbar fortgeschrittene Gesellschaften formen wird. Seine Auseinandersetzung mit einem weltweit anzutreffenden „Rüstungsautismus“ ist aufschlussreich und beklemmend.
Dieter Senghaas: Weltordnung in einer zerklüfteten Welt, Edition Suhrkamp 2012
Volker Perthes
Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Etwas zu lang, aber großartig: Über den „Erfinder“ des Containment und dessen lebenslanges Eintreten gegen Hysterie und moralische Überhöhungen in der Außenpolitik. Und über die Eitelkeiten des Politikberaters, der mit all den Politikern hadert, die seine Exzellenz und Expertise zu ignorieren scheinen.
John Lewis Gaddis: George F. Kennan.
An American Life, Penguin Press 2011
Ines Pohl
Chefredakteurin der Taz
Das Buch zeichnet die europäische Finanzgeschichte seit dem Mittelalter nach – und ist gleichzeitig prophetisch. Obwohl es weit vor der Finanzkrise ab 2008 geschrieben wurde, weist Kindleberger auf das Problem hin, dass viele Banken „too big to fail“ sind. Auch macht er sich über die Mainstream-Ökonomen lustig, die glauben, dass man mit mathematischen Modellen das Risiko eliminieren kann.
Charles P. Kindleberger, A Financial History of Western Europe, Oxford University Press 1993
Ruprecht Polenz
Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss des Deutschen Bundestags
Kahneman liefert neue Einsichten in tatsächliche und scheinbare Irrationalitäten menschlichen Denkens und Verhaltens sowie alltägliche Denkfehler, die man kennen sollte, wenn man Menschen überzeugen will. Eine Pflichtlektüre für Politiker.
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler 2012
Eberhard Sandschneider
Direktor des Forschungs-instituts der DGAP
Henry A. Kissinger schöpft aus seiner profunden, durch eine Vielzahl von Begegnungen mit den chinesischen Machthabern unterfütterten China-Kenntnis. Entscheidend sind vor allem die letzten Kapitel des Buches, denn dort entwickelt der ehemalige US-Außenminister eine Evolutionsstrategie, die man den heute handelnden Politikern gerne ans Herz legen möchte.
Henry A. Kissinger: China. Zwischen Tradition und Herausforderung, C. Bertelsmann 2011
Thomas Schmid
Herausgeber der
Welt-Gruppe
Wir neigen dazu, China auf dem kraftvollen Sprung in die Moderne zu sehen. Liao, kein Dissident, aber ein genauer Beobachter, ernüchtert: Er zeigt ein barbarisches China, von Gewalt durchtränkt. Er hat ein Epos über die „ruhelosen Seelen von 1989“ geschrieben. Ein anderes 1989 als das europäische.
Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens, S. Fischer Verlag 2012
Constanze Stelzenmüller
Sen. Transatlantic Fellow, German Marshall Fund
In einer Zeit, in der Bücher am Fließband entstehen (und ebenso schnell wieder geschreddert werden), zeigt sich, dass es sich lohnen kann, einem Sujet 30 Lebens- und Forschungsjahre zu widmen. Der große amerikanische Russland-Experte war ein brillanter Stratege, ein sublimer Stilist, ein Weltklasse-Neurotiker, als Ehemann und Freund eher anstrengend – und als Diplomat für die eigene Seite gefährlicher als für den Feind.
John Lewis Gaddis: George F. Kennan.
An American Life, Penguin Press 2011
Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 130-133