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12. Juli 2016

After Brexit

Wie geht es in Europa weiter? Ist ein „Breversal“ noch möglich oder kommt es wirklich zu einem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union? Und, wenn ja: Welche Folgen wird der Brexit haben? Stimmen aus Deutschland, Frankreich und Polen.

Deutschland als dienende Führungskraft

Ein Europa ohne Großbritannien verlangt fein abgestimmte, aber klare Diplomatie

Von Jan Techau

Die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, hat Deutschland in die Neo-Bismarcksche Ära seiner Nachkriegsexistenz katapultiert. Mit dem Ausscheiden des traditionellen Außenseiters, der stets als Gegengewicht zu kontinentalen Debatten fungierte, fällt diese Rolle in Zukunft noch stärker dem großen Staat in der Mitte Europas zu. Er muss in Wirtschaftsfragen zwischen nördlichen und südlichen Mentalitäten vermitteln, die Interessen von Freihändlern und Protektionisten überbrücken, zwischen Ost- und Westeuropa balancieren und in Sicherheitsfragen sowohl Hardliner als auch jene, die sich nicht betroffen fühlen, unter einen Hut bringen.

Deutschland nimmt bei den meisten dieser Fragen eine vermittelnde Position ein. Doch bedeutet Ausbalancieren nicht bloß, einen akzeptablen Kompromiss zu finden. Es müssen Allianzen geschmiedet und am Ende auch jene bedient werden, deren Überzeugungen sich im jeweiligen Lösungsansatz nicht unbedingt wiederfinden. Für Deutschland wird es nicht leicht werden, diesen Spagat ohne Großbritannien hinzubekommen – ohne die traditionell marktfreundlichen, Freihandel befürwortenden, militärisch robusten und von Natur aus global denkenden Angelsachsen. Insgesamt wird es eine Herausforderung für die deutsche Führungsfähigkeit, wie sie das Land in seiner Nachkriegsgeschichte noch nicht erlebt hat. Was aber bedeutet dies konkret für die europäische Politik?

In den nächsten fünf bis zehn Jahren muss die EU mindestens drei grundlegende Großreformen vollbringen. Am bedeutsamsten ist eine Fiskal- (d.h. politische) Union in der Euro-Zone – wenn die gemeinsame Währung erhalten werden soll. Da dies unweigerlich zu einem Europa zweier Geschwindigkeiten (d.h. zweier Klassen) führen wird, muss eine politisch akzeptable und praktisch durchführbare Organisationsform für eine EU gefunden werden, die sich in Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten teilt. Schließlich muss die EU, und insbesondere die dann neu aufgestellte Euro-Zone, so demokratisiert werden, dass sich die Bürger in substanziellen Fragen am Entscheidungsprozess beteiligt fühlen.

Bei diesen drei Fragen handelt es sich um langfristige Reformen. Hinzu kommt eine kurzfristige Herausforderung, die dringend einer Lösung bedarf: ein EU-weit akzeptierter Kompromiss in der Flüchtlingsfrage. Dieser wird einen besseren Schutz der Außengrenzen, ein gemeinsames Asylsystem im Schengen-Raum und bessere Beziehungen zu den Herkunftsländern umfassen müssen, gleichzeitig aber unwilligen Mitgliedstaaten ermöglichen, sich durch Ersatzleistungen von ihren Verpflichtungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen freizukaufen.

Leider waren die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bezug auf die Zukunft der Euro-Zone bisher nicht eindeutig. Noch kurz vor dem britischen Referendum sagte sie, dass eine politische Union für die Euro-Zone „unausweichlich“ sei. Nach der Abstimmung erklärte sie dann, es sei nicht der richtige Moment für eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der Euro-Zone. Das ist zwar nicht unbedingt ein Widerspruch, aber die Bundeskanzlerin sendet unklare Signale – und das ist das Gegenteil jener fein abgestimmten, aber klaren Diplomatie, die mehr denn je gefragt ist.

Mindestens genauso bedeutsam wie klares Handeln in Sachen Euro ist ein Mentalitätswandel. Deutschland muss zu einem „dienenden Anführer“ in der EU werden, dessen enormer Einfluss deshalb akzeptiert wird, weil es sich vor allem für das Gemeinwohl der EU einsetzt und seine eigenen diplomatischen Interessen notfalls hintanstellt. Der größte Mitgliedstaat sollte wieder als integrative Reservemacht Europas wirken. Das bedeutet: immer ein bisschen früher den Kompromiss suchen als andere, und auch bereit zu sein, im Zweifelsfall etwas mehr dafür zu bezahlen.  

In der späten Kohl-Ära, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, aber auch unter Merkel hat Deutschland die Rolle als Reservemacht immer weiter vernachlässigt. Diese Entwicklung muss nun rückgängig gemacht werden – auch wenn natürlich kein Weg zurück in die guten alten Zeiten führt. Heute wird Europas Reservemacht bedeutend mehr abverlangt als vor 30 Jahren. Doch liegt es in der Natur der geografischen, historischen und demografischen Gegebenheiten in Europa sowie in seinem eigenen nationalen Interesse, dass Deutschland diese Position einer dienenden Führungskraft einnimmt. Bismarck hätte das verstanden.

 

Der Brexit als Wahlkampfthema

Frankreich fordert einen schnellen Ausstieg und will seine Position stärken

von Dr. Claire Demesmay

Die Entscheidung über den EU-Ausstieg Großbritanniens ist gefallen – nun sei es an der Zeit zu handeln, und zwar rasch, erklärte der französische Staatspräsident François Hollande kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Aus französischer Perspektive steht eines fest: Mit einem schnellen Brexit soll die Europäische Union einen abschreckenden Präzedenzfall schaffen. Und diese Botschaft gilt nicht nur für die EU-Staaten, die mit einem Austritt liebäugeln oder sich durch Austrittsdrohungen Sonderkonditionen im europäischen Club erhoffen. Denn zehn Monate vor den Präsidentschaftswahlen hat Hollande vor allem die eigene Öffentlichkeit im Blick.

Der Wahlkampf wird direkt nach der Sommerpause beginnen, und der Sozialist Hollande, der erneut antreten will, weiß genau, wie brisant das Thema Europa sein kann. Seine Partei ist diesbezüglich tief gespalten und hat es bis heute nicht geschafft, das Trauma des 2005 gescheiterten Referendums über eine europäische Verfassung zu überwinden. Seither finden die französischen Sozialisten keine gemeinsame Linie in der Europapolitik und Hollande wird sich hüten, die Büchse der Pandora zu öffnen.

Doch die Europapolitik wird – neben den Themen Wirtschaftsreformen, Sicherheit und Terrorismusbekämpfung sowie Identität und Zuwanderung – eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen. Denn Politiker aus dem konservativen Lager, u.a. der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy, verlangen nach dem Brexit nun ein Referendum über die Zukunft der EU. Und die radikalen Parteien aus dem linken und rechten Lager schimpfen auf das „deutsche Europa“ und fordern ein Ende der Austeritätspolitik. Die Chefin des Front National (FN), Marine Le Pen, die gute Chancen hat, in die Stichwahl zu kommen, träumt von einem Referendum wie in Großbritannien. Laut Umfragen spricht sich ein Drittel der Franzosen (und drei Viertel der FN-Wähler) für einen EU-Austritt ihres Landes aus. Diese Zahl ist zwar zu klein, um zu einem „Frexit“ zu führen, jedoch zu groß, um einfach ignoriert zu werden. Man kann also davon ausgehen, dass die Kritik an der EU in den nächsten Monaten noch lauter wird – und zwar von allen Parteien.

Präsident Hollande will den Brexit dafür nutzen, die EU auf einen neuen Kurs zu bringen und dadurch bislang unzufriedene Wähler zu gewinnen. Das Versprechen eines „anderen“ Europas, mit dem er 2012 in den Wahlkampf gezogen war, konnte er nicht einlösen. Aber nun sieht er seine Zeit gekommen: Er fordert eine stärkere Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, mehr Investitionen in Wachstum und Beschäftigung sowie eine Harmonisierung der Steuerpolitik.

Auf diese Weise soll Frankreichs Position gestärkt werden – in der Europapolitik allgemein sowie insbesondere in der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Doch dieses Tandem wird durch den Brexit geschwächt. Bis jetzt konnte sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich für die politische Integration der EU einsetzen, weil es für die Vertiefung des Binnenmarkts den britischen Verbündeten hatte. Dass ein deutsch-französisches Tête-à-tête nun einen Kurswechsel schafft, ist unwahrscheinlich, da die Interessen beider Länder sehr unterschiedlich sind.

Somit wird der Brexit auch den Wahlkampf in Frankreich prägen. Unabhängig davon, wie sich die Austrittsverhandlungen gestalten werden: Die Briten haben es geschafft, Europa auf die französische Agenda zu setzen.

 

Verlust eines Verbündeten

Polen fühlt sich in seiner Auffassung bestärkt, dass die Europäische Union reformbedürftig ist

Von Piotr Buras

Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union verliert Polen, insbesondere die Regierungspartei PiS, ihren liebsten Verbündeten. Schließlich teilt man mit den Briten den Wunsch nach einem Ende weiterer europäischer Integration, nach einer Verteidigung der nationalen Souveränität und die Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Währung. 

Nach dem EU-Austritt Großbritanniens wird Polen zwar der größte Mitgliedstaat unter den Nicht-Euro-Ländern sein. Doch diese erbringen insgesamt nur 14 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung, sodass die Verhandlungsposition Polens gegenüber der Eurozone ohne Großbritannien weiter geschwächt wird.

Noch wichtiger ist für die Regierung in Warschau bei den Verhandlungen mit London allerdings ein anderer Aspekt: der Status der 700.000 Polen, die in Großbritannien leben und arbeiten. Wenn der Brexit durchgesetzt ist, würde nach geltender Rechtslage etwa die Hälfte von ihnen die Aufenthaltsgenehmigung für Großbritannien verlieren. Wenn dann alle gezwungen wären, nach Polen zurückzukehren, würde dies den heimischen Arbeitsmarkt zusätzlich belasten und womöglich zu sozialen und politischen Spannungen führen. Und so betonten Vertreter der polnischen Regierung nach Bekanntgabe des Referendumsergebnisses denn auch, dass die Sicherstellung der Rechte ihrer in Großbritannien lebenden Bürger höchste Priorität genieße.

Angesichts des politischen und emotionalen Kapitals, das man in die polnisch-britischen Beziehungen investiert hat, wird Polen zu jenen Ländern gehören, die einen Kompromiss in den Verhandlungen mit London anstreben und an einer Lösung interessiert sind, die sich möglichst nahe am Status quo orientiert. Unklar bleibt, ob dies bedeutet, dass man dem Vereinigten Königreich weiterhin einen „speziellen Deal“ einräumt (zusätzlich zu der Beteiligung am Europäischen Wirtschaftsraum, am EFTA-Freihandel oder der WTO- Mitgliedschaft). Auf jeden Fall dürfte Warschau seinem Verbündeten bei den Verhandlungen in fast allen Fragen entgegenkommen – nur nicht beim Thema Migration.

Der Brexit bestätigt die polnische Regierung in ihrer Auffassung, dass die EU einer grundlegenden Reform bedürfe. Nach Bekanntgabe des Ergebnisses sprach der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński davon, dass „eine Reform der EU“ notwendig sei, die zugleich „ein Angebot an Großbritannien“ sein könnte. Diese Reform, die eine Änderung der Verträge erfordert, sollte laut Kaczyński eine Klarstellung der EU-Kompetenzen, eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und eine Ausweitung der einstimmigen Entscheidungen beinhalten. Auch der polnische Präsident Andrzej Duda äußerte seine Bedenken, ob die EU „den Mitgliedstaaten nicht zu viel auferlege“. Kurzum: Die Entscheidung, aus der EU auszutreten, wird als Absage an ein föderalistisches Europa und an eine vertiefte Union gewertet und nicht als Ergebnis innenpolitischer Entwicklungen in Großbritannien. Diese Auslegung spielt der polnischen Regierung in die Hände.

In den vergangenen Wochen und Monaten nutzte Warschau David Camerons im Februar 2016 ausgehandelten „Deal“, um für die eigenen Reformbestrebungen zu werben. Der Minister für Europäische Angelegenheiten, Konrad Szymański, nannte das ein „Pilotprojekt“, das die EU „in die richtige Richtung und zu den richtigen Themen“ lenken könnte. Zwar hat Camerons Abmachung nun ihre Gültigkeit verloren, doch die dahinterstehende Philosophie deckt sich mit der in Warschau vorherrschenden Einstellung. So müsse ein neuer europäischer Vertrag auf den Prinzipien der Flexibilität, Differenzierung und gleicher Behandlung aller EU-Staaten beruhen, ungeachtet des Umfangs ihrer jeweiligen Integration. Es solle jedem Mitglied überlassen sein, welchen Grad an Integration es akzeptiert: eine „multipolare“ Union, ein „Kerneuropa“ oder eine europäische Föderation.

Inwieweit Warschau bereit ist, politisches Kapital und Energie in die Durchsetzung dieser Ideen zu investieren, wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen. Doch ungeachtet aller strategischer Herausforderungen, die der Brexit an Polen stellt, könnte er auch als politisches Moment für ein Europa „à la carte“ wirken.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Juli 2016, Online exklusiv

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