Titelthema

26. Juni 2023

Ökonomische Scheinriesen

Ist die Demokratie der Diktatur wirtschaftlich unterlegen? Nein. Die größte Gefahr für freiheitliche Staaten sind nicht die Autokratien an sich, sondern der mangelnde Glaube an die eigene Stärke und das wollüstige Suhlen in Niedergangsfantasien.

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Bild: Einkaufszentrum in Hanam (Südkorea)
Wahlfreiheit, auch beim Shoppen: Wenn es um Autos, Kühlschränke und Jeans geht, scheinen demokratische Gemeinwesen (hier: Hanam, Südkorea) ihrer autokratischen Konkurrenz überlegen zu sein.
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Am Anfang war der Marketinggag. Im Jahr 2001 prägte Jim O’Neill, der Chefökonom der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, den Begriff BRIC. Das Akronym steht für Brasilien, Russland, Indien und China und fasste damals eine Gruppe von Staaten mit rasantem Wirtschaftswachstum zusammen.

Die vier Länder waren sehr unterschiedlich, und es bedurfte schon der Nonchalance der Banker von Goldman Sachs, um diese Schwellenländer in einen Topf zu werfen.

Der Begriff entwickelte jedoch ein Eigenleben, was so weit ging, dass im Jahr 2009 im russischen Jekaterinburg der erste BRIC-Gipfel stattfand. Selbstbewusst sprachen die Regierungschefs und Staatsoberhäupter der vier Länder von einer Plattform zur Zusammenarbeit. Später trat noch Süd­afrika der Vereinigung bei, die seitdem BRICS heißt. Im Jahr 2014 wurde zudem eine Entwicklungsbank als Alternative zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank gegründet.

 

Pekings unaufhaltsamer Aufstieg

Seitdem reißen die Vorhersagen nicht ab, wann die BRICS-Länder die G7-Staaten Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada und die USA ökonomisch überholen werden. Wenn die BRICS-Länder einen größeren Anteil an der Weltwirtschaft hätten als die G7, dann wäre das für viele ein weiterer Beleg dafür, dass der Westen auf dem absteigenden Ast ist. Die wirtschaftliche Stärke der BRICS beruht aber vor allem auf dem unaufhaltsamen Aufstieg Chinas in den vergangenen 20 Jahren.

Im Klub der aufstrebenden Mächte sind laut den jüngsten Einschätzungen der Organisation Freedom House Südafrika und Brasilien politisch frei, Indien teilweise frei sowie China und Russland unfrei. Die Gruppe wird allen Unterschieden zum Trotz geeint durch den Glauben an einen „starken Mann“; sie lebt vom Nimbus, dass sie eine Alternative zu den liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts darstelle. Der Iran, Saudi-Arabien und weitere Staaten interessieren sich für eine Mitgliedschaft. Teilweise schwingt im Westen eine Art Bewunderung besonders für die autokratischeren Staaten der Gruppe mit: Kein mühsames politisches Theater, wie in Demokratien üblich, lenke davon ab, ein klares Ziel zu erreichen, heißt es dann.

Fast schon Verzückung lösen mancher­orts asiatische Wachstumsdiktaturen aus, die ebenso wie China lange Zeit die hohen Erwartungen an das Wirtschaftswachstum beinahe auf die Kommastelle genau erfüllten. Demgegenüber suhlen sich manche westliche Schwarzseher in Schilderungen, wie kurzsichtig und verblendet demokratische Politiker seien.

Die Finanzkrise 2007/08 hat zudem erhebliche Zweifel an der Überlegenheit des westlichen Wirtschaftssystems aufkommen lassen. Je mehr die Rivalität zwischen den USA und China auch als ein Systemwettbewerb verstanden werden muss, desto stärker rückt eine alte Frage in den Vordergrund: Wie wirtschaftlich erfolgreich sind undemokratische Länder?

Vor wenigen Jahren stellte Daron Acemoğlu vom Massachusetts Institute of Technology zusammen mit seinen Ko­autoren in einer viel rezipierten Studie fest, dass die Demokratie einen positiven Effekt auf die Wirtschaftsleistung pro Kopf habe. Diese Frage bleibt dennoch heiß diskutiert, weil Ursache und Wirkung nicht so leicht zu bestimmen sind. Führt Demokratie zu mehr Wachstum oder umgekehrt?

Singapur und China sind Beispiele für eine – lange Zeit – erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung mit der „harten Hand“. Aber für jede Autokratie, die schnell gewachsen ist, gibt es mehr als genug undemokratische Länder, die an der Aufgabe gescheitert sind, Wachstum zu generieren. Hingegen sind die meisten reichen Staaten Demokratien – ausgenommen diejenigen, deren Wohlstand auf Bodenschätzen beruht. Demokratisch regierte Länder investieren mehr in die Ausbildung der Bevölkerung, ins Gesundheitswesen, und sie sind besser darin, für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Autoritäre Regime dagegen schaffen häufig wirtschaftlich und politisch fragile Systeme.

 

Nachts in Nordkorea

Möglicherweise gibt es sogar eine einfache Erklärung dafür, dass Autokratien als erfolgreich empfunden werden: Autokraten lügen mitunter, wenn es um ihre Wachstumszahlen geht. Der Ökonom Luis Martínez hat sich daher etwas vorgenommen, das man nicht fälschen kann: Er verwendet Satellitenbilder, die die Beleuchtung von Ländern in der Nacht messen. Dies lässt sich als Maßstab für die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern verwenden. So ist frappant, wie dunkel Nordkorea und wie hell Südkorea in der Nacht ist.

Martínez vergleicht die ausgewiesenen Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt mit der Intensität der Beleuchtung und kann so herausfinden, ob ein Land womöglich sein offiziell angegebenes Wirtschaftswachstum aufbläht. Wenn die Länder nach ihrer politischen Verfassung eingeteilt werden, ergibt sich ein klares Bild: Autokratien neigen im Vergleich mit Demokratien dazu, ihr jährliches Wirtschaftswachstum um gut ein Drittel zu übertreiben.

Nun gibt es in beiden Systemen Anreize, sich erfolgreicher nach außen darzustellen, als man tatsächlich ist. Der Unterschied: In Autokratien ist dies leichter möglich, weil die Kontrolle durch Öffentlichkeit und Medien fehlt und weil auch Untergebene zu diesem Mittel greifen, um die Vorgaben des Autokraten zu erfüllen. Die Illusionen gegenüber totalitären Systemen haben aber Tradition: So wurde bereits das Wachstum der Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges zwischen 1960 und 1980 in US-Lehrbüchern überschätzt.

Der Glaube an eine Überlegenheit der westlichen Demokratien wiederum hat sich, wenig verwunderlich, besonders nach dem Fall der Sowjetunion gefestigt. Die Planwirtschaft der kommunistischen Länder war der Marktwirtschaft offensichtlich unterlegen: Moskau hatte zwar Raketen zu bieten, die dem Westen ebenbürtig waren. Wenn es jedoch um Autos, Kühlschränke und Jeans ging, versagte das System. Die Marktwirtschaften waren zudem besser als die Planwirtschaften darin, mit neuen Ideen aufzutrumpfen.

 

Neuer Typus des Autokraten

Sind also persönliche Freiheiten, politische Partizipation, die Wahrung von Eigentumsrechten und rechtsstaatliche Verfahren der unerlässliche Humus für Innovation, die wiederum die Grundlage von Wohlstand ist? Ganz so einfach ist es nicht. Die Überzeugung, dass mehr Wohlstand automatisch zu mehr Demokratie führt, und mehr Demokratie unzweifelhaft zu mehr Wohlstand, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem durch die Entwicklung Chinas infrage gestellt worden.

Das hängt auch mit der Anpassungsfähigkeit von Autokratien zusammen. Technologische Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass die Methoden der Repression subtiler wurden. Die Ökonomen Sergei Guriev und Daniel Treisman beschreiben, dass ein neuer Typus des autokratischen Herrschers entstanden sei: Statt Angst und Schrecken zu verbreiten, manipuliert er die Information, kauft das Schweigen der Elite, übt Zensur und verbreitet Propaganda. In einer globalisierten Welt mit ihren Wohlstandsgewinnen führt die Abnabelung eines Landes wie unter einer „alten“ Diktatur zu hohen Kosten. Besser ist es aus der Sicht von Autokraten, mithilfe eines unechten Pluralismus Kompetenz zu vermitteln und Wirtschaftswachstum zu unterstützen.

Auch ökonomischer Erfolg aber kann einen Autokraten in Bedrängnis bringen: So fordert eine neue, gut ausgebildete Mittelschicht in der Regel mehr politische Rechte. Propaganda, Zensur und Betrügereien wie bei den Wachstumszahlen helfen, die Wucht der Forderungen abzudämpfen – wenn auch nicht für immer. Aber auch das Gegenteil, ein Nachlassen des wirtschaftlichen Erfolgs, ist für das Regime gefährlich. Eine mögliche Antwort für einen Autokraten ist es, die Schrauben der Repression wieder anzuziehen.

Unabdingbar ist es dabei, die Technologien zur gesellschaftlichen Kontrolle zu verfeinern und auch selbst zu entwickeln. Es trifft sich, dass viele Anwendungsgebiete der Digitalisierung nicht nur zur Kontrolle gut sind; sie werden auch gleichzeitig als die Zukunftsfelder für die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet. Deshalb geraten Autokratien heute tendenziell weniger ins Hintertreffen als im Kalten Krieg, der vor allem durch militärisches Wettrüsten geprägt war. Ein neuer Kalter Krieg zeichnet sich derweil im Wettstreit um Künstliche Intelligenz, Halbleiter und Telekommunikationssysteme ab.

Die US-Denkfabrik Information Technology and Innovation Foundation warnt bereits davor, dass China auf dem Sprung sei, bei Innovationen und der Industrieproduktion von Hochtechnologiegütern die USA zu überholen. China werde vom Imi­tator zum Innovator. Seit 2015 werden in China mehr Patente als in den USA angemeldet. Derzeit scheint es aber immer noch so, dass China vor allem in den Bereichen aufholt, in denen staatliche Akteure klare Zielvorgaben erhalten: bei Hochgeschwindigkeitszügen, bei Passagierflugzeugen.

In westlichen Ländern wird aber noch mehr für Grundlagenforschung ausgegeben; es wird auch weniger auf Staatsunternehmen als Träger der Forschungstätigkeit gesetzt. Demokratien sind weiterhin besser als Autokratien dafür gerüstet, einen Ordnungsrahmen für die neuen Technologien und den Datenkapitalismus zu schaffen, in dem der Wettbewerb gefördert, zentrale Systemfehler minimiert und die Autonomie des Individuums geschützt werden. Auch wenn es nicht immer so erscheint: In Demokratien ist Politik ein geringeres Klumpenrisiko als in Autokratien.

Dass Demokratie und Wohlstand Hand in Hand gehen, ist kein Marketinggag. Die größte Gefahr für Demokratien sind auch nicht die Autokratien an sich, sondern der mangelnde Glaube an die eigene Stärke und das wollüstige Suhlen in Niedergangsfantasien. Vielmehr gilt es, für die eigenen Grundlagen einzustehen: für demokrati­sche Wahlen, friedlichen Interessenaustausch, Rechtsstaatlichkeit, offene Marktwirtschaft und Meinungsfreiheit.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 38-41

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Gerald Hosp ist Wirtschaftsredakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Nach seinen Aufenthalten als Wirtschaftskorresondent in Russland und dem Vereinigten Königreich ist Hosp in Zürich für internationalen Handel, Energie und Rohstoffe zuständig.

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