Im Wolkenkuckucksheim
Italiens Politiker wollen weiter mehr Geld ausgeben und schimpfen auf EU und Eurozone – von der sie profitieren. Die Landung könnte hart werden
Der Staatshaushalt ist für alle italienischen Politiker eigentlich ein Alptraum, diesen Sommer aber argumentierten sie gern mit ihm. Der Haushalt für 2020 müsse pünktlich zum 31. Dezember beschlossen werden. Das mache Neuwahlen unmöglich, argumentierte der Spitzenmann der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Luigi Di Maio, und erhielt Schützenhilfe von den oppositionellen Sozialdemokraten (PD). Lega-Chef Matteo Salvini, der seine Regierungskoalition mit Di Maio durch die Forderung nach Neuwahlen infrage gestellt hatte, erklärte dagegen, zur Verabschiedung des Haushalts brauche er freie Hand und eine stabile Perspektive.
Dabei wird bei der Aufstellung des nächsten Haushalts scheinbar Unmögliches verlangt. Der Europäischen Kommission hat Rom zugesagt, für 2020 ein Defizit von 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einzuhalten. Dabei müssen jetzt erstmals Wahlgeschenke voll finanziert werden. Die Lega hatte ihre Wähler mit der Wiedereinführung der Frührente mit 62 Jahren (bei 38 Beitragsjahren) beglückt, die Fünf Sterne mit dem Bürgergeld für arme Italiener geworben. Beide Maßnahmen wurden erst im Mai dieses Jahres – rechtzeitig zur Europawahl – eingeführt, um im Haushalt 2019 Geld zu sparen; 2020 müssen sie nun voll finanziert werden. Als Garantie dafür, dass 2020 das Defizit nicht wegen der Wahlgeschenke in die Höhe schießen würde, hatte die Regierung schon mit dem Haushalt 2019 eine Mehrwertsteuererhöhung für 2020 beschlossen, mit Mehrwertsteuersätzen von 25,2 und 13 Prozent.
Doch seit Monaten versprechen alle Parteien, dass zusätzlich zu den vielen alten und neuen Wahlgeschenken auch noch die Mehrwertsteuererhöhung zurückgenommen werde, obwohl die allein 23 Milliarden Euro kostet und bisher niemand erklärt hat, wie denn die Einnahmeausfälle finanziert werden könnten. Darüber hinaus will Salvini eine „Flat Tax“-Einkommensteuer von 15 Prozent, Di Maio redete von einer Senkung der Sozialabgaben oder der Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer. Dann wären da noch die barocken Haushaltsprozeduren des Parlaments. Beim Hin und Her zwischen Abgeordnetenhaus und Senat kann der Haushalt fast drei Monate lang zerfleddert werden.
Mehr oder weniger?
Eigentlich müssten Italiens Politiker erst einmal grundsätzlich entscheiden, ob sie mehr oder weniger Defizit wollen. Die meisten von ihnen behaupten, mehr Defizit bringe mehr Wachstum, und wollen damit auch mehr Wahlgeschenke verteilen. Doch der parteilose Wirtschaftsprofessor Giovanni Tria, der seit Juni 2018 als Finanzminister fungiert, hat seine Regierungskollegen immer wieder gemahnt, dass es keinen Sinn macht, zugunsten vermeintlicher positiver Konjunktureffekte mehr Haushaltsdefizit einzuplanen – und dann zu erleben, wie das Misstrauen der Anleger gegenüber italienischen Staatsanleihen steigt und damit auch der Risikozuschlag und der Zinssatz für Italiens Staatsschulden.
Italien muss 2020 rund 215 Milliarden Euro an mehrjährigen Staatstiteln zurückzahlen und durch neue ersetzen, dazu noch um die 150 Milliarden Euro an kurzlaufenden Titeln. Allein schon aus diesem Grund sind Pragmatiker wie Tria der Meinung, man dürfe nicht riskieren, zu stark in die Kritik der Europäischen Kommission zu geraten, weil dies gegenüber allen Anlegern ein Fanal wäre. Daraus ergäbe sich, dass alle Wahlversprechen verschoben werden müssten, weil Italien gegenüber den früheren Versprechen eines Haushaltsdefizits von 1,8 Prozent des BIP für 2020 vielleicht ein bisschen „Flexibilität“ in Brüssel herausschlagen könnte für ein wenig Symbolpolitik. Die Erfüllung aller früheren und künftigen Wahlversprechen würde damit in weite Ferne rücken.
Doch Italiens Politiker wollen lieber viel Geld verteilen. Großen Wählerkreisen werden spürbare finanzielle Verbesserungen versprochen, und die Multiplikation von großen Leistungen mit Hunderttausenden oder Millionen von Nutznießern ergibt entsprechend hohen Aufwand. Den kann sich Italien nicht leisten, mit einer Schuldenquote Ende März 2019 von 134 Prozent des BIP. Jegliches Haushaltsdefizit bedeutet auch eine Steigerung der Staatsschulden.
Schon jetzt wachsen die Schulden schneller als das Volkseinkommen. Italien müsste also das Defizit auf Null reduzieren, bei den Finanzanlegern an Glaubwürdigkeit gewinnen, damit den Risikozuschlag senken und mit Privatisierungen eine zusätzliche Reduzierung der Staatsschulden erreichen. Tatsächlich hatte die Regierung der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega für 2019 in den Haushalt 18 Milliarden Euro an Privatisierungserlöse eingestellt, um die Märkte und Brüssel zu beruhigen. Doch konkret war davon bislang nichts zu sehen.
Für die maßgeblichen Politiker, einschließlich des früheren PD-Ministerpräsidenten Matteo Renzi, sind Sanierungsschritte zur Reduzierung der Schulden Teufelszeug. Jahrelang hatten keynesianische Ökonomen nicht nur den Politikern, sondern auch den Bürgern und Medienvertretern eingeredet, der beste Weg zu mehr Wirtschaftswachstum seien mehr Staatsausgaben, vor allem für Investitionen oder zur Förderung des Binnenkonsums. Renzi zog 2018 mit dem Rezept in den Wahlkampf, das Haushaltsdefizit auf 2,9 Prozent des BIP zu steigern. Und Salvini kündigte an, er werde sich von europäischen Regeln nicht abschrecken lassen und, wenn nötig, noch deutlich mehr neue Schulden machen.
Für Salvini kommt noch ein weiteres Argument ins Spiel: die Souveränität Italiens. Nach seinen Worten müssten sich die Italiener nicht von Brüssel oder Berlin vorschreiben lassen, wieviel Defizit man in Rom machen dürfe. Hier zeigen sich Ermüdungserscheinungen mit jahrelanger Rhetorik von mehr stabilitätsorientierten Politikern, die nicht über Grundprinzipien der Wirtschaftspolitik diskutieren wollten, sondern einfach sagten, Brüssel habe Einschnitte und Opfer verlangt. Dahinter steckt auch die in manchen Kreisen seit den 1990er Jahren vertretene Theorie, dass Italien eigentlich nicht reformierbar sei und nur durch Vorgaben und Regeln von außen – mit dem italienischen Stichwort „vincolo esterno“ – auf den richtigen Kurs gebracht werden könne.
Doch genau der jahrelang von führungsschwachen Politikern benutzte Vorwand, Europa wolle das so, führt längst zu Gegenreaktionen. Wenn Europa die Schuld gegeben wird an allen unangenehmen Entscheidungen, dann ist der Schritt zu antieuropäischer Polemik nicht weit. Salvini verteufelt die – ohnehin wenig kommunikative – EU oder die Währungsunion als Käfig für die Italiener, aus dem es auszubrechen gelte, und sei es mit einem Ausstieg aus dem Euro.
Die ökonomischen Konsequenzen ihrer Forderungen und Programme können Italiens Spitzenpolitiker ohnehin nicht absehen. Ihnen fehlt zum Teil sogar einfachstes wirtschaftliches Grundwissen. Vizepremier Di Maio, der sich nach abgebrochenem Jurastudium mit Gelegenheitsjobs in Neapel durchschlug, sagte vor wenigen Monaten, natürlich dürfe Italien seine Staatsschulden nicht weiter steigen lassen. Aber ein wenig mehr Defizit wolle man schon machen. Wie beides zusammenhängt, war ihm einfach nicht klar.
Die wirtschaftlichen Risiken ihrer kurzatmigen Taktik mit immer neuen Versprechen überblickt auch die Mehrheit der Wähler nicht. Die Krisenerfahrungen der Vergangenheit sind verblasst oder nie richtig verarbeitet worden. 1992 und 1993 geriet Italien in eine existenzbedrohende Finanzkrise, kurz nachdem im Vertrag von Maastricht scheinbar unerfüllbare Konditionen für Defizit (3 Prozent des BIP) und Staatsverschuldung (60 Prozent des BIP) festgelegt wurden. Weil die von Korruptionsermittlungen gelähmte Regierung keine Anstalten machte, überhaupt auf diese Regeln zu reagieren, kam es zur Flucht aus der Lira und italienischen Staatstiteln. Es drohte Zahlungsunfähigkeit. Für den früheren Notenbankgouverneur, dann Ministerpräsidenten, Schatzminister und Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi war das nur die Bestätigung seiner Meinung, dass Italien in der Währungsunion verankert sein müsse. Er tat alles für die Aufnahme seines Landes in die Währungsunion, unterschrieb aus Überzeugung den Stabilitätspakt und sagte später, ohne den Euro wäre Italien geendet wie Argentinien.
In der europäischen Staatsschuldenkrise war 2011 ein führungsloses Italien mit zerbrochener Regierungskoalition den Spekulationen der Finanzmärkte ausgesetzt, worauf der als Sanierer angetretene Premier Mario Monti mit drastischen Einschnitten bei den Renten und kräftigen Steuererhöhungen reagierte. Monti tat alles, um das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen, doch heute wird dies polemisch als Tortur für die Bevölkerung beschrieben. Denn er hatte nie richtig kommuniziert, dass Italien 2011/12 ebenfalls die Zahlungsunfähigkeit riskierte. Zu sehr fürchtete er, mit einem solchen Eingeständnis die Spekulationen noch weiter anzuheizen. Dass Italien in der schwierigen Situation auf das Sicherheitsnetz eines Staatenrettungsfonds angewiesen war und dass man genau dafür auch bereitwillig den Fiskalpakt unterschrieb, wurde ebenfalls nicht kommuniziert.
Schließlich gab es einen Italiener, der auch Italien vor Unbill an den Finanzmärkten schützte: Nachdem EZB-Präsident Mario Draghi sagte, er werde alles tun, um den Euro zu retten, und dann den breit angelegten Kauf von Staatstiteln durchsetzte, war Italien der größte Nutznießer. Seither steigen die Risikozuschläge Italiens nicht mehr auf unkontrollierbare Höhen, und das Land ist nicht mehr so wie früher auf ausländische Investoren angewiesen.
Italienische Politiker, die mit kurzfristiger Taktik von einem Wahltermin zum anderen hecheln, interpretieren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Italiens und die Verankerung in einer stabilen Währung nicht als Notwendigkeit, sondern als Fessel. Vergessen ist, dass Italien 1996 für 1300 Milliarden Euro an Staatsschulden fast 120 Milliarden Euro an Zinsen bezahlte, 2018 aber für mehr als 2300 Milliarden Euro an Staatsschulden gerade einmal 65 Milliarden Euro aufwenden musste. Italiens euroskeptische Politiker sehen oft gar nicht, wie sehr ihr Land ein Trittbrettfahrer der Währungsunion war; sie reden leichtfertig darüber, dass man diese Position aufgeben könnte, um damit dem Rest Europas zu drohen.
Ausgehend vom letzten Jahr vor der jüngsten Krisenzeit, 2007, hat sich gegenüber Deutschland eine Differenz in den realen Wachstumsraten von fast 19 Prozent angesammelt. Die Gründe dafür werden in der italienischen Öffentlichkeit nicht diskutiert, obwohl unter Ökonomen die Ursachen klar sind: zu wenig Unternehmerfreundlichkeit der Politik, langsame Verwaltung und Justiz sowie stagnierende Entwicklung der Produktivität.
Die These, dass mehr Defizit mehr Wachstum bringt, ist eigentlich schon an dieser Stelle widerlegt. Doch Italiens Politik und ein Großteil der Öffentlichkeit leben schon viel zu lange in einem Wolkenkuckucksheim. Der Absturz in die unbequeme Realität könnte irgendwann noch sehr hart werden.
Tobias Piller ist Italien-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 81-84