Interview

01. Nov. 2020

„Auch nichtdemokratische Regime lieben den Appell an Gefühle“

Von verletzten Ehrgefühlen als Kriegsgrund, Männerfreundschaften in der Außenpolitik und der Frage, ob Staaten Emotionen haben.

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Bild: Porträt Ute Frevert
Prof. Dr. Ute Frevert ist Historikerin. Ihre Forschungsgebiete sind Neuere und Neueste Geschichte sowie Sozial- und Geschlechtergeschichte. Seit Januar 2008 ist sie Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ihr neues Buch heißt „Mächtige Gefühle. Deutsche Geschichte seit 1900“ (S. Fischer).
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IP: Frau Frevert, Politik, zumal Außen- und internationale Politik, wird oft als ausschließlich interessengeleitet, sachlich und emotionslos beschrieben. Was halten Sie davon?

Ute Frevert: „Interessengeleitet“ und „emotionslos“, dieses Begriffspaar gibt zu denken und zu zweifeln. Wie bilden sich denn Interessen? Spielen dabei Gefühle etwa keine Rolle? „Machtgier“ und „Habgier“ sind zwei Interessen, die die auswärtige Politik von Staaten jahrhundertelang bestimmt haben und die heute noch wirksam sind. Darin steckt, wie der Begriff „Gier“ signalisiert, sehr viel Gemütsbewegung (das deutsche Wort für Emotion). Wer das übersieht, verfällt einer Fehldeutung, die bereits im 19. Jahrhundert aktenkundig war. Man unterschied gern „Realpolitik“ von „Gefühlspolitik“, wobei man unter Gefühlspolitik eine von persönlichen Sympathien und Antipathien (des Monarchen) beeinflusste Außenpolitik verstand.

Wenn Gefühle vor allem individuell sind, wie können ganze Gruppen oder Konstrukte wie Staaten Gefühle haben?

Menschen fühlen als Einzelne, mit ihrem Körper und allen daran gebundenen Sinnen. Das heißt aber nicht, dass ihre Gefühle individuell sind und bleiben. Menschen leben in Gesellschaften, und Gesellschaften sozialisieren, habitualisieren, bewerten und synchronisieren Gefühle. Sie legen sie nicht nur Einzelnen nahe, sondern sozialen Gruppen, Geschlechtern, Alterskohorten etc. Das geschieht durch institutionelle Einwirkung, aber es geschieht auch bottom up. Kollektive können sich durch geteilte Gefühle bilden, wenn etwa die Angst vor einem Atomkrieg eine machtvolle soziale Bewegung initiiert.

Und die Staaten?

Das ist so eine eigene Sache. Der Staat, wie er in der Frühen Neuzeit entstand, ist ja zunächst einmal eine abstrakte Vorstellung. Zugleich aber reichert sich diese Vorstellung von Anfang an mit Körperbildern an, man denke nur an Hobbes’ Leviathan und das berühmte Frontispiz. Lebendige, „organische“ Körper aber können fühlen. Und deshalb hat man, ebenfalls von Anfang an, auch Staaten Gefühle zugeschrieben: Ehrgefühle zum Beispiel, und Gefühle des Beleidigtseins. Staaten können aber auch „befreundet“ sein und freundschaftliche Gefühle füreinander hegen, sie können ver- oder misstrauen.

Verändern Staaten diese Gefühle? Gibt es eine Art Wesenskern?

Um bei der Ehre zu bleiben: Sie ist ein Dauerbrenner der Staatstheorie und politischen Praxis. Wir finden sie im Völkerrecht des 18. Jahrhunderts kodifiziert, das 19. und frühe 20. Jahrhundert haben sie in alle Richtungen ausbuchstabiert, selbst heute wird sie immer wieder bemüht, wenn es um die internationale Durchsetzung von Achtungsansprüchen geht. Schauen Sie sich nur den Beginn des Ersten Weltkriegs an: Alle Beteiligten beriefen sich auf ihre angeblich verletzte Ehre und leiteten daraus die Berechtigung und Notwendigkeit ab, gegeneinander Krieg zu führen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es, zumindest in Europa, stiller um die staatliche oder nationale Ehre geworden. Aber das heißt nicht, dass sie nicht wieder reaktiviert werden könnte – zumal sie im Völkerrecht nach wie vor eine feste Größe ist.  

Anhand welcher Belege beschreibt man den Gefühlszustand einer Gesellschaft?

Zum einen lässt sich bezweifeln, dass es „den Gefühlszustand einer Gesellschaft“ wirklich gibt. Gerade hoch- oder spätmoderne Gesellschaften sind nicht monolithisch, sondern plural und differenziert. Wir sollten davon ausgehen, dass auch Gefühle nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden. Zum anderen ist es schwierig, in Bezug auf Gefühle von einem „Zustand“ zu sprechen. Gefühle sind immer in Bewegung, ändern sich teilweise sehr schnell. Sie können kippen, sich verdünnen, heißer oder kälter werden.

Sie hätten die Frage lieber spezifischer?

Ja, bezogen auf soziale Gruppen und bestimmte Gefühlsgegenstände. Antworten finden wir vor allem in den Selbstartikulationen dieser Gruppen beziehungsweise ihrer Mitglieder. Sie geben in der Regel sehr gern Auskunft über ihre Gefühle, wenn sie danach gefragt werden. Und gefragt werden sie andauernd, spätestens seit den 1950er Jahren, als das Zeitalter der Demoskopie anbrach. Gefühlen kommt man aber auch auf andere Weise und durch andere Quellengattungen auf die Spur: Wir finden sie in Egodokumenten ebenso wie in Gerichtsprotokollen, in politischen und Parlamentsreden ebenso wie auf Wahlplakaten. An auswertbaren Informationen fehlt es jedenfalls nicht.

Wenn Sie auf die Zeitläufte schauen, vor allem auf die Staatenwelt: Nehmen Sie die Gegenwart, dieses Jahr 2020, als besonders emotional wahr?

Eigentlich nicht. Ich sehe eher die Fortsetzung von Trends, die wir schon länger beobachten. Dazu gehört der Trend zur „Moralpolitik“, also zur Politisierung moralischer Ansprüche und Erwartungen. Moral, die Unterscheidung von Gut und Böse, lädt geradewegs zur Emotionalisierung ein. Menschenrechtsfragen, wie sie in internationalen Beziehungen seit einigen Jahrzehnten verstärkt thematisiert werden, sind emotional aufgeladen. Aber auch die seit den 1990er Jahren intensivierte Praxis, öffentliche Entschuldigungen für frühere politische Entscheidungen und Entwicklungen auszusprechen, appelliert an Gefühle und setzt Gefühle offensiv ein. Ähnliches gilt für die besonders in den USA heimische Strategie, politische Gegner zu Feinden zu erklären. Mit Feinden geht man anders um als mit Gegnern, Feindschaft ist – wie Freundschaft – extrem gefühlsintensiv. Donald Trump hat es darin zu wahrer Meisterschaft gebracht, aber schon George W. Bush hat solche Denk- und Fühlmuster aufgerufen. Trump führt übrigens auch ständig die nationale Ehre im Munde – und verspricht zugleich, sie offensiv und mit allen Mitteln zu verteidigen. Das bringt ihm viele Pluspunkte in konservativen Milieus ein.

Steuern Staaten die Gefühle ihrer Bürger, etwa wenn es um Konflikte und Auseinandersetzungen geht?

Zumindest versuchen sie es. Es sind aber weniger Staaten, die hier handeln, als Politiker*innen, Thinktanks, Organisationen und mittlerweile eben auch Bots. Sie alle versuchen, mit mehr oder minder großem Erfolg, die Gefühle von Bürger*innen anzuzapfen, sie zu wecken, aufzuheizen und auf ein bestimmtes Ziel hin zu orientieren. Das passiert überall dort, wo Herrschaft, um mit Max Weber zu sprechen, auf die Zustimmung der Beherrschten angewiesen ist. Mit der Entwicklung und Durchsetzung demokratischer Verhältnisse seit dem 19. Jahrhundert ist die emotionale Ansprache immer wichtiger geworden. Denn Zustimmung erhalten Regierungen und Politiker*innen nicht allein durch Sachargumente. Sie müssen in der Regel auch an Gefühle appellieren: an Gefühle wie Solidarität oder Empathie – oder eben auch an Ehre, wie im August 1914. In dem Maße, wie sich Ehre nationalisierte und sich alle Staatsbürger*innen in der Ehre ihrer Nation wiedererkannten, gab es kein zugkräftigeres Argument, die Zustimmung zu einem Krieg zu erlangen.

Also handelt es sich um eine ganz gezielte Instrumentalisierung der Gefühle großer Bevölkerungsschichten?

Ja, damit sie die Entscheidungen ihrer Regierung guthießen und mittrugen. Die Nazis haben daraus gelernt: Ihre Propaganda war ausgesprochen gefühlsbetont, gerade Ehre spielte eine herausgehobene Rolle. Der Nürnberger „Parteitag der Ehre“ 1936 inszenierte die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die militärische Besetzung der Rheinlande – beides hatte der Versailler Vertrag untersagt – als Wiedergewinnung deutscher Ehre und Befreiung von der Schande, die Deutschland mit der Unterzeichnung jenes Vertrags 1919 angeblich auf sich geladen hatte. Hier sehen wir, dass auch nichtdemokratische Regime den Appell an Gefühle lieben. Auch sie legen Wert auf Partizipation (die sie zugleich minutiös steuern und kontrollieren); Partizipation aber funktioniert am besten und leichtesten, wenn sie emotional grundiert oder zumindest angereichert ist.       

Sind vor allem Männer empfänglich für emotionale Appelle wie „Ehre verteidigen“, „Schande tilgen“ oder „unerträgliche Demütigung“ und so einfacher für Konflikte oder sogar Kriege zu instrumentalisieren? Gibt es dafür Beispiele?

Ehre, Schande, Demütigung – das sind, aus historischer Perspektive, Statusgefühle. Ehre ist an einen sozialen Stand gebunden, und das gilt auch für ihr Gegenteil. Klassischerweise hat der soziale Stand oder Status männliche Träger und männliche Erben. Das erklärt, warum Männer sich besonders berufen fühlen, ihre Ehre zu verteidigen, Schande und Demütigungen von sich zu weisen, indem sie ein agonales Verhalten an den Tag legen. Frauen können Ehrverlust und Ehrenkränkung nur passiv erleiden, aber ihre Ehre nicht kämpferisch behaupten. Das sind langfristige emotionale Prägungen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Turbulenzen gerieten. Dazu passt, dass etwa Vergewaltigungen im Krieg noch in den Haager Vereinbarungen des frühen 20. Jahrhunderts als Angriffe auf die „Familienehre“ betrachtet wurden. Da Männer die Oberhäupter ihrer Familien waren, mussten sie diese Angriffe persönlich nehmen und rächen. Die Kriegspropaganda wusste solche Fühlweisen gezielt einzusetzen: Soldaten, hieß es 1914 und 1939, zogen aus, um die Integrität von „Heim und Herd“ zu schützen – sie verteidigten die „Ehre“ ihrer Frauen und Töchter.        

Die Kanzlerin gilt als betont sachlich, pragmatisch und nüchtern agierende Politikerin. Befindet sie sich damit im Widerspruch zu einer oft sehr aufgeladenen internationalen Politik? Sehen Sie solche Rationalität als ein typisch deutsches Merkmal politischen Agierens?

Typisch deutsch ist daran höchstens, dass die (west-)deutsche Außen- und Innenpolitik sich nach dem Zweiten Weltkrieg von den nach 1918 mobilisierten Gefühlen („Schande“, „Schmach“, „Demütigung“) bewusst ferngehalten hat – und bis heute dazu auf Abstand geht. Bereits die frühe Bundesrepublik hat sich von der ehrpusseligen Gefühlssteuerung distanziert, die das „Dritte Reich“ so professionell und erfolgreich betrieben hatte. Das neue Codewort hieß „Nüchternheit“ (anders als in der DDR). Aber es war nicht durchgängig im Einsatz: Der Antikommunismus der 1950er Jahre ist ein Gegenbeispiel. Gerade die Adenauer-CDU war damals das, was man heute „Angstunternehmer“ nennen würde. Mit der Personalisierung und Medialisierung des Politischen seit den 1960er Jahren wanderten wiederum vermehrt emotionale Momente in politische Inszenierungen ein. Willy Brandt ist dafür eine interessante Figur: Auf ihn richteten sich medial verstärkte Identifikationen, die er einerseits bediente, andererseits zu unterlaufen suchte. Gerhard Schröder, ein Macho mit supergroßem Ego, war da schlichter gepolt. Er gerierte sich als Kanzler „zum Anfassen“ und suggerierte Nähe. Merkels Regierungsstil ist dagegen sowohl außen- als auch innenpolitisch geprägt von der vollständigen Abwesenheit von Eitelkeit.

Merkel ist ganz sicher keine Kanzlerin „zum Anfassen“ …

Sie schmeichelt nicht und kann auch nicht umschmeichelt werden. Das schützt sie vor emotionalen Übertragungen und lässt sie zuweilen, ähnlich wie Adenauer, als hölzern erscheinen. Aber gleichzeitig stärkt es ihren Gestus der Unkorrumpierbarkeit. Der unterscheidet sie von vielen männlichen Amtskollegen im europäischen und internationalen Konzert. Frau Merkel ist überhaupt ein interessantes politisches Phänomen. Als erste Kanzlerin ist sie in keines der zahlreichen Fettnäpfchen getreten, die in dieser Position für Frauen aufgereiht stehen. Sie hat das Klischee, Frauen seien (zu) emotional, immer wieder Lügen gestraft. Aber auch aus ihrer wohldosierten Nüchternheit hat man ihr keinen Strick drehen können, anders als Hillary Clinton bei ihrer ersten Präsidentschaftskandidatur. Sie hat selbst im Verhältnis zu Alpha-Männern wie Putin, Erdoğan oder Trump stets bella figura gemacht – was man von manchen ihrer männlichen Vorgänger nicht behaupten kann. Sie zeigt damit nicht zuletzt, dass Außenpolitik auch ohne die vieldiskutierten „Männerfreundschaften“ auf höchster Ebene funktioniert.

Peter Sloterdijk hat geschrieben, dass es vor allem der Zorn und nicht die Vernunft gewesen sei, der die Geschichte vorantrieb. Stimmen Sie zu?

Zorn ist nicht das Gegenteil von Vernunft, es gibt auch vernünftigen Zorn, ebenso wie „edlen“ und „gerechten“ Zorn. Reflektiert und mit Augenmaß eingesetzt, gehört er zu jenen Leidenschaften, die, wie schon Max Weber wusste, in der Politik wichtig und unumgänglich sind. Früher hat man Wut und Zorn unterschieden; Wut galt als ungefiltert und entgrenzend, Zorn hingegen als kompatibel mit Überblick und Überlegung. Zorn war ein Attribut der Mächtigen, Wut gehörte den Ohnmächtigen. Sowohl Zorn als auch Wut sind Triebkräfte menschlichen Handelns und „machen Geschichte“, nicht zuletzt in Form von Revolutionen und Widerstandsaktionen. Aber auch andere Gefühle tun das: Empathie zum Beispiel, Solidarität, Liebe.



Die Fragen stellte Martin Bialecki.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 26-30

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