28. Okt. 2011

Die dicke Berta der Debattenschlacht

Was uns Deutschen einfällt, um weder diskutieren noch mitmachen zu müssen

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Die Welt stellte sich gerade auf die neue Unübersichtlichkeit nach dem Fall der Mauer ein, da trafen sich in München Experten und Politiker zur „Wehrkundetagung“ – was recht wilhelminisch klingt für ein Gastgeberland, das kundig bis zur Streberhaftigkeit, aber dafür nur ungern wehrhaft ist. Und da man es gerne bei einer eher rhetorischen Wehrhaftigkeit belassen wollte, traten die Politiker dieses friedlichen Landes an, um zu erklären, dass man sich der verantwortungsvollen Rolle als nunmehr wiedervereinigtes Deutschland und loyales Mitglied des westlichen Bündnisses wohl bewusst sei. Aber aus vielerlei Gründen, die Karsten Voigt damals protokolliert und ergänzt hat, leider bei handfesten Unternehmungen wie Militäreinsätzen nicht recht mittun könne: wegen unserer traurigen modernen Geschichte, Verfassung, Fassungslosigkeit; wegen der Ostmitbürger (falsch erzogen), Westmitbürger (zu friedlich erzogen), unserer Jugend (überhaupt nicht er­zogen); wegen evangelischer, katholischer, jüdischer Bedenken, Bedenken in aller Welt; wegen der Rücksicht auf Lessings Parabel der drei Weisen (heute zu ergänzen mit: Rücksicht auf muslimische Empfindlichkeiten, die arabische Straße), in erster Linie aber: Weil wir Probleme nicht militärisch, sondern nur politisch lösen können.

Letzteres ist ein „argument to end all arguments“. Selten – auch mit den Militäreinsätzen, die Deutschland inzwischen leistet – wollen wir der etwas differenzierteren Einsicht Raum geben, dass es tatsächlich kein Problem gibt, das allein militärisch gelöst werden kann. Wohl aber Probleme, die nicht ohne Zuhilfenahme militärischer Mittel geknackt werden können. Die Schärfung von Argumenten in der Auseinandersetzung mit Bündnispartnern oder Öffentlichkeit vermeiden wir tunlichst. Dafür haben wir noch mehr schweres Geschütz für das Arsenal der Debattenkiller aufgefahren.

So ist die Frage „Was kann der Westen tun?“ nicht dazu gedacht, mit kreativen Einfällen aufzuwarten. Sie schützt nur Interesse an der Welt vor, damit der Rückzug in den wohlig warmen Heimatbau nur umso schuldgefühlfreier vonstatten gehen kann. Vielseitig anwendbar sind „Wir sind eben anders“ oder „Wir pflegen eine Kultur der Zurückhaltung“. Das rekurriert auf die „schwierige deutsche Geschichte“, muss aber keine Rücksicht darauf nehmen, dass ja alle auf ihre Weise irgendwie anders sind. Natürlich ist damit auch erklärt, warum die Bundesrepublik faktisch gegen einen Libyen-Einsatz mit den westlichen Verbündeten stimmte.
Die dicke Berta in der Debattenschlacht aber heißt eigentlich Tina: There is no alternative (zum Abseitsstehen). Tina kartätscht gnadenlos jede Gegenwehr nieder, sogar im unüberschaubaren Minenfeld von Schuldenkrise und Euro-Rettung. Ja, kundig – oder auch findig – sind wir nach wie vor.

Dr. SYLKE TEMPEL ist Chefredakteurin der IP.

Bibliografische Angaben

Tempel, Sylke. “Die dicke Berta der Debattenschlacht.” October 2011.

Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 144

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