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29. Okt. 2020

„Nächstes“ oder „letztes“ Kapitel

Ein 8-Punkte-Plan zur Wiederbelebung der Vereinten Nationen. Warum die Zeit jetzt reif dafür ist.

Manchmal entsteht Außerordentliches gerade in schwierigen Zeiten. Als der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und Großbritanniens Premierminister Winston Churchill 1941 die Atlantik-Charta formulierten, war so ein Moment. Lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs planten die beiden bereits die spätere internationale Ordnung und verbanden acht Kernpunkte mit der „Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt“. Diese „Atlantik-Charta“ bildete zusammen mit der „Erklärung der Vereinten Nationen“ aus dem Jahr 1942 die Basis für die Gründung der Vereinten Nationen 1945, die die Menschheit „vor der Geißel des Krieges bewahren“ sollte. Seither sind 75 Jahre vergangen. Auch heute befinden wir uns in schwieriger Zeit. Die Welt ist in Aufruhr. Nicht so offensichtlich wie damals, aber wieder ist die Lage kritisch.

Wir sehen Risse durch und zwischen Gesellschaften; wir erleben soziale Spannungen auf allen Kontinenten, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und einen Planeten, der an seine Grenzen kommt. Ob Wassermangel, Verlust an Biodiversität oder die Erwärmung der Erde – die Menschheit übernutzt ihre natürliche Grundlage um ein Vielfaches. All das ist oft gesagt, aber deshalb nicht minder wahr. Und als wäre das alles noch nicht genug, als würde uns der Kampf gegen Armut, die Umstellung auf eine CO2-freie Welt und ein nachhaltigeres Wirtschaften nicht schon Kraft genug kosten, finden wir uns nun auch noch in einer der größten Pandemien der Neuzeit wieder. Zwei beispiellosen Mega-Herausforderungen mit globaler Reichweite gleichzeitig zu begegnen, sollte als Motivation für gemeinsames Handeln, für internationale Zusammenarbeit eigentlich genügen.

 

Eine „Ich-zuerst-Mentalität“

Und doch sehen wir derzeit mehr vom Gegenteil – neue Nationalismen und „Ich-zuerst-Mentalitäten“. Das Phänomen zeigt sich in vielen Ländern, aber ganz besonders in den USA: Austritte aus dem UN-Menschenrechtsrat und der UNESCO, ein angekün­digter Rückzug aus der Weltgesundheitsorga­nisa­tion, ausgerechnet auf der Höhe der Pandemie, ein fast vollzogener Austritt von der Paris-Übereinkunft zum Klimaschutz, eine lahmgelegte Welthandels­organisation und eine generelle Skepsis gegenüber diversen anderen UN-Organisationen wie dem Bevölkerungs­fonds oder dem Internationalen Strafgerichtshof. Was ist in den 75 Jahren geschehen? Ist die Geschichte der UN am Ende eine Geschichte des Scheiterns? Um das zu analysieren, lohnt ein kurzer Blick zurück.

Tatsächlich konnten die UN die Verheißung von einer umfassend friedlichen Welt nie im erhofften Maß einlösen. Schon in der Nachkriegsära flammten (neue) Konflikte von Korea bis Kuba, von Nahost bis Südasien, von Berlin bis Budapest auf. Zugleich lähmte der Kalte Krieg den Handlungsdrang der Weltorganisation. Deshalb stellte sich nicht nur in den USA bald Ernüchterung ein. Auch die Sowjetunion betrieb ihre eigene, an der Moskauer Interessenlage orientierte UN-Politik. China, wie die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, wurde nach 1949 nicht von der Regierung in Peking, sondern von den nach Taiwan vertriebenen „Nationalchinesen“ repräsentiert – bis zur Übernahme des UN-Sitzes durch Peking 1971 eine Quelle ständiger Friktion. Dazu kam, dass sich ab den sechziger Jahren die Kräfteverhältnisse in den UN verschoben, hervorgerufen durch den Beitritt vieler unabhängig gewordener Staaten vor allem in Afrika. Dadurch gerieten die Führungsmächte zumindest in der Generalversammlung in die Defensive.

 

Wechselhafte Beziehungen

Im Falle der USA ist das Verhältnis zu den UN spätestens seit der Reagan-Regierung als wechselhaft zu bezeichnen. Man war unzufrieden mit einer, so der Vorwurf, „politisierten“ Institution. In den neunziger Jahren folgten Spannungen mit dem sechsten UN-Generalsekretär, dem Ägypter Boutros Boutros-Ghali, dem die Amerikaner sogar eine sonst übliche zweite Amtszeit verweigerten, und eine Rücktrittsforderung gegen den respektierten Ghanaer Kofi Annan.



Schon vorher gerieten Generalsekretäre regelmäßig zwischen die Fronten und an den Rand ihrer Belastung. Vom ersten UN-Generalsekretär, dem Norweger Trygve Lie, ist das Zitat überliefert: „Das Amt des Generalsekretärs ist die unmöglichste Aufgabe der Welt.“ Das sagte er, als er seinen Nachfolger, den Schweden Dag Hammarskjöld, auf dem Flughafen in New York empfing. Er war, vor allem wegen heftiger sowjetischer Kritik an seiner Amtsführung, zurückgetreten. Hammarskjöld übernahm den Posten 1953 und starb 1961 unter immer noch nicht völlig geklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz, während er sich auf einer Mission zur Befriedung des Kongo befand. Und der Burmese Sithu U Than, der dritte Generalsekretär, hatte nach einer Amtszeit genug; er wollte eigentlich aufhören, weil er – vor allem im Blick auf den Vietnam-Krieg – nicht so viel bewirken konnte, wie er hoffte. Er blieb dann doch für weitere fünf Jahre auf seinem Posten.

Schon diese wenigen Ausschnitte aus der UN-Geschichte zeigen, dass die UN nie das seligmachende Gremium waren, als das sie sich mancher vorgestellt haben mag. Die kurze Phase nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als US-Präsident George Bush sen. eine neue Weltordnung ausrief und man annahm, jetzt würden alle großen Themen gemeinsam angepackt, vom Umweltschutz über die Armutsbekämpfung bis zu neuen Blauhelm-Konzepten, blieb ein Zwischenhoch.



Nie die Existenzfrage gestellt

Doch trotz aller Distanz haben die USA genauso wie alle anderen skeptischen Staaten stets weiter in den UN mitgear­beitet. Sie mögen sich von einzelnen Programmen abgewendet haben (auch Großbritannien war in den achtziger Jahren aus der UNESCO ausgetreten), sie mögen gedroht haben, aber sie haben nie die Existenzfrage gestellt. Warum? Weil auch für nüchternere Mitgliedstaaten als Deutschland, das durch den deutsch-deutschen Beitritt 1973 seinen Paria-Status abschütteln und in die Weltgemeinschaft zurückkehren konnte, am Ende der Gleichung immer ein Plus stand. Weil sie letztlich doch von dieser Weltorganisation profitierten. Und so hat kein Staat den UN je den Rücken gekehrt (der zeitweilige Rückzug Indonesiens Mitte der sechziger Jahre blieb Episode). Es sind im Gegenteil immer mehr dazugekommen: 51 Länder damals, heute 193.

Das hat viele Gründe, und der offensichtlichste ist zugleich der angreifbarste: um Kriege und Konflikte abzuwenden. Wer heute in die Welt blickt, sieht sofort, dass wir alles andere als konfliktfrei sind und es auch während der 75-jährigen UN-Geschichte nie waren – vom Jemen über Syrien bis Afghanistan und der Ukraine. Überall gibt es Brandherde, die die UN nicht zu löschen vermögen; häufig, weil der politische Wille oder die Ressourcen fehlen oder weil der Sicherheits­rat blockiert ist. Andererseits fiel seit 1945 keine Atombombe und selbst der größte schwelende Konfliktherd der vergangenen Jahrzehnte, der Nahe Osten, konnte weitgehend eingedämmt bleiben.

Von den vielen Krisen, die man auf Sparflamme halten konnte, ganz zu schweigen: Zypern, Indien-Pakistan, Westsahara, um nur einige zu nennen. Sie sind nicht gelöst, aber sie haben sich auch nicht zu heißen, lang andauernden Kriegen entwickelt. Das ist kein durchschlagender, aber ein ordentlicher Erfolg, zumal sich die Kosten für UN-Einsätze sehr in Grenzen halten: Mit zuletzt rund 6,5 Milliarden Dollar im Jahr für zwölf Friedensoperationen betrugen sie weniger als 0,4 Prozent der weltweiten Militärausgaben.

Die Bilanz auf dem Gebiet von Krieg und Frieden ist also gemischt – und nicht nur negativ, wie gelegentlich suggeriert. Ähnlich formulierte Dag Hammarskjöld seinerzeit die Erwartung an die Weltorganisation, als er sagte, die UN seien nicht gegründet worden, „um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu bewahren“.



Die operative Arbeit ist unterschätzt

Das gilt auch für alle anderen Themen, die de facto den größten Teil der UN-Arbeit ausmachen. Meist werden die UN als politisches Gremium betrachtet, was sie natürlich auch sind, aber ihren operativen „Arm“ übersieht man viel zu oft. Tatsächlich haben die Mitgliedstaaten dafür über die Jahre eine Infrastruktur an Organisationen und Programmen geschaffen, die in über 190 Ländern der Welt aktiv sind und dort tagtäglich viele kleine Höllen verhindern. Sie haben entscheidend dazu beigetragen, die Pocken auszurotten und Polio weitgehend zurückzudrängen. Sie helfen Menschen nach Naturkatastrophen wie dem Tsunami 2004; sie versorgen Hungernde am Horn von Afrika, sie unterhalten Flüchtlingslager wie in Kenia oder Jordanien, sie leisten Hilfe, wenn in Beirut eine Hafenanlage in die Luft fliegt.

Und sie sind auch jetzt zur Stelle in Zeiten von Corona. Während viele internationale Hilfsorganisationen ihre Büros zeitweise geschlossen haben, sind die UN präsent. Das UN-Entwicklungsprogramm hat kein einziges Landes verlassen und keine Herausforderung gescheut. Die UN sind fast immer die ersten, die kommen und die letzten, die gehen. Auf diese Weise hat die Weltorganisation seit 1945 Millionen von Leben gerettet. Und das zu überschaubaren Kosten. Ein Beispiel mag das illustrieren: Deutschlands Beitrag zum regulären UN-Budget kommt umgerechnet auf weniger als 2,30 Euro pro Kopf. Und selbst wenn man alle Leistungen für UN-Friedensmissionen, humanitäre Hilfe und Entwicklungsaufgaben zusammenrechnet, entspricht das nicht einmal einem Fünftel der durchschnittlichen Ausgaben einer deutschen Familie für die Müllabfuhr im Jahr. Also durchaus zumutbar.

Auch bei Normen und Standards haben sich die UN verdient gemacht. Mehr als 500 internationale Verträge sind bei der Weltorganisation hinterlegt: Abrüstungsübereinkommen genauso wie Konventionen zu Menschenrechten, zum Handel mit gefährdeten Arten oder zum Status von Flüchtlingen. Eine derartige Kodifizierung ist in der Menschheitsgeschichte einmalig. Auch die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) und ihre Nachfolger, die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), hat es in dieser Form nie zuvor gegeben. Sie haben ebenfalls nicht den Himmel auf Erden, aber doch deutliche Fortschritte gebracht: weniger Armut, weniger Hunger, weniger Analphabeten, weniger ungewollte Schwanger­schaften, weniger Ausgrenzung – und das alles innerhalb von zwei Jahrzehnten.



Klimaschutz und Entkolonialisierung

Unerwähnt bleiben darf schließlich auch nicht die Geschichte des Klimawandels beziehungsweise der Kampf dagegen, der untrennbar mit den UN verflochten ist. Wir mögen noch nicht dort sein, wo wir sein wollen und sollten – ich bin der Letzte, der das behauptet. Aber wir wissen heute, was zu tun ist. Die Wissenschaft hier eingebunden zu haben, wie das mit dem Weltklimarat, dem Intergovernmental Panel on Climate Change, geschehen ist, erlaubt Politikern, faktenbasierte Entscheidungen zu treffen. Ein Konstrukt, das als Vorbild auch für andere Themen taugt, in denen Sachverstand und Expertise entscheidend sind.

Dazu kommen politische Dienstleistungen, die die UN permanent erbringen: Sie haben über die Jahre die Unabhängigkeit von mehr als 80 früheren Kolonien mit rund 750 Millionen Bewohnern begleitet. Heute unterstützen sie rechnerisch fast jede Woche ein Land beim Abhalten von Wahlen. Und dann wären da noch die vielen fast unsichtbaren Arbeiten im Hintergrund: Wettervor­hersagen über die World Metereological Organi­zation; geregelter internationaler Postverkehr über die Universal Postal Union und weitgehend unfall­freier ziviler Luftverkehr aufgrund der International Civil Aviation Organization – drei Beispiele aus einer langen Liste, die zeigen, wo die UN zum Wohle aller tätig sind.



Ein realistischer Ambitionismus ist gefragt

Trotz dieser Verdienste wächst in vielen Hauptstädten das Misstrauen gegenüber den UN. Und obwohl Klimawandel und Corona-Pandemie keinen anderen Schluss zulassen, als dass sich globale Probleme nur global lösen lassen, sehen wir ausgerechnet jetzt eine zum Teil politisch geschürte Abkehr vom multilateralen Gedanken. Hier gilt ein Wort von Willy Brandt, der in den siebziger Jahren sagte: „Manche Kritik an den Vereinten Nationen klingt bitter, zynisch, ist von fast jubilierendem Pessimismus begleitet – so, als hoffe man heimlich, dass die Schwächen der Organisation Idee und Ziel widerlegten. Doch Rückschläge auf dem Weg zu einem Ideal beweisen nicht notwendig, dass jenes Ideal falsch ist, sondern oft nur, dass der Weg besser sein könnte.“

Ganz in diesem Sinne geht es jetzt darum, die Idee den heutigen Gegebenheiten anzupassen und dafür einen noch besseren Weg zu finden. Wir brauchen einen realistischen „Ambitionismus“, der nichts überhöht und nichts kleinredet, mit intelligenteren Methoden als reiner Machtpolitik und Wettbewerb, wie sie das 20. Jahrhundert dominierten. Was damals als „Softy-Allüre“ galt, auf Kooperation zu setzen, ist heute das Gebot der Stunde. Die Krisen der vergangenen Jahre – vom Terrorismus über Flüchtlingsströme und Umweltkatastrophen bis zur Pandemie – haben uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie relativ der Begriff der Souveränität ist und dass wir die Globalisierung nicht abschaffen können, sondern ihren Charakter verändern müssen.

Wirtschaft und Finanzen dürfen nicht die allein entscheidenden Kriterien sein; Gerechtigkeit, Gesundheit, Bildung und Umwelt sind genauso wichtig. Um das zu erreichen, brauchen wir besser funktionierende globale Strukturen und eine frische Sicht auf die UN: Die Weltorganisation kann nicht nur von Partikularinteressen dominiert, nicht à la carte „genutzt“ und „benutzt“ werden, weil sie sonst an Legitimität verliert. Globale Lösungen und damit verbundene Kompromisse sind kein Widerspruch zu nationalen Interessen, sondern Voraussetzung dafür, dass wir handlungsfähig bleiben.



Acht Maßnahmen als Ansporn

Für die Wiederbelebung der Vereinten Nationen schlage ich deshalb einen neuen 8-Punkte-Plan vor:

  1. San Francisco 4.0: Einen Dialog zur Neuausrichtung der UN in die Wege leiten, der Gegenwart und Zukunft der UN neu bestimmt und Schritt für Schritt zu einem Konsens à la San Francisco führt. Daraus lassen sich dann auch weitergehende und längst überfällige Reformen der UN-Organisation ableiten.
  2. Prävention: Auf dem Gebiet von Frieden und Sicherheit muss der Prävention eine wahrhaft zentrale Rolle zugesprochen werden. Dazu müssen Generalversammlung und Sicherheitsrat dem Generalsekretär klarere Mandate, Instrumente und Mittel geben, damit politische Mediation und Blauhelmeinsätze nicht erst als Feuerwehr eingesetzt werden, wenn es schon brennt.
  3. Entwicklung: Die Entwicklungspolitik zu einem zentralen Baustein der internationalen Zusam-menarbeit machen. Die SDGs sind dafür der gemeinsame Kompass. Ohne Fortschritte bei der Armutsbekämpfung führt die Globalisierung zu einer Polarisierung in und zwischen Nationen. Das birgt Risiken, von denen niemand ausgeschlossen bleibt. Die Etats für Entwicklungszusammenarbeit sind daher keine Almosen, sondern Investitionen in eine gemeinsame Zukunft, und sollten auch als solche betrachtet werden.
  4. Humanitäres: Die humanitäre Hilfe, die bereits Unermessliches bewirkt hat und künftig bewirken kann, neu ausrichten. Dabei müssen die UN und nichtstaatliche Organisationen zusammen als „globales Sicherheitsnetz“ fungieren können. Dazu gehört auch ein zeitgemäßes Finanzierungsmodell mit einem jährlich neu aufzustockenden „Weltnothilfefonds“, der schnelle, koordinierte und effektive Hilfe in Krisensituationen bereitstellt und damit langfristig auch Flüchtlingsströme verhindert.
  5. Normen und Werte: Die Rolle der UN bei Normen, Werten und Menschenrechten stärken und ihr wieder mehr Legitimität verschaffen. Nicht im Sinne einer Weltpolizei, aber die gegenwärtige durch geo- und realpolitisches Kalkül geprägte Missachtung dieser Werte vonseiten vieler Mitgliedstaaten hat der Glaubwürdigkeit der UN schwer geschadet. Der normative und in vielen Bereichen völkerrechtlich verpflichtende Auftrag der UN muss bei der Weiterentwicklung der Instrumente und Institutionen eine zentrale Rolle spielen.
  6. Klimawandel: Die Erderwärmung als die Zukunftsheraus­for­derung schlechthin anerkennen. Weltklimarat und Konvention waren unabdingbare Instrumente auf dem holprigen Weg zu einer „gemeinsamen Weltklimapolitik“, aber in ihrer gegenwärtigen Ausprägung geraten sie an Grenzen. Deshalb müssen wir Finanz-, Wirtschafts- und Klimapolitik zusammenbringen und die Verantwortlichkeiten dafür – auch organisatorisch – neu ausrichten.
  7. Digitalisierung: Die Digitalisierung zur Priorität der UN im 21. Jahrhundert machen und diese vierte industrielle Revolution international begleiten. Die UN sind ein wichtiges Forum, um die Digitalisierung allen zugänglich zu machen, aber auch um durch eine gemeinsame Gestaltung dieser „neuen Welt“ vor Risiken wie Cyberkriminalität und Cyberwar zu schützen.
  8. Kommunikation: Den Nutzen der UN besser sichtbar machen, nicht zuletzt bei der Jugend. Nur so kann die Weltorganisation dem Anspruch „Wir, die Völker...“ aus ihrer Charta gerecht werden. Dazu gehört auch, Länder zu über­zeugen, dass die UN die beste gemeinsame „Versicherung“ gegen die großen Risiken des 21. Jahrhunderts sind und sie deshalb endlich ein neues realistisches und vor allem dauerhaftes Finanzierungsmodell benötigen.

Das ist keine vollständige Liste, auch keine fertige Strategie, sondern als Orientierung für einen Dialog der „Mutigen“ zur Erneuerung der Vereinten Nationen gedacht, die wir ganz dringend brauchen. Andernfalls werden wir womöglich wirklich das „letzte Kapitel“ schreiben und einen Rückfall in längst vergangene Zeiten erleben. Die UN sind kein Allheilmittel. Aber sie sind, wenn richtig eingesetzt, ein solides Instrument zur Lösung von Problemen in unserer globalen Welt. Das sieht, wie aktuelle Meinungsumfragen zeigen, übrigens auch die Mehrheit der Weltbevölkerung so.



Die Europäer als Vorreiter

Die Europäer, die durch einen historischen Wiederaufbaufonds ihren Willen zum Multilateralismus gerade erst eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben, sind besonders geeignet dafür, die Wiederbelebung der UN voranzutreiben. Und Deutschland mit seinem exzellenten Ruf in der Welt erst recht. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, die schon fast sprichwörtlich größere Verantwortung, welche die beiden Bundespräsidenten Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier wiederholt forderten, tatkräftig zu übernehmen, und zwar in und mit Europa, nicht im Alleingang. Die Zeit dafür mag ungut sein, aber manchmal entstehen eben die besten Ideen und die wertvollsten Entschlüsse in den bedrohlichsten Momenten.

 

Achim Steiner ist Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, Stell­vertretender Generalsekretär und der ranghöchste Deutsche bei den Vereinten Nationen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, Oktober 2020

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