Paul Krugman hat dieser Tage etwas geradezu Erstaunliches getan: Der amerikanische Ökonom, Nobelpreisträger und Kolumnist, hat Selbstkritik geübt. Er habe die Kompetenz der griechischen Regierung vielleicht überschätzt, sagte er.
Das Referendum gegen das alte Hilfsangebot der Gläubiger habe die regierende Syriza-Partei angesetzt, ohne einen Plan B in der Tasche zu haben für den Fall, dass die Finanzhilfen ausblieben. Mit dem dritten Hilfspaket habe sich Griechenland nun „deutlich schlechtere Bedingungen“ eingehandelt. Das sei natürlich ein Schock.
Um es klar zu sagen: Das war nicht die einzige Fehleinschätzung Krugmans. Im neuen Hilfsprogramm für Athen will er tatsächlich „reine Rachsucht“ sehen. Seine über die New York Times seit Jahren verbreitete Kritik am europäischen Krisenmanagement im Euro-Raum, vor allem an Deutschland, bringt zuweilen in zugespitzter Form die amerikanische Lesart der Krise auf den Punkt: Durch eine radikale Austeritätspolitik könne eine rezessive Volkswirtschaft nicht gesunden. Vielmehr würden die überschuldeten Staaten so noch tiefer in die Krise rutschen.
In der Sache übersieht diese Kritik, dass es längst keine reine Austeritätspolitik mehr gibt. Auch Griechenland wird das Angebot eines umfangreichen Investitionsprogramms gemacht. Zudem zeigen die Beispiele Portugal und Irland, dass die Sparpolitik fruchtet, Athen also ein Sonderfall ist. Doch die amerikanische Deutung der Krise offenbart etwa Grundlegenderes: Nur wenige Akteure in der amerikanischen Administration, auf dem Kapitolshügel und an der Wall Street verstehen das europäische Projekt. Wolfgang Schäuble, über den nun auch in der angelsächsischen Presse das Zerrbild eines bösen deutschen Anti-Europäers gezeichnet wird, brachte es in der ihm eigenen Art auf den Punkt: Er nannte Krugman einen bedeutenden Wirtschaftswissenschaftler und Handelstheoretiker, der aber „keine Ahnung“ von Aufbau und Grundlagen der Europäischen Währungsunion habe.
Nun ist Krugman nicht gleichzusetzen mit Amerika. Aber auch Barack Obama hat gegenüber Angela Merkel immer wieder seine Sorgen über das deutsche Handling der europäischen Schuldenkrise zum Ausdruck gebracht. Ein amerikanischer Diplomat formulierte kürzlich in Anlehnung an Donald Rumsfeld: Was Washington Kummer bereite, seien die „unbekannten Unbekannten“. Man selbst habe 2008 in der Lehman-Krise daneben gelegen, weil die eigene Analyse zwar die „bekannten Unbekannten“ beinhaltet habe, nicht aber die „unbekannten Unbekannten“. Soll heißen: Glaubt Ihr wirklich zu wissen, dass die Finanzmärkte im Falle eines Grexit gelassen reagieren würden, nur weil die Euro-Zone heute über sichere Firewalls verfüge? Seid Ihr so vermessen, anzunehmen, alle Variablen im Blick zu haben?
Die Frage ist selbstverständlich legitim. Und berechtigt ist sie auch. Stabilität an den Finanzmärkten ist ein hohes Gut – für Europa und Amerika. Doch gibt es andere Güter – währungspolitische, verfassungspolitische und geopolitische. Am Ende musste es eine Abwägung geben – und Brüssel plädierte für einen Verbleib Athens im Euro-Raum. Die Verhandlungen über ein drittes Programm laufen.
Die deutsche Regierung ist momentan gewiss kein Bollwerk der Geschlossenheit: Schäuble, der Finanzminister, hält einen Grexit („auf Zeit“) immer noch für die bessere Lösung, Vizekanzler Sigmar Gabriel (derzeit) nicht. Und Angela Merkel? Sie strebt ihn gewiss nicht an. Aber sie brauchte die Option in den Verhandlungen – und nutzte daher ihren Finanzminister. Nicht um Griechenland zu erpressen, nicht um Athen seiner Souveränität zu berauben und auch nicht um die deutsche Dominanz in Europa zu sichern. Sondern um die griechische Erpressung abzuwehren, die geeignet war, die in Europa geltenden Spielregeln abzuschaffen. Spielregeln in zweifacher Hinsicht: wirtschaftspolitische Regeln, ohne die eine gemeinsame Währung nicht funktioniert (wie wir heute wissen) und verfassungspolitische Regeln und Konventionen, ohne die das Projekt Europa am Ende wäre.
Beides war gefährdet, als die Regierung von Alexis Tsipras mit einem nationalen Referendum versuchte, die demokratische Entscheidungsbildung in der Euro-Zone und der EU auszuhebeln. Wie sollte ein Kompromiss künftig in Brüssel aussehen, wenn alle Mitgliedstaaten ihre Positionen durch nationale Abstimmungen absolut stellen. „Going public“ hieße dann „going down“. Das, Professor Krugman, war der Schock, der mit dem griechischen Referendum und dem Plädoyer der Regierung für ein Nein verbunden war – und nicht der fehlende Plan B.
Die EU verfolgt das Ziel, in der Welt von morgen mitzumischen – auf Augenhöhe mit Amerika und China. Das geht nur, wenn es ein ernstzunehmender Akteur ist, was seine ökonomische Kraft anbelangt, aber auch seine politische Problemlösungskompetenz. In dieser Einschätzung herrschte übrigens in Brüssel ebenso Einigkeit wie in Berlin. Merkel, Schäuble und Gabriel sahen Tsipras’ Manöver als ideologiegeleiteten Angriff auf die Kompromissmaschine Europa.
Und was den bösen Deutschen betrifft: Es mag ja der angelsächsischen Öffentlichkeit schwer zu erklären sein, aber innerhalb der deutschen Regierung ist Schäuble der überzeugteste Europäer. Er hofft immer noch darauf, dass die Schuldenkrise die Chance zu mehr europäischer Governance bietet. Um das zu hoffen, muss man schon ein sehr großer Optimist und ein wahrer Europäer sein.