Auswärts punkten
Angesichts wirtschaftlicher Stagnation und Konsumflaute setzt Tokio verstärkt auf Export und Auslandsinvestitionen. Doch die Konkurrenz in der Region schläft nicht, und das Verhältnis zum Haupthandelspartner China bleibt gespannt. Kein Wunder, dass man sich wieder Richtung Amerika und Europa orientiert – auch Deutschland sollte mit Japan rechnen.
Hat Japan sich – mit einigen Ausnahmen wie der Automobilindustrie – vom Weltmarkt zurückgezogen? Fast könnte man diesen Eindruck gewinnen. Nippons Anteil an den Weltexporten hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten halbiert und beträgt nur noch knapp 5 Prozent. Da im gleichen Zeitraum der Anteil der Exporte am BIP allerdings relativ stabil geblieben ist – exportierte man in den neunziger Jahren rund 10 Prozent des BIP, so sind es heute etwa 15 Prozent – zeigt der Rückgang vor allem eins: den relativen wirtschaftlichen Bedeutungsverlust Japans in einer Region aufstrebender Länder wie China.
Denn innerhalb Japans sieht das ganz anders aus. Es sind die Exporteure, allen voran die der Automobil-, Elektro- und Maschinenbauindustrie, die regelmäßig rund 50 Prozent zum gesamten Wirtschaftswachstum beitragen. Wenn man nicht nur die Nettoexporte, sondern die Gesamtexporte betrachtet, geht sogar der größte Teil des Produktionswachstums auf die Exporte zurück. Dagegen muss der hochverschuldete japanische Staat sparen, die Bestandsinvestitionen der Unternehmen im Inland tragen schon seit Jahrzehnten kaum noch zum Wachstum bei, und die alternde Bevölkerung hält sich beim Konsum zurück. So setzt Premier Shinzo Abe in seinen „Abenomics“ vor allem auf den Export. Die Mittel dazu sind ein schwacher Wechselkurs, das Vorantreiben von Freihandelsabkommen und eine Verbesserung der Beziehungen insbesondere zu den südostasiatischen Partnerländern (ASEAN). Zwar bemüht sich die Regierung gleichzeitig darum, durch Strukturreformen im Gesundheitssystem, beim Handel und auf dem Arbeitsmarkt neue und dynamischere nationale Märkte zu schaffen. Doch die Widerstände gegen einschneidende Reformen sind in dieser rasch alternden Gesellschaft groß, und Erfolge beim Versuch, den negativen demografischen Trend zu stoppen, sind nicht in Sicht.
Vom Exporteur zum Investor
Neben der Exporttätigkeit hat sich Japans Industrie im Verlaufe des vergangenen Jahrzehnts zu einem der größten Investoren in Asien entwickelt. In einer ersten Welle in den neunziger Jahren, als es den Unternehmen nach Japans großer Finanzkrise vor allem darum gehen musste, die Kosten zu senken, setzten sie stark auf ein „Offshoring“ in die asiatischen Billiglohnländer.
Dadurch gelang es, den Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP um 10 Prozentpunkte auf nur noch 17 Prozent heute zu drücken (während der Anteil in Deutschland bei etwa 23 Prozent relativ stabil blieb). In Japan fielen die Lohnstückkosten damit über 20 Jahre fast kontinuierlich. Japan ist den Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft deutlich schneller gegangen als Deutschland, das mit der erfolgreichen Stabilisierung der Industrieproduktion weiterhin auf immer höhere Exporte setzen muss.
Schon während der wirtschaftlichen Erholung ab dem Jahr 2003 zogen daher die japanischen Auslandseinkommen deutlich stärker an als die Exporte, was das Engagement der Unternehmen weiter befeuerte. In dieser zweiten Welle der Auslandsinvestition verschob sich der Blick vom reinen „Cost Cutting“ zur Investition in Zukunftsmärkte. Ein großer Teil dieser Investitionen wanderte nach China, das als fast ideales Komplement zum japanischen Markt erschien: ein hoher Technologie- und Kapitalbedarf in einem wachsenden, (relativ) wohlregulierten Markt mit niedrigen Preisen.
Mit den wachsenden Spannungen sowohl in den bilateralen Beziehungen als auch innerhalb der chinesischen Märkte ab Mitte des Jahrzehnts erschien eine allzu einseitige Ausrichtung auf China jedoch riskant. „China+1“-Strategien mit forcierten Investitionen in die südostasiatischen Märkte, vor allem in die sich schnell öffnenden „VIP“-Länder (Vietnam, Indonesien, Philippinen), erschienen als sinnvolle Alternative.
Doch die Binnenmärkte der meisten ASEAN-Länder sind vergleichsweise überschaubar, und die Unternehmen haben hier mit erheblichen Problemen zu kämpfen – von der Korruption bis hin zu Infrastrukturschwierigkeiten. Hinzu kommt, dass praktisch alle ASEAN-Länder in wachsendem Maße von Exporten auf den großen chinesischen Markt abhängen, was eine Diversifikation der Investitionen nur beschränkt möglich macht. Der Blick bleibt also auf den „Greater China“-Markt gerichtet. Ein Markt, der sich schon lange nicht mehr auf die direkte Einflusszone Chinas in Hongkong und Taiwan beschränkt, sondern inzwischen auch Länder wie Südkorea umfasst.
Die dritte und wahrscheinlich größte Investitionswelle konzentriert sich weniger auf Länder als vielmehr auf Marktsegmente. Ein wichtiger Zielmarkt sind die überall in Asien entstehenden Megastädte, die in mancherlei Hinsicht dem Vorbild Tokios (einer Megastadt mit 35 Millionen Einwohnern und dem BIP Frankreichs) folgen. Hier ähneln sich Strukturen, Einkommen und Nachfrageverhalten bereits sehr, egal ob man sich in Schanghai, Bangkok oder Jakarta befindet. Auch die führenden japanischen Unternehmen sind inzwischen andere. Natürlich dominieren weiterhin die japanischen Autobauer die Märkte in Thailand und Indonesien, doch neben die Hersteller sind die Dienstleistungsunternehmen getreten: in der Telekommunikation, im Handel, in der Logistik und in der Gastronomie.
Schwieriger Partner Peking
Im Gegensatz zu Japan hat Deutschland die große Bedeutung seiner direkten Auslandsmärkte bereits vor Jahrzehnten akzeptiert und systematisch Integration und Globalisierung (bis hin zur Aufgabe der D-Mark) innerhalb der EU vorangetrieben. Für Japan wäre dies, selbst bei ausgeprägtem politischen Willen, in einem Umfeld äußerst unterschiedlich strukturierter Schwellenländer natürlich deutlich schwieriger. Hinzu kommt, dass Japan in Asien zwar noch bis ins vergangene Jahrzehnt der bei weitem größte Exporteur, Investor und Entwicklungshilfegeber war, dass es inzwischen aber hinter China, die künftig größte Volkswirtschaft der Welt, zurückfällt.
Nicht unbedingt einfacher wird es dadurch, dass China, anders als Japans vorheriges Hauptabsatz- und Investitionsland USA, nicht nur Handelspartner ist, sondern gleichzeitig Konkurrent und, vor allem, politischer Widersacher. Da China ein ähnliches Entwicklungsmodell wie Japan gewählt hat, das auf extrem hohe Spar- und Investitionsquoten bei regionaler Konzentration in einigen urbanen Megaregionen entlang der Küste setzt, benötigt es zwar japanische Technologie, aber eben nur wenig von dem Kapital und den verarbeiteten Produkten, auf die Japan sich spezialisiert hat. So bleibt der Umfang des japanischen Austauschs mit seinem neuen wichtigsten Handelspartner auch weit hinter den Möglichkeiten zurück. Japan exportiert heute nur geringfügig mehr nach China als vor 20 Jahren in die USA. Umgekehrt ist Japan nicht mehr das Hauptimportland Chinas, sondern nur noch die Nummer zwei hinter dem kleinen Südkorea und nur knapp vor den USA sowie, mit etwas Abstand, Deutschland.
Die Verschiebung der Handelsbeziehungen in Asien dürfte sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen. Denn im gleichen Maße, wie sich das Wachstum in China verlangsamt und die Investitionen zurückgehen, nimmt die chinesische Exportindustrie Asien ins Visier und verdrängt japanische Produkte und Investitionen auf Schlüsselmärkten wie Vietnam. Auch die chinesischen Kapitalexporte werden steigen, denn China muss seine enormen Währungsreserven, die es während der Hochwachstumsphase aufgebaut hat, „recyclen“. China entwickelt sich damit rasant vom Hauptimporteur der Vorprodukte ganz Asiens zum Exporteur von Maschinen und Investor in Infrastrukturprojekte (Bahnen, Häfen, Straßen) von bisher unvorstellbarer Größe.
Stockende Integration
Im Zuge dieser Entwicklungen verfolgen sowohl China als auch Japan die Integrationsbemühungen der ASEAN-Gruppe mit wachsendem Interesse. Ein großer Schritt nach vorne, der vor allem von japanischer Seite stark unterstützt wird, könnte die für dieses Jahr geplante ASEAN Economic Community (AEC) sein. Hierbei geht es um ein Projekt der wirtschaftlichen Integration nach EU-Vorbild, das bereits in einem ersten Schritt wesentlich mehr als eine reine Zollunion umfasst. Die Länder wollen neben dem schon weitgehend umgesetzten Abbau der inneren Zölle vor allem das Investitionsumfeld durch bessere Regulierungen und Infrastrukturmaßnahmen stärken.
Die Hoffnungen auf einen Erfolg sind allerdings begrenzt. Denn der Wille, tatsächlich zu einer koordinierten Handelsregulierung, Infrastruktur- und Außenpolitik zu gelangen, hat auch immer mit dem Verhältnis zum hegemonialen China zu tun. Und wenngleich ein Gefühl der Bedrohung durch China besteht, so bleibt das Reich der Mitte eben auch der größte Absatzmarkt. Wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie der gemeinsame Ausbau von Häfen, elektronische Zollverfahren und eine Regulation des Luftverkehrs scheitern zudem an den Oligarchien in den binnenwirtschaftlich orientierten Ländern Philippinen und Indonesien, die eine wachsende Konkurrenz fürchten.
Entwicklungen verschlafen
Die gegenwärtige Erholung der japanischen Wirtschaft auf der Grundlage einer dezidiert expansiven Wirtschaftspolitik hat gezeigt, dass Wachstum in Japan auch in Zukunft stark von Außenwirtschaftserfolgen abhängen wird. Das hat damit zu tun, dass Strukturreformen zur Ankurbelung des nationalen Marktes immer wieder an den besonderen strukturellen Hemmnissen einer alternden Gesellschaft scheitern; das hat aber auch damit zu tun, dass eine einseitige Schwächung des Yen dafür nicht mehr ausreicht. Denn die großen japanischen Unternehmen haben bereits große Teile ihrer Produktion in die Nähe ihrer Zukunftsmärkte verlegt, und die heimischen Unternehmen haben im Hochinvestitionsumfeld Asiens stark an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.
Hinzu kommt, dass der enorme Preisdruck, vor allem aufgrund des scharfen Wettbewerbs in der Elektronikindustrie, dafür gesorgt hat, dass die Produkte sowohl Japans als auch Südkoreas über ein Jahrzehnt hinweg immer billiger wurden. Ein Land wie Deutschland dagegen konnte dank des Euro-Raumes die Preise praktisch stabil halten, und die USA vermochten es sogar, spiegelbildlich zum lange fallenden realen Wechselkurs des Dollars immer höhere Preise für ihre Produkte zu erzielen.
In mancherlei Hinsicht hat es sich inzwischen gerächt, dass sich japanische Unternehmen so stark auf den asiatischen Raum konzentriert haben. Um den Investitionsstau zu überwinden, fassen viele Unternehmen, die nach erfolgreich umgesetzten Restrukturierungsmaßnahmen im Inland auf Barreserven von fast der Hälfte ihrer Börsenwerte zurückgreifen können, daher auch wieder größere Engagements in den USA und in Europa ins Auge. In Richtung Amerika fallen Investitionsinitiativen wegen des starken Dollars und des relativ hohen Wirtschaftswachstums derzeit leicht.
Viele Unternehmen haben jedoch während der langen Phase des „Cost Cutting“ und der Schwellenländerinvestitionen eine Reihe wichtiger Entwicklungen besonders in Sachen IT verschlafen und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Wesentliche Trends („Internet of Things and Services“) werden hier in den USA gesetzt und bilden die Grundlage für Geschäfte in Asien. Da sich umgekehrt auch die USA wieder verstärkt in Richtung des asiatischen Marktes orientieren, dürfte einer verstärkten bilateralen Zusammenarbeit in den kommenden Jahren nichts im Wege stehen.
So gewinnen die Verhandlungen über eine „Trans Pacific Partnership“ (TPP) mit den USA, zentrales Element des dritten Pfeils der „Abenomics“, derzeit wieder an Fahrt. Das macht die Verhandlungen nicht leichter, denn die öffentliche Aufmerksamkeit ist groß und jeder Schritt wird skeptisch beobachtet. Neben den Handelsliberalisierungen würde die angestrebte weitgehende Deregulierung wesentlicher Dienstleistungen bei Versicherungen, Gesundheit und Handel einen erheblichen Reformschub für Japan bedeuten. Striktere Regeln in Sachen Schutz- und Urheberrecht in Kombination mit umfassenden Mechanismen bei den Schiedsverfahren zwischen Investoren und Staaten wiederum dürften die Integration in Asien entscheidend voranbringen.
Erhebliches Potenzial
In ähnlicher Weise spiegelt sich der Stand der Beziehungen zu Europa in den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU wider. Die Verhandlungen sind hier wesentlich zügiger und konfliktfreier verlaufen, was auch daran liegt, dass die Ziele vor allem im engeren handelspolitischen Bereich angesiedelt sind. Niedrigere Zölle in Europa hätten einen sofortigen Effekt auf die Industrie, denn im Unterschied zum Dollar-Raum produziert Japan in Europa nur wenig und wird daher von hohen EU-Zöllen wesentlich härter getroffen als in den USA.
Gleichzeitig sind bei diesen Verhandlungen neben einigen Liberalisierungen im nichttarifären Bereich keine umfassenden Restrukturierungen wie im Falle von TPP erforderlich, was ihre politische Brisanz mindert. So wurden die Verhandlungen mit der EU bisher ohne viel öffentliche Beachtung durch das japanische Wirtschafts-, Industrie- und Handelsministerium und die Verbände vorangetrieben. Allerdings werden sie zurzeit durch die TPP-Verhandlungen blockiert. Das dürfte sich jedoch bald wieder ändern – und zwar unabhängig davon, wie die TPP-Verhandlungen letztlich ausgehen. Denn TPP-Reformen hätten nur sehr langfristige Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit, während ein besserer Marktzugang in Europa sich unmittelbar auf die Kosten der Unternehmen auswirken würde.
Da die Marktanteile japanischer Unternehmen in Europa nach wie vor überschaubar sind und bei einer Erholung Europas noch erhebliches Potenzial hätten, bleibt der Druck auf die Regierung, hier Erfolge zu erzielen, hoch. Umgekehrt treffen Unternehmen besonders aus Deutschland in Asien auf ein immer engagierteres Japan, insbesondere im „Greater China“-Markt Südostasiens. Auch in Deutschland wird man daher beim Blick auf zukunftsorientierte Wachstumsstrategien in Asien verstärkt Japan in sein Kalkül einbeziehen müssen.
Dr. Martin Schulz ist Senior Research Fellow am Fujitsu Research Institute in Tokio.
IP-Länderporträt 1, März-Juni 2015, S. 44-51