Online exklusiv

11. Sep 2023

60 Jahre Ankara-Abkommen: Zeit für einen Aufbruch ohne Illusionen


Am 12. September 1963 wurde das Assoziierungsabkommen zwischen der noch jungen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei unterzeichnet, das sogenannte Ankara-Abkommen. Die Hoffnung auf eine baldige Vollmitgliedschaft der Türkei war groß. 60 Jahre später ist diese Hoffnung Frustration gewichen. Es ist Zeit für neue Wege.

Bild
Bild: Erdogan während einer Pressekonferenz
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Ein Weg zu tieferer wirtschaftlicher und politischer Integration nach Europa. Eine engere wirtschaftliche Anbindung der Türkei an den Vorgänger der EU, offene Türen: Das war das Versprechen des Ankara-Abkommens. Heute ist man davon meilenweit entfernt, seit Jahren schon ist der Prozess festgefahren.

Die Türkei ist 2023 eine andere als vor 60 Jahren. Das Land am Bosporus gehört trotz wirtschaftlicher Probleme zu den 20 größten Volkswirtschaften der Welt, ist außenpolitisch in den wichtigsten Konflikten der Nachbarschaft engagiert und eine ernstzunehmende Regionalmacht geworden. Es ist daher an der Zeit für eine grundlegende Neuordnung der EU-Türkei-Beziehungen, frei von Illusionen. Europas Sicherheit hängt auch von den Beziehungen zur Türkei ab.

 

Angespanntes Verhältnis

Aufgrund bestehender Assoziationsabkommen sind EU und Türkei weiter eng verbunden, aber das Verhältnis ist angespannt. Nach den 2005 offiziell gestarteten Beitrittsverhandlungen wurden diese nach zahlreichen Krisen im Juni 2018 de facto eingefroren, Grund waren mangelnde Fortschritte des Landes bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

Mit dem Versuch der Türkei, die NATO-Mitgliedschaft Schwedens gegen eine EU-Mitgliedschaft einzutauschen, hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan zwar keine Aussicht auf Erfolg. Dennoch hat er die Zeichen der Zeit erkannt, in der in den europäischen Hauptstädten die Bereitschaft zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Türkei wieder gewachsen ist.

Ankara hat ein begründetes Interesse an einer Neuordnung der Beziehungen zur EU, denn trotz aller offensichtlichen Erfolge ist die Fähigkeit der Türkei zur Machtprojektion in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus begrenzt. Ohne eine solide wirtschaftliche Basis und eine stabile Partnerschaft mit Verbündeten ist ein nachhaltiges Engagement kaum möglich.

 

Modernisierung der Zollunion?

Die Türkei pocht daher schon seit einigen Jahren darauf, die 1995 auf Grundlage des Ankara-Abkommens begründete Zollunion zu modernisieren. Seit sie Ende der 1990er Jahre durch bilaterale Präferenzabkommen für Agrarprodukte sowie Kohle und Stahl ergänzt wurde, ist sie nicht mehr angetastet worden. Die Zollunion wurde als Übergangslösung in der Annahme konzipiert, dass die Türkei in wenigen Jahren der EU beitreten würde. Neben der Nichtberücksichtigung bestimmter Bereiche, wie etwa digitaler Dienstleistungen, führen die derzeitigen Regelungen der Zollunion, insbesondere bei der Aushandlung von Freihandelsabkommen, dazu, dass die Türkei in den Verhandlungen eine marginale Rolle einnimmt. Das wiederum führt zu einer Aushöhlung ihrer privilegierten Handelsposition: Da Drittstaaten durch Freihandelsabkommen Zugang zum türkischen Markt erhalten, haben sie keinen Anreiz, ähnliche Freihandelsabkommen mit Ankara abzuschließen.

Faktisch werden türkische Exporte daher in Freihandelsabkommen mit Drittstaaten diskriminiert und türkische Hersteller dem externen Wettbewerb ausgesetzt, ohne dass sie auf der Grundlage der Gegenseitigkeit auf Drittmärkten konkurrieren können. Diese asymmetrische Situation führt vermehrt zu Regelbrüchen seitens Ankaras und zu Streitigkeiten, die aufgrund fehlender Streitschlichtungsmechanismen nicht beigelegt werden können. Die Veränderungen im globalen Handelsumfeld, die erhebliche Zunahme bilateraler Handelsabkommen – auch als geopolitisches Instrument der EU – könnten daher die privilegierte Handelsposition Ankaras weiter beeinträchtigen, wenn die Zollunion nicht modernisiert wird.

Eng damit verbunden ist der Wunsch nach einer Liberalisierung der Visa-Regelungen, welcher die wirtschaftlichen Freiheiten türkischer Unternehmer stark beeinträchtigt. Die Türkei ist der einzige EU-Beitrittskandidat, der keine Visa-Liberalisierung hat.

 

Der Preis für Schwedens Beitritt zur NATO

Wie wichtig diese beiden Themen für Ankara sind, zeigt sich auch in dem Memorandum, das nun mit Schweden abgeschlossen wurde. Wenn die Große Nationalversammlung der Türkei nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause den Beitritt Schwedens zur NATO ratifiziert, wird die türkische Regierung Stockholm an das Versprechen erinnern, die Visa-Liberalisierung und die Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei zu unterstützen. Außerdem hat Schweden sich verpflichtet, die Bemühungen um eine Wiederbelebung des türkischen EU-Beitrittsprozesses aktiv zu unterstützen.

Trotz ihres Strebens nach strategischer Unabhängigkeit kann es sich die Türkei derzeit schlicht nicht leisten, auf gute Beziehungen zur EU zu verzichten. Die türkische Wirtschaft befindet sich trotz Wachstums in einer Krise, die auch durch das finanz- und wirtschaftspolitische Missmanagement der türkischen Regierung in den vergangenen Jahren mitverursacht wurde. Die EU ist nach wie vor der wichtigste Exportmarkt der Türkei und ihr größter Investor.

Aber auch Deutschland und die EU haben ein strategisches Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld in ihrer direkten Nachbarschaft, haben sie doch den Anspruch erhoben, geopolitisch an Einfluss zu gewinnen. Insbesondere die Türkei ist hier von elementarer Bedeutung, sie ist ein Schlüsselakteur in verschiedenen Nachbarregionen der EU. Das zeigen die Rolle Ankaras im russischen Angriffskrieg in der Ukraine, im Kaukasus und im Nahen Osten, und auch die jüngsten Entwicklungen in der Sahelzone und in Subsahara-Afrika. Hier können der schwindende Einfluss Europas, insbesondere Frankreichs, und die Auswirkungen der Regimewechsel in der Region fatal für Europa sein.

 

Geopolitisches Ankara

Neben Russland und China ist es vor allem die Türkei, die in Afrika wirtschaftlich und verteidigungspolitisch aktiv ist. Sie trägt dazu bei, die Ausweitung des russischen Einflusses und die Operationen dschihadistischer Akteure einzudämmen, indem sie ihre Verteidigungskooperation geschickt mit klassischer Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Bildung und humanitäre Hilfe auf der Basis gemeinsamer historischer, religiöser und kultureller Nähe vernetzt. So vertieft sie ihre Wirtschaftsbeziehungen und vergrößert ihren Einfluss.

Deutschland und Europa sollten daher ein Interesse daran haben, dass die Türkei einen konstruktiven Beitrag zu Stabilität und Sicherheit in Afrika und im Nahen Osten leistet, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus wirksam unterstützt, zur Eindämmung Russlands und Chinas in Zentralasien und Afrika beiträgt und ein verlässlicher Partner bei der Verhinderung illegaler Migration bleibt. Ankara kann Europa helfen, seine Beziehungen zu Zentralasien zu vertiefen und neue Wege der wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in Afrika zu finden.

 

Ehrlicher Umgang statt falscher Erwartungen

Der derzeitige Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, der immer noch auf die Vollmitgliedschaft der Türkei ausgerichtet ist, weckt allerdings falsche Erwartungen, enttäuscht beide Seiten und verhindert echte Fortschritte. In absehbarer Zeit gibt es politisch keine Aussicht auf einen Fortschritt im EU-Beitrittsprozess der Türkei. Gleichzeitig besteht jedoch die Notwendigkeit eines konstruktiven und vor allem ehrlichen Umgangs; deshalb wäre es besser, die Beziehungen auf eine Ebene außerhalb des Beitrittsprozesses zu heben.

Obwohl die Türkei weiterhin darauf besteht, dass der EU-Beitritt ein strategisches Ziel ist und sich bislang keine türkische Regierung getraut hat, den Beitrittsprozess unilateral abzubrechen, sinkt die Bereitschaft in Regierung und Gesellschaft, Vollmitglied zu werden. Auf Grundlage der Assoziationsregelung des Ankara-Abkommens könnten sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU also auf Augenhöhe weiterentwickeln und vertiefen, ohne eine Vollmitgliedschaft zu einem anderen Zeitpunkt auszuschließen. Das Ankara-Abkommen mit neuen Zusatzprotokollen bietet die Möglichkeit einer vertieften Zusammenarbeit und Integration, ohne politisches Kapital in Brüssel und Ankara zu verlieren.

Gerade Deutschland sollte diese Schritte voranbringen und neue Impulse nach Europa geben. Trotz diverser Differenzen ist Deutschland weiterhin wichtigster Partner der Türkei in der EU. Es sollte dazu beitragen, die für Europa wichtige geostrategische Bedeutung der Türkei zu vermitteln und sich enger auszutauschen, wo immer das möglich ist.

 

Möglichkeiten der Annäherung

Zu diesem Zweck kann sich Berlin dafür einsetzen, dass zunächst der sogenannte EU-Türkei-Dialog wiederaufgenommen wird, der 2021 zum Stillstand gekommen ist, und anschließend die Verhandlungen zur Modernisierung der Zollunion fortgesetzt werden. Auch dies ist im europäischen Interesse, da es helfen kann, den „De-Risking“-Prozess mit China voranzutreiben, indem es die Türkei als Produktionsstandort für Europa stärkt und damit die Abhängigkeit von chinesischen Produkten auf dem Binnenmarkt verringert. Daneben bietet vor allem eine verstärkte und institutionalisierte Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung, Migration, Energie und Klima vielfältige Synergien. Eine Einbindung in PESCO-Projekte oder in Vorhaben, die vom Europäischen Verteidigungsfonds finanziert werden, könnten neben technologischen und wirtschaftlichen Effekten auch die NATO-EU-Kooperation verbessern. Ankara könnte so wieder enger in sicherheitspolitischen Fragen mit den europäischen NATO-Ländern zusammenarbeiten. Darüber hinaus sind Synergien in entwicklungspolitischen Projekten gerade in Subsahara-Afrika denkbar, wo sich Ankara und Berlin bei humanitärer Hilfe und in Bildungsprojekten ergänzen könnten.

Im Energiebereich kann eine stärkere Einbindung der Türkei über den „European Green Deal“ erfolgen, da sich die Türkei geographisch als Energiehub für ganz Europa anbietet. Die EU kooperiert bereits mit der Türkei, um die Integration des türkischen Gas- und Strommarktes in den Energiebinnenmarkt zu ermöglichen. Die derzeitige Rolle von Erdgas als Übergangsenergieträger in der EU wird die Bedeutung von Transitländern wie der Türkei weiter erhöhen, importiert sie doch Gas aus dem Kaukasus, dem östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Zentralasien. Auch die Möglichkeiten zur Erzeugung von grünem Wasserstoff aus erneuerbaren Energien in der Türkei sprechen für eine engere Einbindung in die EU-Pläne. Dies wäre auch im Interesse der deutschen Klimadiplomatie und im Sinne der deutschen Wirtschaft, da die Türkei ein wachsender Absatzmarkt für Technologien der Erneuerbaren Energien ist.

 

Dialog ohne Vorbedingungen?

Die EU kann die Türkei auch dabei unterstützen, schon jetzt Mitglied in mehr europäischen Agenturen zu werden, die die EU-Integration in konkreten Politikfeldern dezentral vorantreiben. Allerdings setzte dies harte Reformen in der Türkei voraus, die auf absehbare Zeit kaum zu erreichen sein dürften. Während die Republik Zypern und Griechenland bisher viele Integrationsfortschritte im Beitrittsprozess blockiert haben, könnte eine unkomplizierte Zusammenarbeit außerhalb des offiziellen Beitrittsprozesses Raum für eine Annäherung bieten. Jüngste positive Signale aus Ankara und Athen für einen Dialog ohne Vorbedingungen und auf der Grundlage gemeinsamer Interessen bieten eine vielversprechende Grundlage.

Ob in Afrika oder in Zentralasien: Die Türkei kann für Europa in vielen strategisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wichtigen Regionen ein Partner sein – oder aber zu einem strategischen Herausforderer werden. Berlin und Brüssel müssen daher ein großes Interesse an einem geregelten, vertieften und vor allem stabilen Verhältnis zur Türkei haben. Eine Verankerung der Türkei in den euro-atlantischen Institutionen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Längst schielt man in Ankara auch auf andere Institutionen und Blöcke, man will sich alle Optionen offenhalten.

Die Türkei strebt keinen klaren Bruch mit dem Westen an, sondern versucht einen sorgfältig austarierten Balanceakt. Die türkische Führung versteht ihr Land als regionale Gestaltungsmacht, die von anderen Blöcken unabhängig ist und mit diesen auf Augenhöhe verhandeln will. Nach den für ihn sehr erfolgreichen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fühlt sich Präsident Erdogan in diesem Kurs bestätigt. Sein neues Kabinett unterstreicht die Absicht, einen eigenen türkischen Weg zu gehen und den Balanceakt fortzusetzen.

 

Fazit

Eine engere Kooperation bietet Europa und der Türkei viele Chancen. Berlin und Brüssel sollten auch vor der bevorstehenden Europawahl 2024 die richtigen Lehren ziehen und eine echte, pragmatische Vision für die Zukunft der EU-Türkei Beziehungen vorlegen. Das 60. Jubiläum des Ankara-Abkommens sollte Anlass für eine strategische Vision für die europäische Nachbarschaft sein. Die EU muss ihre Beziehungen zu anderen Ländern in der Region überdenken und neu ordnen, wenn sie ein ernstzunehmender geopolitischer Akteur werden will. Die Aussicht auf eine strukturierte Partnerschaft mit der EU könnte dazu beitragen, ein Abdriften Ankaras vom Westen zu verhindern und die Türkei in ein geeintes Europa einzubinden.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 11. September 2023

Teilen

Themen und Regionen

Nils Lange ist Non-Resident Fellow am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.