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19. Dez. 2013

Mehr Integration, mehr Demokratie

Deutschlands Europapolitik hat zwei Modelle zur Auswahl

Deutschland hat als überdurchschnittlich globalisiertes Land ein vitales Interesse am Erfolg der Europäischen Union. Auch deshalb wird es öfter und entschiedener führen müssen. Eine vertiefte Integration ist dabei nicht eine Alternative von vielen, sondern die Alternative zum Scheitern. Im Nichthandeln liegt der Keim der nächsten Krisenphase. Ein Grundsatzpapier.

Das Projekt der europäischen Integration hat durch die schwere Krise der EU an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren – nach innen wie nach außen. Manche Kritiker und Zweifler folgern daraus, das Projekt selbst habe sich überlebt: Der europäische Einigungsprozess, so die These, habe dem Kontinent in mehr als 60 Jahren einen zuvor ungekannten Frieden, Wohlstand und Freiheit beschert – und damit sein natürliches Ende erreicht. Als Ausweg aus der Krise stünden demnach nur zwei Optionen zur Verfügung: ein „Gesundschrumpfen“ oder das Verharren im Status quo.

Die Geschichte der europäischen Integration ist aber keineswegs zu Ende; für sie hat nur ein neues Kapitel begonnen. Es geht nun darum, Europas Handlungsfähigkeit und demokratische Legitimität in Zeiten der Globalisierung und des Aufstiegs neuer Mächte zu sichern. Erst die wirtschaftliche und politische Integration hat den Staaten Europas im Verbund das internationale Gewicht verliehen, das auch die Großen des Kontinents allein nicht mehr auf die Waagschale bringen; und ohne Fortentwicklung dieses Projekts wird ­­­Europa die Herausforderung der ­Globalisierung nicht bestehen.

Wozu Europa?

Deutschland hat als überdurchschnittlich globalisiertes Land ein vitales Interesse am Erfolg der europäischen Integration – von der es profitiert hat wie kaum ein anderer Mitgliedstaat. Seine Geschichte, seine Lage, aber noch mehr seine gegenwärtige wirtschaftliche Stärke und sein neues geopolitisches Gewicht geben ihm zugleich eine besondere Ver­antwortung für den Erhalt und die Fortentwicklung der Europäischen Union. Deutschland wird hier öfter und entschiedener führen müssen; aber für gemeinsame europäische Ziele, und nur für und mit den anderen Mitgliedstaaten.

Die Überwindung der Krise ist ­außerdem Voraussetzung dafür, dass Deutschland andere strategische Ziele erreicht: ohne wirtschaftliche Gesundung und Stabilisierung der Euro-­Zone kein langfristiger Wachstumspfad für die Bundesrepublik; ohne Überwindung der Krise keine europäische Hebelkraft für Deutschlands globale ­Ordnungsideen. Ziel deutscher Europapolitik muss es daher sein, die Gemeinschaft zu vertiefen, um sie zu befähigen, die inneren und äußeren Herausforderungen der Union zu bewältigen. Es geht nicht um die Schaffung eines europäischen Superstaats. Wohl aber gilt es, durch weitere Integrationsschritte das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Union wieder herzustellen und die demokratische Legitimität von Entscheidungen in der EU zu verbessern. Die Stärkung der Euro-Zone muss dabei austariert werden mit dem Ziel, alle EU-Mitgliedstaaten in der Gemeinschaft zu halten.

Der Preis des Scheiterns

Europas Krise ist vieles für viele, und vieles gleichzeitig: Banken- und Staatsschuldenkrise, Anpassungs- und Wachstumskrise, politische und soziale Krise, Führungs- und Legitimationskrise. Ihre potenzielle Lösung bringt weitere Gefahren mit sich: Die Vertiefung der europäischen Integration selbst kann die Union spalten. Da die Krise bedrohlich bleibt, ist jetzt die Zeit gekommen, jenseits des Krisenmanagements und des Pragmatismus der kleinen Schritte die Architektur Europas so zu reformieren, dass sie künftig besser gegen Krisen gewappnet ist.

Bedrohlich ist die Krise deshalb, weil sie aus einem akuten in einen chronischen Zustand übergehen und damit das gesamte europäische Einigungswerk zum Scheitern bringen könnte. Und auch Deutschlands gegenwärtige Stärke ist keineswegs unbegrenzt: Die Überalterung der deutschen Gesellschaft könnte dem Wirtschaftswunder ein Ende bereiten; es ist der Süden, der ökonomische Reformen umsetzt, nicht Deutschland; und die anderen EU-Staaten werden Deutschlands Einfluss einhegen wollen.

Deshalb ist die vertiefte Integra­tion nicht eine Alternative von vielen, sondern die Alternative zum Scheitern. Im Nichthandeln liegt der Keim der nächsten Krisenphase. Die Krise hat die Interdependenzen und systemischen Risiken im europäischen Währungsraum schonungslos offengelegt und die Verwundbarkeit von Mitgliedstaaten vorgeführt. Diese Verwundbarkeit liegt in der Unvollständigkeit der Währungsunion begründet; sie macht die Staatsfinanzen der Mitgliedstaaten anfällig für Marktbewegungen, erschwert die wirtschaftliche Erholung, verschärft soziale Verwerfungen und vertieft die Kluft zwischen der EU und ihren Bürgern. Bereits jetzt sind die politischen Folgen dieser Spannungen europaweit zu besichtigen. Nicht nur die EU und die Idee einer weiteren Integration in Europa verlieren Rückhalt in der Bevölkerung. Auch nationale Demokratien werden destabilisiert, sei es durch wachsenden Einfluss von Populisten oder sogar durch Reformen, welche die Demokratie und den Rechtsstaat bedrohen.

Es ist nicht auszuschließen, dass unter diesen Bedingungen die Fliehkräfte in der EU zunehmen und die europäischen Entscheidungsträger nicht mehr in der Lage sind, die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Bräche etwa der Euro auseinander, würde dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch Teile des Binnenmarkts mit hinwegreißen. Aus deutscher Sicht ginge der Verlust dieser Errungenschaften mit überaus hohen politischen und wirtschaftlichen Kosten einher.

Zwei Vertiefungsoptionen

Unter dem Druck der Krise sind einige entscheidende institutionelle und politische Entwicklungen – wie etwa die Einrichtung des Europäischen Semesters und der Stabilisierungsmechanismen – auf den Weg gebracht worden; die Europäische Zentralbank hat eine zentrale Rolle als Krisenmanager eingenommen. Das hat die Lage vorübergehend beruhigt. Doch diese Schritte allein reichen nicht; die größten Aufgaben stehen noch an.

Die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Euro-Raums mit seinen 17 (bald 18) Mitgliedern bleibt die zentrale Aufgabe deutscher Europa­politik. Aber auch die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten im europäischen Währungsverbund kann nicht dauerhaft eine rein nationale Angelegenheit bleiben. Die Währungsunion muss daher um eine wirtschafts- und fiskalpolitische Union ergänzt werden. Die Herausforderung liegt nicht nur in der Gestaltung von Haushalts- und Wirtschaftspolitiken in den Mitgliedstaaten, die sowohl auf Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet sind als auch auf eine stärkere Konvergenz im Euro-Raum. Dabei kann Konvergenz sich nicht einseitig auf Anpassungen in den Krisenländern beschränken; ein deutscher Beitrag zur Konvergenz könnte etwa in einer Liberalisierung des Dienstleistungsmarkts oder Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Innovation bestehen. Es geht dabei auch keineswegs nur um technokratische Optimierungsprozesse, sondern auch um die Beförderung europaweiter und gesellschaftlich getragener Einigungsprozesse über gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitiken. Hierzu müssen das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente enger als bisher in den Politikformulierungsprozess eingebunden werden. Nur so wird sich die EU als Teil der europäischen Demokratie und nicht als ihre Bedrohung plausibel machen lassen.

Umstritten bleibt, wie diese Ziele zu erreichen sind: mit mehr Selbstverantwortung der Regierungen – oder mehr Solidarität zwischen den Staaten? Mit mehr Regeln oder mit mehr politischer Entscheidungskraft auf europäischer Ebene? Mit mehr oder weniger Beteiligung der Bürger? Im Kern geht es hier um die Neujustierung eines doppelten Spannungsfelds: zwischen nationaler Eigenständigkeit und europäischem Interesse einerseits und zwischen institutioneller Handlungsfähigkeit und demokratischer Anbindung andererseits; alles dies unter Bedingungen der Globalisierung und gegenseitiger Abhängigkeit. Lösungen für diese Fragen sind nur gemeinsam mit den europäischen Partnern und unter Einbindung der nationalen Öffentlichkeiten zu finden. Doch deutsche Europapolitik muss eigene Antworten und Ideen anzubieten haben – schon, um nicht in der Position der Defensive gefangen zu sein.

Zwei Modelle stehen der deutschen Europapolitik hier zur Auswahl. Es handelt sich dabei nicht etwa um Alternativen, sondern um unterschiedlich weitreichende und intensive Vertiefungsschübe und Mischungsverhältnisse zwischen Intergouvernementalismus und Vergemeinschaftung; das zweite Modell setzt dabei das erste voraus und baut auf ihm auf. In beiden Fällen muss die Integration mit einem Mehr an Demokratie einhergehen. Beide Modelle führen zwangsläufig zu weiterer politisch-institutioneller Differenzierung in der EU.

Ein stärkerer europäischer Rahmen für nationale Reformen

Das erste Modell bleibt bei der Methode der pragmatischen Fortentwicklung der Integration und stellt die weitere haushaltspolitische Konsolidierung und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt. Die bisherigen Reformbemühungen sollten konsequent fortgesetzt und ausgebaut werden. Zugleich sollte Deutschland auf engere politische Zusammenarbeit in Europa hinarbeiten. Die Mitgliedstaaten und ihre Parlamente würden weiter die Herrschaft über den Reformprozess behalten, aber der EU-Kommission käme eine wichtige Rolle bei der Kontrolle nationaler Haushalts- und Fiskalpolitiken zu. Das bestehende Potenzial der europäischen Verträge bei der Haushaltskontrolle könnte noch weiter ausgeschöpft werden.

Die Krisenländer Europas brauchen Unterstützung und Anreize, um weiter ihre Wirtschaften zu reformieren und wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen. Erstens sollte das derzeit stark auf Landwirtschaft und Infrastruktur ausgerichtete EU-Budget gezielter dazu genutzt werden, um Wirtschaftsreformen zu unterstützen.

Zweitens sollte ein Sonderfonds eingerichtet und finanziert werden; er würde Strukturreformen und Maßnahmen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit in den Mitgliedstaaten fördern, die sich an europäische Empfehlungen halten. Die wirtschaftspolitische Absprache – drittens – im ­Euro-Raum sollte auf Chef- und Fachministerebene intensiviert werden. Die Alterung der Bevölkerung wird in einigen EU-Staaten die öffentlichen Finanzen stark belasten. Auf Dauer wird es dadurch schwieriger, die Konsolidierung der Staatshaushalte und Anreize für Wachstum und Beschäftigung in Einklang zu bringen. Mittelfristig sollte der Europäische Stabilitätsmechanismus deshalb – viertens – zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwickelt werden, der unter anderem ein Verfahren zum Umgang mit Staatsinsolvenzen vorsehen würde.

Konvergenz im Euro-Raum ist nur möglich, wenn die Euro-Staaten die Verschuldungsgrenzen des Stabilitätspakts einhalten; deshalb sind in diesem Modell neben Anreizen auch Sanktionen notwendig. Wenn der Haushalt eines Euro-Staats die vom Pakt statuierten Defizitgrenzen wiederholt überschreitet, sollte er von der EU für ungültig erklärt werden dürfen. Diese Kompetenz sollte der Europäische Gerichtshof auf Antrag der Kommission oder einzelner Mitgliedstaaten ausüben.

Im Europäischen Parlament sollten Entscheidungen über den Euro-Raum allein Vertretern aus den Euro-Staaten vorbehalten sein. Ferner sollten nationale Parlamente stärker an Brüsseler Entscheidungen beteiligt werden. Abgeordnete aus den Mitgliedstaaten wären in erster Linie konsultativ stärker in Entscheidungen mit Euro-Gruppenbelang einzubinden. Denkbar wäre die Schaffung einer zweiten Kammer im Europäischen Parlament, in der Mitglieder der nationalen Parlamente vertreten sind.

Mehr gemeinsame Handlungs­fähigkeit auf europäischer Ebene

Das zweite Modell baut teilweise auf den Integrationsschritten von Modell eins auf. Es bedeutet aber einen qualitativen Sprung: Es gründet auf der Einsicht, dass die Integration von Währung und Finanzmärkten natio­nale Handlungsfähigkeit massiv einschränkt und die Staatsfinanzen verwundbar macht, und folgert daraus, dass eine Politik der konvergierenden Reformen auf Ebene der Mitgliedstaaten alleine nicht mehr reicht, um die Euro-Zone zu stabilisieren. Um Handlungs- und Steuerungsfähigkeit zurückzugewinnen, bedarf es daher größerer Integrationsschritte. Weitere Integration ist aber vor allem für Europas Geberstaaten nur akzeptabel, wenn in den von der Krise betroffenen Staaten die Konsolidierung der Staatshaushalte sowie die Strukturreformen zur ­Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit entschieden fortgesetzt werden.

Ein Paket von drei Maßnahmen würde die Währungsunion stabilisieren und langfristig weniger angreifbar machen. Erstens: eine Vollendung der Bankenunion inklusive einer gemeinsamen Bankenabwicklung und ausreichend Mitteln zur Bankenrestrukturierung, damit die gegenseitige Abhängigkeit von Staatsfinanzen und Bankenstabilität durchschlagen wird. Zweitens die Schaffung eines Euro-Zonenbudgets, das nicht nur eingesetzt werden kann, um nationale Reformbemühungen zu unterstützen, sondern durch automatische Stabilisatoren (z.B. eine europäische Arbeitslosenversicherung) konjunkturelle Ausschläge abmildert. Dies könnte langfristig dafür sorgen, dass Divergenzen abnehmen und die einheitliche Geldpolitik der EZB insofern besser „passt“. Drittens könnten – wenn die fiskal­politische Kontrolle wie in Modell eins beschrieben gestärkt wird – für einen Teil der Staatsverschuldung gemeinsame Anleihen eingeführt werden. Dies geschähe, um die gegenseitige Abhängigkeit von Staatsfinanzen und Bankensystem, die zu einer parallelen Banken- und Staatsfinanzkrise geführt hat, zu durchschlagen. So würden die Staatsfinanzen – da mit der Aufgabe der geldpolitischen Zuständigkeit der nationalen Zentralbanken kein nationaler Kreditgeber der letzten Instanz mehr existiert – weniger anfällig für Finanzmarktbewegungen.

Übergeordnetes Ziel deutscher Europapolitik wäre – wenn sie sich für das zweite Modell einer vertieften Integration entschiede – die Schaffung einer transnationalen europäischen Mehrebenen-Demokratie. Ein zentraler Bestandteil dieses Modells wäre die Entwicklung der Kommission zu einer Wirtschaftsregierung, die die politische Zusammensetzung des Europäischen Parlaments spiegelt und diesem verantwortlich ist. Die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts, den Bundestag in europapolitischen Fragen mehr einzubinden, gilt es ernst zu nehmen; jedoch ohne dabei das EP und den Bundestag in eine Konkurrenzsituation zu bringen. Die nationalen Parlamente sollten daher auch künftig nicht in das normale Gesetzgebungsverfahren der EU eingebunden, sondern lediglich bei Grundsatzentscheidungen maßgeblich sein. Nicht zuletzt, um die demokratische Rückbindung der genannten Reformschritte sicherzustellen, sollte Deutschland auf die Einberufung eines parlamentarisch geprägten Konvents hinarbeiten.

Für beide Integrationsmodelle gilt: Die Vertiefung Europas muss einhergehen mit der Möglichkeit, differenzierte Integrationsschritte unter den Mitgliedstaaten zu ermöglichen; die europäische Integration darf weder die Staaten noch ihre Bürger überfordern. Sie darf aber keinen neuen Keil zwischen die Mitglieder der Euro-Zone und die restlichen Mitgliedstaaten treiben. Unabhängig vom Grad künftiger Integration sollte deutsche Europapolitik stets auf Inklusivität und Gemeinschaftsfreundlichkeit achten – allerdings nicht um jeden Preis. Der Verbleib einzelner Mitgliedstaaten in der Union darf nicht damit erkauft werden, dass die Uhr der europäischen Integration zurückgedreht wird. Umgekehrt gilt aber auch: Partnerschaftliche Führung in Europa verlangt von Deutschland besondere Geduld, Empathie und vor allem Kompromissbereitschaft; und nicht nur gegenüber den Partnern, mit denen es am meisten zusammenarbeitet.

Europäische Außenpolitik

Nur durch ein einheitliches Auftreten der EU nach außen kann Europa eine gestaltende Rolle in der Welt spielen. In der Außenpolitik sollte Deutschland darauf hinwirken, dass die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik an aktuelle Veränderungen angepasst, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wiederbelebt und die EU zu einem starken Spieler auf der Weltbühne wird.

Die EU hat sich 2003 dazu verpflichtet, die Länder des westlichen Balkans aufzunehmen; Deutschland hat ein Interesse daran, dass dieses Versprechen eingelöst und so dieser Teil Europas dauerhaft befriedet und stabilisiert wird. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass auch die EU für die noch immer beitrittswilligen Länder an Transformationskraft eingebüßt hat. Konditionalität und finanzielle wie technische Hilfsprogramme reichen häufig nicht mehr aus, um die für eine EU-Mitgliedschaft notwendigen Reformen zu befördern. Doch versäumte Reformen beim EU-Kandidaten gefährden später die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität des Mitgliedslands. Ist ein Land aber einmal Mitglied, hat die EU noch weniger Anreize und Sanktionsmöglichkeiten. Deutschland wird daher mehr tun müssen, um Kandidaten für den Beitritt zu ertüchtigen. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit diesen veränderten Rahmenbedingungen sollte Deutschland aktiv vorantreiben. Unabhängig von dem Erfolg der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat Deutschland ein Interesse an einer europäisch geprägten und verankerten Türkei; also an einem möglichst engen und stabilen Verhältnis.

In Europas südlicher und östlicher Nachbarschaft muss die EU als regionale Ordnungsmacht Stabilität und gute Regierungsführung anstreben – und dabei nicht nur auf Regierungen zielen, sondern auf Zivilgesellschaften. Hierzu sollten wirtschaftliche, diplomatische und auch sicherheitspolitische Instrumente konsequent eingesetzt werden. Die Förderung von Demokratisierung, Pluralisierung, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte in Transformationsgesellschaften sowie in autoritär regierten Ländern bleibt ein zentrales Interesse der EU und Ziel der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Staaten. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass die EU die Öffnung des Binnenmarkts für Waren, Arbeitskräfte und Dienstleister aus den Nachbarländern zügig vorantreibt, um Anreize für innerstaatliche Reformen zu setzen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Förderung der Mobilität zwischen der EU und den Staaten der europäischen Nachbarschaft, insbesondere für die jungen Generationen.

Die Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bleiben zentrale Anliegen jeder vertieften Integration. Tatsächlich ist die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in außenpolitischen Fragen bisher eher punktuell gewesen – etwa beim Thema Iran. Damit riskiert die EU die eigene Marginalisierung in internationalen Fragen. Das zu verhindern, muss Ziel deutscher Außenpolitik sein. Dazu gehört auch, die Rolle der Hohen Vertreterin und des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu stärken. Mittelfristig würden Gehalt und Geschwindigkeit außenpolitischer Entscheidungen von der Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen profitieren.

In den internationalen Institutionen werden die globalen Machtverschiebungen dazu führen, dass die Mitgliedstaaten der EU an Einfluss verlieren. Mitgliedschaftliche Interessen sind daher langfristig nur zu wahren durch eine Stärkung der Rolle der EU. Entsprechend sollte Deutschland in IWF und Weltbank auf ein besser koordiniertes Vorgehen zwischen den EU-Mitgliedern hinwirken und existierende Pläne für die Zusammenfassung der Stimmrechte der Mitglieder der Euro-Zone stützen, die künftig von einem Euro-Exekutivdirektor wahrgenommen werden sollten. In den Vereinten Nationen muss es Ziel sein, den Anteil der EU an ständigen und nichtständigen Sitzen zu halten. Eine von Deutschland befürwortete, umfassende Reform des Sicherheitsrats könnte langfristig einen Sitz der EU in einem nur geringfügig vergrößerten Kreis der ständigen Mitglieder und weiterer nichtständiger Sitze beinhalten, die innerhalb der EU auf Rotationsbasis vergeben werden.

Deutschland muss bereit sein, sich international auch in denjenigen Politikbereichen durch die EU vertreten zu lassen, in denen die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilt sind, z.B. der GASP. Damit es gelingt, auf die Position der EU Einfluss zu nehmen, ist aber eine klare Definition deutscher Interessen und Positionen notwendig. Für die wirkungsvolle Durchsetzung europäischer Interessen sollten alle Politikbereiche der EU so weit wie möglich von einer Hand koordiniert werden. Hierfür sollten transparente Verfahren in Brüssel etabliert werden, die Auskunft über Stand und Inhalt von Verhandlungen geben. Nur über bessere Abstimmung kann eine Hebelwirkung erzielt werden, die über die Grenzen einzelner Politikbereiche hinausgeht. Eine wirkungsvolle Koordinierung erfordert starke Koordinierungsinstanzen.

Empfehlungen

• Deutschlands Ziel in der Europapolitik muss sein, die Gemeinschaft weiter zu vertiefen, um sie zu befähigen, die inneren und äußeren Herausforderungen der Union zu bewältigen – ohne dass dies auf Kosten der Demokratie geht.

• Deutschland sollte sich für die Erweiterung der EU um den westlichen Balkan einsetzen, ein möglichst enges und stabiles Verhältnis der EU mit der Türkei anstreben und sich dafür engagieren, dass die EU in ihrer südlichen und östlichen Nachbarschaft als regionale Ordnungsmacht sämtliche ihrer Instrumente konsequent einsetzt, um Stabilität und gute Regierungsführung zu fördern.

• Deutschland sollte darauf hinwirken, dass GASP und GSVP weiterentwickelt, der EAD und die Hohe Vertreterin gestärkt und qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ermöglicht werden.

Dieser Text ist ein Kapitel aus der Studie „Neue Macht, neue Verantwortung. Elemente einer -deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“ unter der Projektleitung von Dr. Constanze Stelzenmüller (GMF) und Dr. habil. Markus Kaim (SWP); das Einführungskapitel haben wir bereits in der November/Dezember-Ausgabe 2013 der IP abgedruckt. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 40-47

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