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01. Jan. 2014

Bedingt reformbereit

Wie die Politik den Aufschwung in Griechenland hemmt

Bauboom, wachsendes Bruttoinlandsprodukt, steigendes Pro-Kopf-Einkommen, eine Wirtschaft, die schneller wächst als in der übrigen Euro-Zone: So liest sich, kurz gerafft, die Berichterstattung über Griechenland, lange Zeit das Armenhaus unter den EU-Mitgliedstaaten. Da ist nur ein Haken: Alle diese Zuschreibungen stammen aus dem Jahre 2001, dem Jahr der Euro-Einführung. Was folgte, war der Absturz bis hin zum Sanierungsfall. Wie kein anderes Land in der EU steht Griechenland vor einem Scherbenhaufen, politisch, wirtschaftlich, moralisch, gesellschaftlich. Wie konnte es so weit kommen?

„Ein riesiges Haushaltsdefizit, immense Schulden und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit sind die Hauptursachen für den Bankrott des Landes“, sagt der Historiker und Politologe Thanos Veremis. Mit den billigen Euro-Krediten, die das Land fluteten, hätte die Regierung die Wirtschaft ausbauen, in die Zukunft investieren können. „Doch in populistischen Staaten müssen Gelder von flüchtigem Wert verteilt werden: in Form von Gehältern und Vergünstigungen“, erklärt Veremis. Und das in einem Land ohne Produktivitätssteigerung, einem Land, dem es an Wettbewerbsfähigkeit mangelt.

Vier Jahre des Honigs

Griechenland zahlt gerade Lehrgeld für einen beispiellosen Populismus. Subventionen und Zuschüsse der EU wurden jahrelang nach Gutdünken vergeben, Posten und Ämter unter Freunden verteilt, Milliardenaufträge und Lizenzen an Oligarchen verschachert, Sozialleistungen und Gehälter vorbehaltlos erhöht. 

Einer der Polit-Titanen, der mit generösen Sozialleistungen und kräftigen Lohnerhöhungen das Volk bei Laune hielt, war der Gründer der sozialistischen Pasok Andreas Papandreou. Seine erste Regierungszeit nennen die Griechen „die vier Jahre des Honigs“. Der dreimalige Ministerpräsident und in Harvard promovierte Wirtschaftswissenschaftler wusste, wohin sein Populismus führen würde. „Aber es interessierte ihn nicht“, sagt Thanos Veremis. 

Bereits 1985 warnten Brüssel und der IWF, die Griechen lebten über ihre Verhältnisse. Die öffentlichen Ausgaben und das Haushaltsdefizit waren explodiert. Andreas Papandreou kündigte „schmerzliche, aber notwendige Entscheidungen“ an. Sparprogramme wurden beschlossen, Löhne beschnitten, aber nachhaltige Reformen blieben aus.

Doch nicht nur Populismus führte zum Kollaps Griechenlands. Es waren ebenso ein seit Jahrhunderten fest verankerter Klientelismus, mangelnder Bürgersinn, fehlende Dialogkultur und Konsensbereitschaft, die Verflechtung von politischer Macht und wirtschaftlichen Interessen, ein polarisierendes Zweiparteiensystem, bestehend aus Pasok und Nea Dimokratia, sowie eine gesellschaftliche Spaltung in Bürgerkriegssieger und Bürgerkriegsverlierer, in Linke und Konservative, kurz, in „wir“ und „die anderen“. Für Thanos Veremis ist es vor allem das Zusammenspiel aus Populismus und Griechenlands vormoderner Gesellschaftsform, das den Weg in die Krise ebnete. Griechenland ist eine segmentierte Gesellschaft, in der die Familie die Instanz ist, die dem Einzelnen Schutz gewährt und seine Existenz sichert. Daher gilt alle Loyalität der Familie, dem Clan, der Sippe. Der Staat ist ein aufgezwungenes Konstrukt, ein fremdes Territorium, das man als Minister, Bürgermeister, Buchhalter betritt, ausplündert und die Beute in den sicheren Hafen der Familie bringt. So erwuchs der Staatsapparat zu einem Koloss. Am Ende implodierte er.

„Der größte Teil des Defizits geht auf die Ausgaben für Beamtengehälter und Renten zurück. Das politische System funktionierte jahrelang so, dass man Leute im Tausch gegen Wählerstimmen zu Staatsbediensteten machte“, sagt Theodoros Pangalos. Der Pasok-Abgeordnete saß 32 Jahre lang im Parlament, hatte ein halbes Dutzend Ministerposten inne und war zuletzt stellvertretender Ministerpräsident. Sein bitteres Fazit: „Wir haben alle zusammen das Geld durchgebracht.“ Eine Äußerung, mit der Pangalos einen Sturm der Entrüstung im Land lostrat, erinnerte er doch an den unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag zwischen der Politikerkaste und den Bürgern. Ähnlich sieht das Christos Lyrintzis, Politikwissenschaftler an der Universität Athen. Patronage, Korruption, politische Grabenkämpfe, eine schwache Zivilgesellschaft, Populismus, ein ineffizienter Staatsapparat und institutionelle und politische Probleme innerhalb der EU und der Euro-Zone haben Lyrintzis zufolge in die Krise geführt. It’s the politics, stupid!

Nun sollen es jene Politiker und Parteien richten, die den Staat an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben. Eine absurde Situation, meint der Journalist Tasos Telloglou. Man müsse sich vorstellen, in der alten Sowjetunion hätte die verkrustete KPdSU eine wirklich freie Marktwirtschaft einführen sollen. Und das auf Befehl von außen. So etwa sei die Lage in Griechenland. In den vergangenen Jahrzehnten wurden immer wieder Versuche unternommen, längst überfällige Reformen durchzuführen, im Renten- und Gesundheitssystem, auf dem Arbeitsmarkt. Doch die Reformen wurden verwässert oder scheiterten. 

Seit 2010 wurden sechs Sparpakte verabschiedet. Gehälter, Renten und Leistungen im Gesundheitswesen wurden mit jedem neuen Paket weiter gekürzt, die Steuern erhöht und neue eingeführt, etliche Vergünstigungen für Staatsangestellte gestrichen, das Rentenalter wurde auf 67 Jahre angehoben, der Kündigungsschutz gelockert, der Mindestlohn reduziert, die Verwaltungsstruktur verschlankt. Die Lohnstückkosten sind gesunken, die Wettbewerbsfähigkeit ist gestiegen und das Leistungsbilanzdefizit nahezu verschwunden. Sparen ist nötig. Wichtiger ist es, Griechenland zu verändern. Und genau da stockt es auf der Reformbaustelle.

Den größten Rückstand gibt es bei den Privatisierungen. Bis 2015 sollten 50 Milliarden Euro durch den Verkauf von Staatsunternehmen und öffentlichen Liegenschaften eingenommen werden. Eine Illusion. Nun ist von 7,2 Milliarden Euro die Rede. Immerhin, das Haushaltsdefizit fällt geringer aus als ursprünglich veranschlagt, und den für 2014 anvisierten Primärüberschuss erreichte Griechenland bereits 2013. In Anbetracht der schweren Rezession eine beachtliche Konsolidierungsleistung.

Bei der Deregulierung dagegen will kein echter Reformwille aufkommen. Rechtsanwälte, Notare, Spediteure, Ingenieure, insgesamt gut 70 Berufsgruppen, sind vom freien Wettbewerb ausgeschlossen. Gewerkschaften und Berufsverbände stemmen sich gegen jede Öffnung. Seit dem Aufstand gegen das Osmanische Reich 1821 ist die Gesellschaft durchdrungen von abertausenden Einzelinteressen, die sich gegen jede nachteilige Änderung stellen.

Die endlose Liste misslungener Reformen zeige die Kraft der Parteien und Interessengruppen, erklärt der Politikwissenschaftler Christos Lyrintzis. Das Zurückfahren des Staates und die Rationalisierung des öffentlichen Dienstes würde den Verlust ihrer Vorteile und ihrer Machtposition bedeuten. Noch drastischer sieht es Tasos Telloglou: „Das derzeitige politische Personal und die real existierende griechische Verwaltung werden das Gesundungsprogramm nicht umsetzen. Sie glauben schlicht und einfach nicht daran. Sie werden höchstens so tun, als wollten sie die Vorgaben erfüllen.“ 

Was den öffentlichen Sektor betrifft, scheint Telloglou Recht zu behalten. Der geplante Stellenabbau ist ein Lippenbekenntnis. 150 000 Planstellen versprach Griechenland bis 2015 zu streichen. Zehntausende Bedienstete gingen seit Ausbruch der Krise in Rente, und hie und da wurden welche entlassen, doch angesichts einer Arbeitslosenquote von 27 Prozent und der traditionellen Rolle des Staates als größter Arbeitgeber scheint der Plan ein Ding der Unmöglichkeit. „Kein Politiker traut sich den Staatssektor zu verkleinern, denn er ist sein Wahlgarant“, meint Thanos Veremis. „Ihn abzubauen, ist politischer Selbstmord.“

2011 verlangte das Finanzministerium von den staatlichen Unternehmen, eine Namensliste mit 10 Prozent ihrer Angestellten vorzulegen. Diese sollten nach einer Übergangsphase entlassen werden. Die Direktoren weigerten sich. Bis heute führen staatliche Betriebe, Ministerien und Ämter ein Eigenleben. Viele des -Betrugs, der Erpressung oder Unterschlagung vor Jahren schon nachweislich überführte Beamte sind noch immer im Amt. In der Justizbehörde und im Ministerium für Verwaltungsreformen scheint man zu schlafen. Wie ist das möglich? 

Nicht reformierbar

Der griechische Staatsapparat sei nicht reformierbar, lautete das Ergebnis einer 2011 veröffentlichen Studie der OECD. Es mangele an Systematik, es fehle an Daten, Fachleuten, Kontrollen. Um die in Jahrzehnten aufgebaute Dysfunktion aufzubrechen, reichten keine vereinzelten Änderungen, es bedürfe einer Big-Bang-Reform. „Man reformierte nur, um die Auflagen der Troika zu erfüllen“, sagt Christos Lyrintzis. Um aber einen echten Wandel herbeizuführen, müssten Regierung und Parteien eigene Pläne entwerfen. Und die existieren nicht, meint der Politikwissenschaftler.

Was Griechenland braucht, sind eine konsequente Finanzpolitik und eine effiziente Finanzverwaltung, die die Steuerhinterziehung wirksam bekämpft. Bis zu 30 Milliarden Euro gehen dem Fiskus jährlich verloren, über die Hälfte davon hinterzogen von Freiberuflern, Ärzten, Ingenieuren, Rechtsanwälten, Politikern. Selbst beim Einziehen von Bußgeldern hapert es. Dabei mangelt es nicht an Gesetzen, sondern an der Umsetzung. Wie also stehen die Chancen für eine wirtschaftliche Erholung? Die Regierung sieht das Ende der Rezession gekommen. Für das kommende Jahr erwartet sie ein Wachstum der Wirtschaftsleistung von 0,6 Prozent. Christos Lyrintzis dagegen blickt weniger optimistisch in die Zukunft. Prognosen und Vorhersagen gleichen eher Wahrsagereien, meint er. Die Mehrzahl der Kommentatoren beurteilt die Situation ähnlich. 

Das Tauziehen zwischen der griechischen Regierung und der Troika ist noch lange nicht vorbei. Zu oft haben sich die Prognosen der an der Krisenbewältigung beteiligten Parteien als falsch herausgestellt. Die Koalitionsregierung von Antonis Samaras verfügt über 153 von 300 Sitzen im Parlament. Sollten weitere Sparmaßnahmen zu Lasten der einfachen Leute umgesetzt werden, kippt sie. Ihr Ende wäre der Anfang einer neuen Phase in der Krise. Tasos Telloglou warnt: „Alle müssen gleichmäßig bluten.“ Gelinge das nicht, werde die Einsicht der Bevölkerung schnell der Wut auf Regierung, EU und IWF weichen.

Erst kürzlich wurden Kontrolleure der Troika von einer aufgebrachten Menge mit Münzen beworfen. Das Wort „Europäische Union“ ist längst zu einem Schimpfwort geworden, für viele Griechen bedeutet es Bevormundung, Knechtschaft, die Verschärfung der Misere. Angela Merkel gegenüber empfinden die meisten Wut- und Hassgefühle. Sie ist die hitlerschnurrbärtige Personifizierung des Bösen, verantwortlich für die Verarmung einer ganzen Nation. Christos Lyrintzis hat für diese Wut eine Erklärung: Die Bevölkerung war auf die Krise völlig unvorbereitet. Sie kam wie ein Schock. Innerhalb kürzester Zeit verlor die Gesellschaft alle Gewissheiten – und ihre alten Gewohnheiten.

Richard Fraunberger lebt seit 2001 in Griechenland und schreibt u.a. für ZEIT, SZ, GEO und Mare. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 58-61

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