Vergänglicher Reichtum
Die Golf-Staaten bereiten sich auf das Ende des Erdöl-Zeitalters vor
Dass das Zeitalter fossiler Brennstoffe irgendwann enden wird, ist bekannt. Die arabischen Ölstaaten haben ihren Reichtum mit dem Export von Erdöl – und auch von Erdgas – geschaffen; jetzt geht es darum, andere Wohlstandsquellen zu erschließen. Für die Welt hängt viel davon ab, ob die Energie- und Gesellschaftswende in der Region gelingen kann.
Für den Machterhalt ist die Revolution der einzige Weg. Erst wenn sicher ist, dass es eine Zeit nach dem Öl gibt, wenn die Menschen sehen, dass Wachstum und Fortschritt auch ohne Petrodollars möglich sind, erst dann hat das saudische Königshaus langfristig eine Chance. Jenes Königshaus, das von einem jahrzehntealten Gesellschaftsvertrag legitimiert wird: Ihr, das Volk, lasst uns herrschen, und wir subventionieren euren wirtschaftlichen Aufschwung mit Ölmilliarden.
So etwa lautet der Deal, mit dessen Hilfe Saudi-Arabien innerhalb von zehn Jahren von 2003 bis 2013 auf Platz 19 der größten Volkswirtschaften der Welt aufgestiegen ist. Jetzt ist der Boom vorerst vorbei, der Ölpreis weniger als halb so hoch wie vor zwei Jahren, der Überschuss im Haushalt schmilzt dahin und die Herrscherfamilie ist unter Druck. Sie muss die Wirtschaft des Landes modernisieren und weniger abhängig machen vom Öl. Die Geschichte der saudischen Revolution hat begonnen.
Und sie birgt Überraschungen. Kaum eine Stimme hatte je einen derart großen Einfluss auf die Ölmärkte wie die von Ali Al-Naimi, dem langjährigen saudischen Ölminister und Architekten des Ölbooms der 2000er Jahre. Im März 2015 überraschte er mit folgendem Statement: „In Saudi-Arabien erkennen wir, dass wir eines Tages vielleicht keine fossilen Brennstoffe mehr brauchen“, sagte Al-Naimi. Der vielleicht mächtigste Erdölstratege des Planeten sprach plötzlich über Solarstrom. „Hoffentlich, eines Tages, werden wir anstatt fossiler Rohstoffe elektrische Energie exportieren. Wie klingt das?“
Der auf Jahrzehnte angelegte Wandel deutet sich also schon länger an. Es ist ein Wandel, dem sich alle Ölexporteure am Persischen Golf stellen müssen. Das Zeitalter fossiler Brennstoffe wird irgendwann enden; Ölquellen in der Wüste werden versiegen. Die Ölnachfrage steigt weiter, doch die Bedeutung von Erdöl im weltweiten Energiemix geht seit Jahren zurück. Neue Technologien stehen bereit, sie werden günstiger, effizienter und verlässlicher, Strom aus erneuerbaren Quellen wird konkurrenzfähig. Nachdem die Stromversorgung schon weitgehend ohne Öl auskommt, wird zumindest in den Industrieländern künftig auch die Nachfrage nach Erdölprodukten im Verkehrssektor abnehmen. Für die arabischen Ölstaaten geht es darum, andere Wohlstandsquellen zu erschließen.
In Saudi-Arabien nimmt dieser Umbau jetzt Gestalt an. Der 30-jährige Vize-Kronprinz Mohammed Bin Salman, der sich als Visionär inszeniert, ersetzte al-Naimi im Frühjahr durch den bisherigen Chef des Staatskonzerns Saudi Aramco, Khalid Al-Falih. Es war die prominenteste Personalie in einer Zeit des Um- und Aufbruchs. Das Königshaus baut die Zivilgesellschaft um, es reformiert das Steuer- und Subventionssystem, es setzt Ministerien neu zusammen und verteilt Kompetenzen neu. Das bisherige Ministerium für Erdöl und mineralische Rohstoffe heißt künftig „Ministerium für Energie, Industrie und mineralischen Wohlstand“. Das hat mehr als nur symbolischen Charakter. Die industrielle Entwicklung, so hofft man in Riad, soll die Abhängigkeit von der Ölindustrie und zugleich die Arbeitslosigkeit reduzieren.
Saudi Vision 2030
Im Mai stellte Mohammed Bin Salman die „Saudi Vision 2030“ vor, einen mit viel Pathos unterlegten Strategieplan zur Diversifikation der Wirtschaft. Dazu gehört die Entwicklung von Sektoren außerhalb der Ölförderung: Bergbau, Industrieproduktion, Handel, Tourismus und Gesundheitswirtschaft sollen gestärkt werden. Bis 2020 sollen 450 000 neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft entstehen. Kleine und mittlere Unternehmen, die in vielen westlichen Ländern einen Großteil zur Wirtschaftsleistung beitragen, sollen gezielt gefördert werden. In Saudi-Arabien unterhält der Staat die Wirtschaft, der Mittelstand trägt nur 20 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei.
Der Handel wächst seit Jahren mit zweistelligen Raten, beschäftigt 1,5 Millionen Arbeitskräfte – aber nur jeder Fünfte ist Saudi. „Unser Ziel ist es, zusätzliche Jobs für eine Million Saudis zu schaffen“, schreibt die Regierung. Bis 2020 sollen 90 000 zusätzliche Arbeitsplätze für den Abbau von Aluminium, Phosphat, Gold, Kupfer und weiteren Rohstoffen entstehen. Der Ölkonzern Saudi Aramco wird teilprivatisiert und soll künftig auch außerhalb des Ölgeschäfts tätig werden. Man glaube daran, dass Saudi Aramco „auch in anderen Sektoren führend sein kann“, heißt es in der „Saudi Vision 2030“.
Vor einigen Jahren hatte das Land angekündigt, bis 2030 umgerechnet 110 Milliarden Dollar in einen Solar-Kraftwerkspark mit einer Leistung von 41 Gigawatt zu investieren – das Äquivalent zu 41 mittelgroßen Atomkraftwerken. Bis 2030, so die damaligen Pläne, sollte die Hälfte des Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen stammen. Derzeit hat Erdöl noch einen Anteil von ca. 50 Prozent. Jetzt hat die Regierung ihren Plan überarbeitet: Man setzt stärker auf Erdgas als Stromquelle, die Sonne soll bis 2030 nur noch 10 Prozent zum Energiemix beitragen. „Unser Energiemix hat sich zugunsten von Gas verschoben, also brauchen wir keine so hohen Ziele für erneuerbare Quellen mehr“, sagte Minister Al-Falih. Die Erdgasproduktion solle sich mittelfristig verdoppeln. Auf diese Weise könnte Saudi-Arabien mehr Erdöl exportieren, wenn es weniger im eigenen Land verbraucht. Bin Salman sagte in einem Interview mit dem Fernsehsender Al-Arabiya gar, die Strategie werde es dem Land ermöglichen, schon 2020 „ohne Öl zu leben“. Das ist zwar unwahrscheinlich, zeigt aber den Anspruch.
Mit derart ambitionierten Plänen ist Saudi-Arabien nicht allein. In welche Richtung die Ölexporteure der Region langfristig steuern, lässt sich an den Ausbauzielen für erneuerbare Energien ablesen. Katar will bis 2020 eine Kapazität von 1,8 Gigawatt Solarkraft installieren; bis 2030 sollen Erneuerbare 30 Prozent des Bedarfs decken. Der Staatsfonds von Abu Dhabi investiert etwa 15 Milliarden Dollar in Solarstrom. Kuwait peilt bis 2030 einen Anteil von 15 Prozent Erneuerbaren in seinem Strom-Mix an. Kleine Auszüge aus einer langen Liste, die eine ganze Weltregion verändern wird.
Katar ist auf diesem Weg schon ziemlich weit gekommen. Das Emirat hat vor acht Jahren zum ersten Mal eine Zukunftsstrategie veröffentlicht: „Katar Vision 2030“. Teil davon ist die so genannte Katarisierung: Bis 2030 sollen Katarer die Hälfte aller Beschäftigten im Industrie- und Energiesektor ausmachen. Immer mehr im Ausland geschulte Katarer besetzen einflussreiche Positionen im Staatssektor und in der Privatwirtschaft. Sie werden gezielt bevorzugt. Die Infrastruktur wird weiter ausgebaut. Die Öldollars fließen über den katarischen Staatsfonds in die Welt, in Immobilien oder in Konzerne wie VW. Wenn das Öl schwindet, bleiben immer noch die drittgrößten Gasreserven der Erde und der lukrative Düngemittelexport. Inzwischen ist Katar gemessen am Pro-Kopf-Einkommen (140 000 Dollar pro Jahr) das reichste Land der Erde.
Im Vergleich zu seinen Nachbarn zieht Saudi-Arabien viel weniger Geld aus dem Ausland an. Der Tourismus beschränkt sich weitgehend auf die Pilgerreise nach Mekka, die Hadsch, die Industrieproduktion liegt auf niedrigem Niveau, die Arbeitslosigkeit jenseits der 11 Prozent. Wenn der Umbau erfolgreich werden soll, muss das Land für ausländische Investoren deutlich attraktiver werden und die vielen jungen Arbeitskräfte müssen Lust auf die Privatwirtschaft bekommen. Steffen Hertog, Saudi-Arabien-Experte an der London School of Economics, prophezeit dem Land einen „langen und schmerzvollen Weg“.
Erkaufte Herrschaftsgarantie
Um die Dimension der saudi-arabischen Wende zu verstehen, muss man weit zurückgehen in ein Land, das einst nur aus Wüste und landwirtschaftlich geprägten Siedlungen bestand. Bevor Amerikaner erstmals Erdöl fanden, war Saudi-Arabien ein bitterarmes Gebiet. 1938, im ersten Jahr des Ölzeitalters, verdiente der Staat 340 000 Dollar an Fördergebühren. Ende der siebziger Jahre waren es bereits 84 Milliarden Dollar pro Jahr – zu einer Zeit, als die Ölquellen noch immer teilweise in der Hand der Amerikaner lagen. Erst 1980 brachten die Saudis den Staatskonzern Aramco vollständig unter ihre Kontrolle.
Die gigantischen Summen aus dem Ölexport wurden zum sozialen Kitt eines Landes, das in einer unruhigen Region intern stets stabil blieb. Mit den Geldern gelang es, nahezu alle sozialen Gruppen zu begünstigen. Niedrige Steuersätze, subventionierte Energiepreise, umfangreiche Sozialleistungen und Sondersubventionen für Stammesgruppen waren die Instrumente dieser erkauften Herrschaftsgarantie, Korruption und Vetternwirtschaft ihre Folgen.
Etwa zwei Drittel aller saudischen Berufstätigen arbeiten im öffentlichen Sektor. Saudi-Arabien unterhält den drittgrößten Verteidigungsetat der Welt; die Petrodollars finanzieren etwa 250 000 Saudis unter Waffen und sichern so Einfluss und Macht in der Region. Das Herrscherhaus verstand es immer, internen Streitereien vorzubeugen, indem jeder ranghohe Prinz unabhängig über ein eigenes Budget bestimmen darf. Der Anspruch des Wandels wird mit dieser Gewissheit deutlich: Für das heutige Saudi-Arabien hängt nahezu alles – innen- wie außenpolitisch – vom Öl ab.
Das macht den Staat verwundbar, denn es setzt das System des ölfinanzierten Gesellschaftsvertrags den schwankenden Weltmarktpreisen aus. Nachdem die Dekade rekordverdächtiger Ölpreise im Sommer 2014 endete, entstand eine enorme Lücke im Staatshaushalt. Etwa 90 Prozent dieses Haushalts finanziert das Land mit Öleinnahmen. Das ist in den anderen Golf-Staaten ähnlich.
Prinz Salman ist nicht der erste, der die Rohstoffabhängigkeit des Königreichs kritisiert. Kronprinz Abdullah sagte 1998 während einer Konferenz: „Die Regierungen im Golf-Kooperationsrat sollten einsehen, dass die Boomperiode vorüber ist. Wir alle müssen uns an einen Lebensstil gewöhnen, der sich nicht ausschließlich auf den Staat verlässt.“ Kurz zuvor war der Ölpreis auf etwa zehn Dollar gefallen, in heutigen Preisen etwa 14 Dollar pro Fass. Die Ursachen waren andere, die Folgen des damaligen Preisverfalls die gleichen: Es fehlte mit einem Mal das Geld für die großzügigen Staatsleistungen. Die Herrscher wissen seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass sie die Wirtschaft diversifizieren sollten. Doch sie taten wenig. Ist Öl billig, fehlen die Mittel, den Umbau zu finanzieren. In Zeiten hoher Ölpreise ist es leichter, unangenehme Entscheidungen aufzuschieben.
Mohammed Bin Salman will diesen Zyklus durchbrechen. Der saudische Zukunftsplan sieht vor, Teile von Saudi Aramco an die Börse zu bringen – der Ölkonzern wäre schlagartig das mit weitem Abstand wertvollste Unternehmen der Welt. Universitäten, Flughäfen und Kliniken werden privatisiert, neue Steuern eingeführt, der Tourismus soll gestärkt werden. Der staatliche Investitionsfonds soll auf 2000 Milliarden Dollar anwachsen. Es wäre der größte Staatsfonds der Welt. Ohne Petrodollars wird auch dieser Plan scheitern.
Und doch war die Zeit für Reformen vielleicht noch nie so reif wie heute. Ein gutes Jahrzehnt des Ölbooms hat die Staatskasse gefüllt; mehr als 570 Milliarden Dollar stehen dem Königshaus zur Verfügung, wenngleich das Geld wegen der ausbleibenden Öleinnahmen rasch schwindet. Der 30-jährige Prinz Salman versteht sich als Sprachrohr der jüngeren Generationen, die inzwischen die Mehrheit der Gesellschaft bilden. Sein Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ist immens – westliche Diplomaten in Riad nennen ihn bereits „Mr. Everything“.
Aber die Hürden bleiben hoch. 250 000 junge Saudis drängen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt, zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als dreißig. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 Prozent, während rund zehn Millionen Arbeiter aus Ländern wie Pakistan und Bangladesch die einfachen Jobs ausüben. Der saudische Arbeitsmarkt sei ein „Insider-Outsider-System“, in dem manche Zugang zu den Privilegien von Staatsjobs haben und andere nicht, sagt Steffen Hertog. Die anderen, das seien üblicherweise die Jüngeren. Es wird nicht leicht, genügend Jobs zu schaffen, und noch schwerer, solche zu schaffen, die nicht vom Ölgeschäft abhängen.
Die anderen Staaten des Golf-Kooperationsrats stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Für die Welt wird viel davon abhängen, ob die Energie- und Gesellschaftswende in der Region gelingt. Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate halten ein Drittel aller verfügbaren Öl- und etwa ein Fünftel der Erdgasvorkommen. Es bricht eine Zeit an, in der Solarparks neben Fördertürmen entstehen, in der aus Sonnenlicht immer mehr Strom und aus Erdöl weiterhin Benzin wird. Ohne die Gewissheit, noch sehr lange vom Rohstoffexport zu profitieren, würden die Volkswirtschaften am Persischen Golf schon jetzt nicht mehr funktionieren. Die entscheidende Frage ist, ob sie den vergänglichen Reichtum klug genug nutzen, um die Zukunft nach dem Öl zu gestalten.
Jan Willmroth ist Redakteur im Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 105-109