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01. Mai 2016

Auf dem Weg zu Neu-Moskowien

Die Westorientierung der Ukraine ist für Russland eine geopolitische Tragödie

Der Verlust von Kiew, das seinen Teil zur nationalen Gründungsgeschichte Russlands beitrug, bedeutet für Moskau alles andere als den Verlust einer „Kolonie“: Das Land merkt, dass es stirbt, und versucht, mit fast schon wahnsinnigen Schritten, seine Identität zu retten. Die endgültige Abkehr vom Westen führt zurück in ein Moskowiter Kleinreich.

Als „erste postkoloniale Revolution“ hat Ilja Gerasimow in seinem provokanten gleichnamigen Essay (Aspen Review Central Europe, 3/2015) den Kiewer Maidan von 2014 und seine Folgen bezeichnet, um damit die Einzigartigkeit der Geschehnisse jener Tage in dem großen postsowjetischen Staat zu betonen. Zwar pflichte ich vielen seiner Argumente bei, halte aber zugleich den Begriff „postkolonial“ für extrem irreführend.

Für den Autor scheint „postkolonial“ etwas von Grund auf anderes als „antikolonial“ zu sein: Während letzterer Begriff den Kampf unterdrückter Völker um Befreiung und Unabhängigkeit – vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – meint, wird mit ersterem eine soziale Bewegung beschrieben, die in einem bereits souveränen oder quasisouveränen Land entstanden ist. So oder so geht es um „Kolonialismus“. Aber war die Ukraine eine Kolonie?

Hier ist man bereits am strittigsten Punkt der gesamten postsowjetischen Geschichte angelangt: Nach Auflösung der Sowjetunion bedauerten die Russen natürlich das Verschwinden des gigantischen Landes, hegten aber ganz unterschiedliche Gefühle, was die verschiedenen Teile des früheren Imperiums betraf. Soweit ich erinnere, weinte niemand um den Verlust unserer tadschikischen oder kirgisischen „Brüder“, die sich von Russland abspalteten und plötzlich unabhängige Nationen wurden. Man versuchte auch nicht, die Balten zurückzuholen, die ihre souveränen, in den frühen vierziger Jahren von den Sowjets einverleibten Staaten wiederherstellten.

Sogar als das neue, „unabhängige“ Russland 1994 den Krieg mit Tschetschenien – seiner Splitterrepublik – begann, schien das Gros der Russen eher bereit, den Tschetschenen Autonomie zu gewähren, anstatt ihren Verbleib innerhalb der neuen Russischen Föderation zu erzwingen. Zugleich glaubte aber der Großteil der Bevölkerung immer noch an eine Art Einheit sowohl mit Weißrussland als auch der Ukraine – mit zwei Republiken also, deren Bewohner nicht so sehr als Teil des sowjetischen, sondern als Teil des russischen Volkes angesehen wurden.

Das Problem wurde 1996 teilweise gelöst, als Moskau und Minsk den Vertrag zur Schaffung der „Russisch-Weißrussischen Union“ unterzeichneten, den Bürgern beider Länder gleiche Rechte gewährten und alle Grenzkontrollen und Zollschranken abschafften. Im Fall der Ukraine liefen die Dinge aber in eine ganz andere Richtung: Die Republik – regiert nicht vom „letzten Diktator Europas“, sondern von demokratisch gewählten Führungen – versuchte, näher an die Europäische Union heranzurücken. Der proeuropäische Schwenk der Ukraine wurde 2004 überdeutlich sichtbar, als Tausende Menschen zum Maidan strömten, um gegen manipulierte Wahlen zu protestieren, die einen Moskau genehmen Präsidenten ins Amt bringen sollten. Seitdem war offensichtlich, dass Moskaus größte Sorge Kiew galt: Für die Russen war die Ukraine ein Teil von Russland, während die Ukrainer bereit waren zu beweisen, dass sie das nicht waren. Bis heute spricht die russische Politikelite von der Ukraine als souveränem, aber nicht als unabhängigem Land.

Warum führte der Zusammenbruch der Sowjetunion zu so unterschiedlichen Haltungen zu verschiedenen Teilen des früheren Imperiums? Um das zu beantworten, ist ein tieferer Blick in die Geschichte und Eigenart des russischen Staates nötig. Dieser war definitiv Mutterland eines gewaltigen kolonialen Imperiums. Doch es gibt große Unterschiede zu den anderen europäischen Kolonialmächten.

Kein Ableger in Übersee

Russlands Kolonie Sibirien, ein unermessliches Land, das den ganzen Raum östlich des Urals bis hin zum Pazifik umfasst, entstand als integraler Teil des Landes und nicht als Ableger für Siedler in Übersee. Wie die europäischen Mächte erlebte Russland zwei Phasen der Expansion. Die erste war ähnlich derer, die die Briten und Franzosen im 17. Jahrhundert in Nordamerika vollzogen, und führte zu einer Siedlerkolonie im östlichen Eurasien. Im 19. Jahrhundert, während die anderen Europäer über Seelinien nach Afrika und Asien ausgriffen, begannen die Russen mit ihrem Vorstoß nach Süden ihrerseits eine zweite, stärker militärisch geprägte expansionistische Welle. Zu dieser Zeit eroberten sie den Nordkaukasus und die meisten Teile Zentralasiens.

Der Unterschied zwischen den Unternehmungen war klar: Während es die Russen in Sibirien (genauso wie die Briten und Franzosen in Nordamerika) bald schafften, eine dominante ethnische Gruppe in den eroberten Gebieten zu bilden, geschah das weder im Kaukasus noch in Zentralasien – so wie die Europäer auch nie zur ethnischen Mehrheit in ihren afrikanischen und asiatischen Kolonien wurden. Am Ende verband das russische Imperium als einziges der Welt koloniale Expansionen des 16./17. Jahrhunderts und des 19. Jahrhunderts in einem einzigen Staatsgebiet.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb die größte Siedlerkolonie intakt. Verloren wurden die „Eroberungen ohne russische Mehrheit“, was erklären mag, warum sich der Schmerz darüber in Grenzen hielt. Natürlich erlebte Russland einen immensen Migrationsstrom aus den früheren sowjetischen Republiken im Kaukasus und in Zentralasien. Doch dies trug noch zum Gefühl der Russen bei, dass diese Länder für Russland unbedeutend wären. Das ähnelt dem Beispiel Frankreichs und Algeriens nach den sechziger Jahren: Russen würden heute keinen der zentralasiatischen Staaten als historischen Teil ihres Landes bezeichnen, so wie nur wenige Franzosen sich wieder mit Algerien vereinigen wollten.

Hinzu kommt: Historisch gesehen ist das russische Mutterland Ergebnis einer langen Serie von Kriegen und politischen Auseinandersetzungen. Eigentlich bestand dieses aus drei unverkennbaren Teilen: Der erste war die nordwestliche Rus, die als Staat der Wikinger im 9. Jahrhundert etabliert wurde. Sie wurde im 13. Jahrhundert von mongolischer Eroberung verschont und tatsächlich für eine lange Zeit als Republik regiert. Der zweite Bestandteil war die Kiewer Rus, die zum politischen und spirituellen Zentrum der russischen Kultur wurde. Dort wurden im Jahr 988 die ersten Russen getauft, dort entstand auch das Kiewer Erzbistum, das sich später zur russisch-orthodoxen Kirche entwickelte. Erst an dritter Stelle folgte die Wladimirer Rus, die sich als Besitztum jüngerer Prinzen ausbildete und im 13. Jahrhundert – einhergehend mit dem Abstieg Kiews – seine Unabhängigkeit erlangte.

Nach dem Einfall der Mongolen gingen diese drei Teile Prä-Russlands verschiedene Wege: Das Großfürstentum Moskau entwickelte sich zum hoch zentralisierten Staat, der es schaffte, gegen Ende des 14. Jahrhunderts das mongolische Joch abzuwerfen. Der Hauptteil des im Verfall begriffenen Kiewer Teils ging an Polen und das Herzogtum von Litauen über, während Nowgorod und Pskow ihre republikanische Regierung beibehielten. Nachdem der Moskauer Zar Iwan III. Nowgorod 1478 erobert hatte und die Kosaken von Saporisch­schja 1654 baten, unter Moskauer Souveränität gestellt zu werden, waren alle drei Zentren Russlands historischer Staatlichkeit vereint. Es ist kein Zufall, dass das Wort „Russland“ ab dem 16. Jahrhundert Einzug in den Sprach­gebrauch hielt, als die „Rückeroberung“ begann; mit der Errichtung des Russischen Reiches 1721 wurde es dann offiziell eingeführt.

Der Verlust der „Mutter aller russischen Städte“

Die „ukrainische Frage“ ist für das heutige Russland deshalb so wichtig, weil die Ukraine als struktureller Bestandteil Russlands gilt – als „natürlicher“ Teil des Mutterlands und eben nicht als Kolonie. Dass die Ukraine mit ihrer Unabhängigkeit einen viel prowestlicheren Kurs einschlug als erwartet, liegt wiederum daran, dass bestimmte Teile des Landes unterschiedliche Identitäten haben. Manche Landesteile sind von russischen Oblasten nicht zu unterscheiden, andere fußen dagegen auf den gleichen historischen Fundamenten wie Polen oder die Slowakei. So „natürlich“ vor diesem Hintergrund die proeuropäische Wende der Ukraine erscheinen mag, so darf man doch nicht vergessen, wie gewöhnungsbedürftig es für viele Russen ist, dass Kiew als „die Mutter aller russischen Städte“ nun eine europäische Hauptstadt sein soll. ­Somit waren die Kiewer Geschehnisse schwerlich eine „postkoloniale Revolution“: Russland verlor in den neunziger Jahren „Besitzungen“, aber keine Kolonien, und weinte ihnen kaum eine Träne nach. Viele Russen meinten sogar, es sei von Vorteil, die Bezuschussung der Ränder der früheren Union aufzugeben (und der wirtschaftliche Absturz vieler ehemaliger Sowjetrepubliken in der Zeit danach gab ihnen recht). Nach 1991 behielt Russland seine einzige Kolonie, nämlich Sibirien. Und man war überzeugt, dass es auch seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheit mit der Ukraine und mit Weißrussland würde fortsetzen können. Dass die Ukraine sich dem Westen zuwendet, wird von vielen Russen als Verrat verstanden. Wie sehr man die Ukraine als kulturell-historischen Bestandteil Russlands sieht, zeigt sich in der Antwort, die Wladimir Putin 2011 auf die Frage gab, was denn die Sowjetunion gewesen sei: „Das Gleiche wie Russland, nur anders genannt.“

Der Aufbruch der Ukraine bringt für Russland zwei gewaltige Probleme mit sich: Die Rus war seit ihrem Anfang ein europäischer Staat; gegründet durch die Wikinger, christianisiert durch die Byzantiner und einbezogen in den Handel Europas. Sie wurde weniger europäisch, als sich ihr Zentrum vom Dnepr zur Kljasma verlagerte und noch viel weniger, nachdem sie durch die Mongolen unterworfen wurde. Aber seit dem 14. Jahrhundert versuchte Russland, seinen Zugang zu Europa wiederzuerlangen. Am Ende des 20. Jahrhunderts verlor ein Russland, das europäisierter und „verwestlichter“ als je zuvor in seiner Geschichte war, all seine westlichen Gebiete – und nicht nur relativ fremde Länder wie die baltischen Staaten oder Moldawien, sondern auch die Ukraine. Es hatte einen Grund, warum Russland nach der orangenen Revolution in der Ukraine isolierter und konservativer wurde. Ohne die Ukraine führt der Weg zurück in die Zeit vor 1654: in ein entlegenes, insgesamt eher nichteuropäisches Zarentum.

Heute besitzt Russland mehr Landmassen im Osten als im frühen 17. Jahrhundert und es hängt von diesen auch viel stärker ab. Ein von Europa abgewandtes Russland hätte eine Zukunft. Aber nur die eines Moskauer Großfürstentums. Hierin gründet sich wohl die russische Sorge: Sowohl die Führungsebenen als auch das Volk haben verstanden, dass ihnen mit dem Verlust der Ukraine ein maßgeblicher Teil ihrer Identität, ihrer historischen Einheit abhanden kommt. Das könnte Russlands gegenwärtige Verrücktheit erklären. Man hat plötzlich verstanden, dass man nicht eines ausländischen Besitztums, sondern des Landes beraubt wird. Deshalb versucht die Moskauer Elite heute, die Menschen um die „orthodoxen Werte“ oder das „eurasische Projekt“ zu versammeln. Beides verschließt den Überbleibseln des historischen Russlands die europäische Perspektive.

Der Aufbruch der Ukraine gen Westen birgt ein weiteres großes Problem. Russland steht vor ganz anderen Herausforderungen als früher. Im Zeitalter der Expansion eroberten die Russen weite Teile Sibiriens und Zentralasiens in dem Glauben, dass sie das eurasische „Herzland“ kontrollierten, von dem der Kurs der Geschichte abhing. Russland etablierte sich als kontinentale Macht; die Europäer gründeten ihre Imperien seewärts. Die Ukraine war, und ist es heute noch, eine Brücke zwischen dem landumschlossenen Moskauer Raum und dem seewärts orientierten Europa. Sieht man sich die so genannte „Eurasische Union“ an, die Russland aufzubauen versucht, wird man feststellen, dass diese Union außer Russland nur Nationen umfasst, die keinen Meerzugang haben: Weißrussland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Armenien. In den kommenden Jahrzehnten wird Moskau Milliarden investieren, um Kommunikationswege innerhalb dieser landumschlossenen Umgebung zu entwickeln und um Straßen oder Eisenbahnlinien zu bauen, die nie so konkurrenzfähig sein werden wie die großen modernen Seewege. Das Abrücken der Ukraine verwandelt also nicht nur Russland zurück in ein Moskauer Großfürstentum, sondern führt auch den Staat zurück ins Mittelalter, als Territorium als Hauptvermögenswert galt – obwohl es heute eigentlich als seine größte Belastung erscheint. In jedem Fall: Russland sieht immer rückwärtsgewandter und überholter aus.

Der Grund für verrückte Schachzüge

Meines Erachtens ist der Bruch zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine eine echte „geopolitische Tragödie“, die Russlands historische Wurzeln untergräbt. Aus dieser Tragödie erklären sich Russlands unverantwortliche Schachzüge, nicht aus der Sorge über die auf der Krim oder in der östlichen Ukraine lebenden Russen. Russland spürt, dass es stirbt, und es wird deshalb verrückt und bricht alle internationalen Regeln und Gesetze in dem Versuch, seine in Auflösung begriffene Identität zu bewahren. Was entsteht, ist tatsächlich ein neues „Moskowien“. Ein vollkommen neuer Staat, der für Jahrzehnte die eurasische Politik bestimmen wird.

Zugleich glaube ich nicht, dass Russland die ukrainische Hinwendung nach Europa wird stoppen können. Dafür müsste es wohl einen Krieg nicht nur mit der Ukraine, sondern auch mit NATO-Staaten beginnen. Deshalb wird es lieber Neu-Moskowien bleiben, mit eigenem Zugang zu den Weltmeeren, mit rückeroberter Krim, aber ostwärts ausgerichtet und mit China als Verbündetem.

Das neue Moskowien wird ein einzigartiges Konstrukt sein: Erstens wird das Mutterland zu einem gewaltigen Ausmaß von seiner Siedlerkolonie abhängen. 2014 stand Sibirien für 75 Prozent des Territoriums der Russischen Föderation, für 20,5 Prozent seiner Bevölkerung und etwa 78 Prozent der Exporte (im Russischen Reich lagen die Werte 1897 bei 52, 7,5 und 19 Prozent). Vergleicht man das wirtschaftliche Gewicht Zentralrusslands und Sibiriens, so ließen sich Parallelen ziehen zum heutigen Portugal und Brasilien. Wären diese Länder immer noch vereint, als eine Art PortuBras, sähen sie so aus wie das heutige Russland. Niemand weiß (oder kann sich vorstellen), wie stabil ein Land im 21. Jahrhundert sein kann, in dem drei Viertel seiner Bevölkerung sich des natürlichen Wohlstands bedienen, den einige wenige in vor langer Zeit kolonisierten Gebieten ermöglichten.

Zweitens wird das neue Moskowien anders aussehen als das alte. Statt sich von Konstantinopel oder gar Rom abzuleiten, wird es das „Eurasische“ seiner Identität betonen und sich damit auf die Unterschiede anstatt auf die Gemeinsamkeiten mit Europa konzentrieren. Neu-Moskowien, gestützt auf seine sibirischen Reichtümer, wird sich an China als Haupthandelspartner und politischen Unterstützer orientieren und auch an Zentralasien, wo es vielleicht einige Juniorpartner finden wird. In jedem Fall wird es noch autoritärer werden als das heutige Russland und die liberale Demokratie als lästigen Teil des europäischen Erbes betrachten. Die östlichen Grenzen der EU würden dann zur wesentlichen Trennlinie des neuen Jahrtausends.

Drittens wird eine solche Entwicklung alle Versuche, Russland zu modernisieren, im Keim ersticken. Modernisierung heißt Verwestlichung, und diese wird strikt abgelehnt. Zudem wird in einer Autokratie von liberaler Wirtschaft und privatem Unternehmertum nicht mehr viel übrig bleiben. Die staatsgelenkte Wirtschaft eines Landes dieser Größe kann nur noch eine Rohstoffwirtschaft sein. Mit dem Rückzug auf ein Neu-Moskowien wird Russland daher wohl seine Spezialisierung als Ressourcenwirtschaft ausbauen – womöglich samt Umorientierung seiner Lieferketten von Europa nach China und dem aufstrebenden Asien.

All dies klingt nicht erfreulich. Aber dies könnte der Preis dafür sein, sich nicht nach Westen orientiert zu haben, für den europäisch-russischen Konflikt um die Ukraine, für das wiedererstarkte Gefühl russischer Einzigartigkeit. Russland wäre das erste europäische Land, das sich von Europa abwendet. Wäre dies unvermeidbar, sollten wir die europäische Wahl der Ukraine feiern und unseren ukrainischen Brüdern nur alles Gute für ihre Reise Richtung Westen wünschen.

Yulia Zhuchkova promoviert an der Universität Tomsk zu den Beziehungen zwischen der EU und Russland. 2014 war sie Egon Bahr Fellow der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2016, S. 38-43

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