Wachsen, aber wie?: Du sollst nicht schaden
Wie Europa den hippokratischen Eid der Ökonomie verletzt
Wieder Wachstum in Europa zu generieren, ist vergleichsweise simpel: einfach mit dem aufhören, was man die vergangenen vier Jahre gemacht hat – denn das entsprach ökonomisch dem Aderlass in der mittelalterlichen Medizin.
Im Grunde genommen haben die Industriestaaten zuletzt ein naturwissenschaftliches Experiment am eigenen Leibe durchgeführt, und dessen Ergebnisse sind nun deutlich erkennbar. Als Beweis für den Irrsinn dieses Vorgehens sollte man sich Folgendes vor Augen führen: Die Vereinigten Staaten hatten Glück im Unglück. Nur aufgrund ihrer obskuren, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Kompetenzverteilung, die letztlich zu politischen Blockaden führt, war die US-Regierung nicht in der Lage, die massiven Ausgabenkürzungen zu beschließen, mit denen man der angeblichen „Krise“ der Staatsausgaben in den Industriestaaten begegnen wollte. Die Folge? Derzeit erlebt Amerika einen Wirtschaftsaufschwung, die Arbeitslosenquote sinkt, das Defizit am Jahresende 2013 wird 3 Prozent betragen, und die Schulden werden ab 2014 real abgebaut.
Großbritannien dagegen – mit den gleichen Vorteilen wie die USA ausgestattet, nämlich mit einer eigenen Währung und einer echten Zentralbank (im Unterschied zur Europäischen Zentralbank EZB, die in Wahrheit eine Währungsbehörde mit einer Liquiditätspumpe und einem Inflationsziel ist) – hat inmitten einer Rezession seine Ausgaben gekürzt. Als Resultat wird das britische Staatsdefizit dieses Jahr etwa 7 Prozent betragen, und Großbritannien ist nun höher verschuldet als vor den Haushaltseinsparungen.
Volkswirtschaft für Anfänger
Die Peripherie der Euro-Zone hat unter dem Diktat der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und EZB massive Ausgabenkürzungen vorgenommen. Das Ergebnis war, dass, je nach Altersgruppen, zwischen 20 und 60 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos wurden, während 20 bis 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vernichtet wurden. Und wofür? Alle diese peripheren Staaten stecken tief in der Wirtschaftskrise. Sie haben immer wieder ihre Defizitziele verfehlt, denn ihre Volkswirtschaften schrumpfen, ihre Facharbeiter wandern aus, ihre Steueraufkommen sinken.
Der Denkfehler, der diesem Desaster zugrunde liegt, ist ganz einfach rechnerischer Natur. Er hat nichts damit zu tun, dass entweder eine keynesianische Politik der Anreize oder neoklassische Austerität „den Weg aus der Krise“ wiesen. Wenn der öffentliche und der private Sektor einer Volkswirtschaft gleichzeitig schrumpfen, werden keine Einnahmen generiert, die Kürzungen erlauben könnten. Einnahmen sind aber notwendig, denn sonst sind Einsparungen schlicht und ergreifend ein Verlust für das BIP.
In der Praxis heißt das: Wenn die Ausgaben im öffentlichen Sektor gekürzt werden, während der private Sektor zur gleichen Zeit einen Rückschlag erleidet, schrumpft der Nenner der Volkswirtschaft (BIP), und der Zähler – der konstante Bestand an Schulden, die bedient werden müssen – wird eher größer als kleiner. Im Ergebnis steht man am Ende mit mehr statt mit weniger Schulden da – allen Ausgabenkürzungen zum Trotz.
Versucht man dieses Experiment in einem eng verknüpften regionalen Wirtschaftraum mit gemeinsamer Währung und hoch kreditbelasteten Banken voller toxischer Vermögenswerte (sprich: der Euro-Zone), kann man leicht vorhersagen, dass es böse enden wird. Man braucht nicht erst darauf zu warten, dass der IWF die negativen Multiplikatoren, die mit einem solchen Prozess verbunden sind, berechnet und benennt, wie er es schließlich im Oktober 2012 getan hat.
Außerirdisches Außenhandelsdefizit
Dass dies passieren würde, war offensichtlich – und wurde bereits 2010 von vielen Ökonomen vorhergesagt. Warum verfolgte die Troika dann eine solch katastrophale Politik? Die Antwort auf diese Frage verweist auf zwei miteinander verbundene Komplexe: die Weisheit von Universallösungen und jene fantastischen „Strukturreformen“, von denen so viel die Rede ist.
Die Einheitslösung, auf die man in der Euro-Zone bisher gesetzt hat, beruht, wie Martin Wolf von der Financial Times und Simon Tilford vom Center for European Reform wiederholt erklärt haben, auf einem Trugschluss der Verallgemeinerung: nämlich auf der Idee, dass das Ganze etwas anderes sei als die Summe seiner Teile.
Der Irrtum besteht darin, dass man davon ausgeht, eine Volkswirtschaft würde durch drastische Ausgabenkürzungen und gleichzeitige strukturelle Reformen wettbewerbsfähiger und könnte sich durch erhöhten Export von ihren Problemen befreien. Das Paradebeispiel für dieses Vorgehen ist natürlich „Exportweltmeister“ Deutschland.
Allerdings ist Deutschland natürlich deshalb das weltweit führende Exportland, weil andere Länder ebenso meisterlich importieren. Damit also Deutschland Deutschland sein kann, müssen alle anderen Länder anders handeln als Deutschland. Es können nicht alle gleichzeitig Deutschland sein. Für jedes Land mit einem Exportüberschuss muss es anderswo ein Land geben, das ein Handelsdefizit aufweist. Die Idee, Wachstum zu generieren, indem die Euro-Zone als Ganzes ein Exportplus fährt, ist ein konzeptioneller Irrglaube von kontinentalem Ausmaß. Völlig zu Recht fragt Martin Wolf: Wer soll denn dann das entsprechende Defizit einfahren? Außerirdische?
Vielleicht ist der eigentliche Grund, dass die Euro-Zone diese Einheitslösung verfolgt hat, gerade der, dass sie unmöglich funktionieren kann: So konnte sich Deutschland aus dem Klammergriff eines Problems lösen, das es weder geschaffen hat noch lösen kann, für das es aber verantwortlich gemacht wird: nämlich für den Zustand des europäischen Bankensystems.
Das europäische Bankensystem ist, gemessen am Verhältnis Einlagen zu BIP, drei Mal so groß und doppelt so stark kreditbelastet wie sein amerikanisches Gegenstück, das angeblich „zu groß ist, um zu scheitern“. Die großen Banken, aus denen es sich zusammensetzt, sind in den vergangenen 15 Jahren enorm gewachsen, indem sie in rücksichtsloser Leichtfertigkeit ein Spiel gegen den Euro getrieben haben. Denn sie haben darauf gesetzt, dass sie, wenn sie so viele Schulden der europäischen Peripheriestaaten aufkauften wie möglich, zu groß würden, als dass man sie scheitern lassen könnte, und dass die EZB sie retten würde. 2008 stellte sich allerdings heraus, dass dies eine schlechte Geschäftsentscheidung war, denn die EZB wird letztlich von den deutschen Steuerzahlern gedeckt, und Deutschland ist nicht groß genug, um eine solche Menge toxischer Vermögenswerte aus dem System zu spülen.
Die Lösung bestand bislang darin, die Ausgaben zu drosseln (Austerität in der Peripherie), die Liquidität zu steigern (durch längerfristige Refinanzierungsgeschäfte oder durch so genannte „Emergency Liquidity Assistance“-Programme) und das Problem von Gipfeltreffen zu Gipfeltreffen vor sich her zu schieben. Als Beispiel dafür mag das fortlaufende Scheitern der „Bankenunion“ dienen, eine Lösung für die so genannten „toxischen Altlasten“ zu finden; und das, obgleich das bei der Bankenunion der entscheidende Punkt ist.
Wichtiger, und als politisches Problem gravierender: Es wird ausgesprochen schwierig sein, der deutschen Öffentlichkeit zu erklären, dass hinter der Krise tatsächlich ein kontinentweites Bankenproblem steht – umso mehr, als man die Schuld bislang allein auf die „faulen“ Südländer und ihren verschwenderischen Lebensstil geschoben hat. Um dieses Problem zu umgehen, wurden einfach noch ein paar „Strukturreformen“ in den Maßnahmenmix geworfen – mit den Ergebnissen, die zu erwarten waren.
Mit Reformen und Redlichkeit ins Desaster
Der Begriff „Strukturreformen“ wurde in den neunziger Jahren populär, als das Strukturanpassungsprogramm des IWF und der Weltbank sich fächerartig über die Welt ausbreitete – mit der gleichen Kur von Ausgabenkürzungen, Liberalisierung, Privatisierung und Öffnung, die derzeit auch die peripheren Euro-Zonen-Länder trifft. Die Folgen waren desaströs. Von allen „strukturell angepassten“ Volkswirtschaften dieser Periode blieb keine einzige dauerhaft erfolgreich. Tatsächlich sind die Erfolgsfälle aus dieser Zeit, namentlich China und Brasilien, eher solche Länder gewesen, die entweder die Vorgaben des IWF ignorierten oder genau das Gegenteil taten. Wieso also sollte man in Europa nun das Gleiche tun, wenn man doch bislang solch negative Erfahrungen damit gemacht hat?
Zwei Antworten liegen nahe. Die erste lautet, dass die südlichen Volkswirtschaften schon seit Jahren bankrott sind und die Krise es den Brüsseler Technokraten nun erlaubt, das zu tun, was getan werden muss, um „Europa zu verbessern“. Diese Antwort ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zunächst einmal sind beispielsweise das Baskenland und Norditalien wirtschaftlich erfolgreicher als Belgien und die Niederlande – egal, welchen Maßstab man anlegt. Warum also hacken wir auf den Ländern der Peripherie herum und lassen die anderen in Ruhe? Zweitens betrifft sie die Frage der Demokratie. Wer hat die Kommission gewählt und ihr den Auftrag gegeben, dies zu tun? Ohne ein demokratisches Mandat sind solche Reformen zum Scheitern verurteilt. Dessen ungeachtet lassen sich so die Probleme natürlich weiter auf die lange Bank schieben.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bietet sich auch noch eine eher zynische Antwort an. Was, wenn die EZB, die Kommission und ihre Verbündeten die Bankenkrise nutzen wollen, um die Kerninstitutionen des europäischen Wohlfahrtstaats zu schwächen? Wenn man diese Möglichkeit in Betracht zieht, sind strukturelle Reformen vielleicht am ehesten als Klassenkampf der anderen Art zu begreifen: Irgendjemand muss ja das Chaos im Bankensystem aufräumen, und es sollen verdammt noch mal nicht die Banker sein.
Heute sehen wir, wie die Stimmanteile für die Parteien der Mitte in der Peripherie einbrechen. Europa hat sich bereits sehr stark selber geschadet. Es hat sein BIP dauerhaft geschrumpft, die Kurve seiner langfristigen Wachstumsentwicklung gesenkt, eine Generation ohne Arbeit und Hoffnung geschaffen und den Norden gegen den Süden in Stellung gebracht.
Vor diesem Hintergrund sollte man sich vielleicht einfach an Hippokrates erinnern, den berühmten Arzt des Altertums, statt in Kategorien wie „Anreiz“ und „Austerität“ zu denken: Hört einfach auf, ohne guten Grund Kürzungen zu beschließen! Oder wie Hippokrates gesagt hat: „Zuerst einmal nicht schaden (primum non nocere)“. Nur dann kann Europa sich darauf besinnen, wo es derzeit steht, und vielleicht den desaströsen Weg verlassen, auf den es sich im Namen von „fiskaler Redlichkeit“ und „strukturellen Reformen“ begeben hat.
Mark Blyth ist Professor of International Political Economy an der Brown University und Autor von „Austerity: The History of a Dangerous Idea“ (2013).
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 24-27