Wachsen, aber wie?: Notwendige Lockerungsübungen
Europa steuert finanzpolitisch um – richtig so
Noch bis vor kurzer Zeit galt die Fiskalkonsolidierung als wichtigste politische Priorität für die Bewältigung der Euro-Krise: Sie sollte die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik wiederherstellen. Doch nicht nur die Protagonisten der Finanzmärkte äußern Bedenken gegen eine allzu starre Austeritätspolitik. Ein Reformprozess, der sich praktisch ausschließlich aufs Sparen konzentriert, lässt die Inlandsnachfrage schrumpfen, verunsichert Investoren, zerstört Arbeitsplätze und schmälert die verfügbaren Einkommen. Das führt letztlich, so sagt es die Ratingagentur Standard and Poor’s, zu erhöhten sozialen Ausgaben und erodierenden Steuereinnahmen.
Zwar könnte man, folgt man insbesondere David Ricardo, davon ausgehen, dass eine Verringerung des Haushaltsdefizits mehr Spielraum für private Initiative schafft und dadurch das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Doch das funktioniert zurzeit nicht. Nun zeigt ein Blick auf das Ausmaß der angehäuften Staatsschulden ohne Zweifel, dass eine finanzielle Konsolidierung grundsätzlich notwendig ist. Die Debatte, die wir führen müssen, betrifft eher ihr Tempo und ihr Ausmaß. Damit aber eine solche Sparpolitik das Wachstum nicht bremst, müssen wir stets abwägen, ob wir es mit laufenden Ausgaben zu tun haben oder mit Investitionsausgaben – also mit solchen Ausgaben, die wir mit Rücksicht auf langfristiges Wachstum nicht bedenkenlos kürzen können. Ähnlich sorgfältig müssen wir bei der Verteilung der Konsolidierungslast zwischen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen abwägen.
Spielraum im Euro-Raum
Und dann sind da noch die wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Dass es seit 20 Jahren einigen Ländern wie Schweden, Kanada oder Deutschland gelungen ist, ihre Wirtschaft ohne größere negative Folgen für die Konjunktur zu konsolidieren, hat eben auch damit zu tun, dass seinerzeit wirtschaftlicher Aufschwung in den Nachbarländern herrschte. Auf nationaler Ebene sind Staatskonsolidierung und Wachstum also nicht unbedingt unvereinbar. Anders auf der Ebene des Euro-Raums: Der Versuch, die Maastricht-Grenze dort frühzeitig und gleichzeitig in fast allen Ländern einzuhalten, war zum Scheitern verurteilt und hat die Länder in die Rezession geführt.
Dabei besteht zurzeit durchaus ein gewisser Spielraum für eine weniger restriktive Wirtschaftspolitik im Euro-Raum. Die öffentliche und private Verschuldung ist hier allen Verwerfungen der Krise zum Trotz spürbar geringer geblieben als etwa in den USA. Und die Geldwertstabilität ist im Euro-Raum nicht gefährdet, im Gegenteil. Die durchschnittliche Inflationsrate (1,4 Prozent im Mai 2013) liegt nennenswert unter dem Inflationsziel (2 Prozent) der Europäischen Zentralbank. Und auch um die Wettbewerbsfähigkeit des Euro-Raums steht es nicht so schlecht, verzeichnet er doch einen Überschuss in seiner Leistungsbilanz – 1,2 Prozent des BIP im Jahre 2012.
Die bisherige Mischung aus lockerer Geld- und restriktiver Fiskalpolitik mag dabei helfen, Zeit zu gewinnen – zur Förderung eines echten Wirtschaftsaufschwungs in den meisten Ländern des Euro-Raums ist sie nicht geeignet. Immerhin haben einige dieser Länder inzwischen grünes Licht dafür erhalten, ihre nationalen Sparpläne zeitlich zu strecken.
Zwar wird weiterhin die Maastrichter Defizitobergrenze von 3 Prozent des BIP angestrebt, aber mittlerweile werden auch die Höhe und Entwicklung des strukturellen Defizits (abzüglich des konjunkturellen Defizits) in Rechnung gestellt, was bei der Evaluierung der Fiskalpolitik durch die Europäische Kommission mehr Flexibilität ermöglicht. Politisch verständlich und ökonomisch vernünftig ist auch, daran die Forderung nach Strukturreformen zu knüpfen, um die Vertrauenskrise wirksamer zu bekämpfen.
Wettbewerbsfähigkeit verbessern, Nachfrage steigern
Konjunkturpakete allein wären nur ein Strohfeuer. Notwendig sind langfristig orientierte Strukturreformen, die freilich kurzfristig ihren Preis haben – auch politisch – und daher ein wachstumsträchtiges Umfeld brauchen. Doch ohne eine Behandlung der zahlreichen Strukturschwächen, insbesondere der exorbitant gewachsenen Privatschulden und des miserablen Zustands der Banken, wird es keine dauerhafte Lösung der Krise geben. Und die nationalen Instrumente der Krisenbekämpfung müssen durch strukturpolitische Maßnahmen auf europäischer Ebene (gezielte Förderung durch die EIB, zweckgebundene Projektbonds etc.) ergänzt werden.
Es gibt kein Patentrezept für die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums, kein „one size fits all“. Die bisherige Strategie der europaweiten Fiskalkonsolidierung ist gerade deswegen an ihre Grenzen gestoßen, weil sie unzureichend differenziert war. Glücklicherweise hat man in den vergangenen Wochen begonnen, hier umzusteuern.
Daneben müssen wir uns dringend daran machen, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Raums schneller und wirksamer zu verringern. Es gilt, in den strukturschwachen Mitgliedsländern die Wettbewerbsfähigkeit durch eine angemessene Angebotspolitik und Strukturreformen zu stärken. In den strukturstarken Mitgliedsländern bedarf es dagegen einer Belebung der Binnennachfrage – etwa indem wir durch weniger Lohnzurückhaltung den privaten Konsum abkurbeln oder indem wir private und öffentliche Investitionen fördern, zum Beispiel durch höhere Ausgaben für Energieinfrastruktur oder für Forschung und Bildung. Was wir brauchen, sind keine kurzfristigen Konjunkturpakete, sondern Investitionen in die Zukunft.
Dr. Rémi Lallement arbeitet in der Abteilung für wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten der dem französischen Premierminister unterstellten Beratungsinstitution Commissariat général à la stratégie et à la prospective in Paris.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 16-17