Export statt Exodus
Kleines Land mit großer Kultur: Israels Künstler, Autoren und Filmemacher sind weltweit gefragt. Mit Verve, Chuzpe und Selbstironie widmen sie sich dem komplizierten Leben in einem von Krieg, Terror und politischen Grabenkämpfen gebeutelten Land. Die Schroffheit und Verletzlichkeit ihrer Alltagshelden kommt auch im Ausland an.
Sie feilen an ihren Fingernägeln, kochen Kaffee für den Vorgesetzten, schreddern nie gelesene Akten und räumen Minenfelder höchstens auf Minesweeper. Die Uniformen der Soldatinnen sitzen schlecht und ihre Knarren sind nichts als lästige Accessoires. Was die israelische Regisseurin Talya Lavie in ihrem Filmdebüt „Zero Motivation“ zeigt, ist gähnende Langeweile in einer Militärbasis. Und doch sorgte die schwarze Komödie in Israel für einen der größten Kinoerfolge der vergangenen Jahre.
Keine Kassam-Raketen, keine Konfliktanalysen und schon gar keine Kriegshelden sind in „Zero Motivation“ zu sehen. Mit bösem Witz und messerscharfem Blick auf den öden Alltag im Lager beobachtet Lavie das Leben einer Gruppe von Soldatinnen in der Negev-Wüste. Sie zählen die Tage bis zum Ende ihres Militärdiensts und träumen vom Partyleben in Tel Aviv. Der glorreiche Einsatz für das Land der Väter bedeutet für sie nur das Absitzen von Dienstanweisungen lächerlicher Rangoberer.
Wer kein Hebräisch spricht und nie eine israelische Militärbasis von innen gesehen hat – erst recht, wer noch nie in Israel war – wird den Humor eines großen Teiles der Dialoge auch mit englischen Untertiteln nicht ganz verstehen. Zu vielschichtig und kulturspezifisch ist der Schlagabtausch. Dennoch wurde der Film auf dem Tribeca Film Festival als bester Film ausgezeichnet und erregte das Interesse von BBC America. Sie will den Stoff nun in eine Serie für das US-Fernsehen umwandeln.
Schonungslose Direktheit
„Zero Motivation“ ist längst nicht die einzige israelische Produktion, die den internationalen Markt erobert. Israelische Filmemacher sind bekannt für ihre schonungslose Direktheit und ihre ungekünstelte Bildsprache. Mit Verve, Chuzpe und Selbstironie widmen sie sich dem komplizierten Leben in einem von Krieg, Terror und innenpolitischen Grabenkämpfen geschundenen Land, zeigen nicht selten in respektloser Direktheit im selben Atemzug die Schroffheit und die Verletzlichkeit ihrer Alltagshelden. Das kommt auch im Ausland an.
„Israel hat eine schweißtreibende Kultur“, sagt Yael Hedaya. „Der Kleidungsstil, die Körpersprache, die ganze Stimmung ist völlig anders als etwa im US-Fernsehen. Die Produktionen sind rau. Sie entstehen ohne große Budgets. Und vielleicht sind sie gerade deshalb besonders eindringlich.“ Die Autorin veröffentlichte eine Reihe von Erzählungen und Romanen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, bevor sie unter anderem neben Ori Sivan das Drehbuch zu „BeTipul“ mitschrieb. Die Fernsehserie über einen Psychotherapeuten und seine täglichen Sitzungen mit wiederkehrenden Patienten wurde ein großer Erfolg und ab 2008 unter dem Titel „In Treatment“ für HBO adaptiert. Inzwischen wurde das Format in mehr als 20 weiteren Ländern ausgestrahlt.
„In das Drehbuch flossen auch Erfahrungen aus meinen eigenen Therapiesitzungen ein“, erzählt Hedaya. „Letztendlich geht es um ein sehr universelles Thema. Die Tiefe der Charaktere und der Dialoge faszinierte die amerikanischen Produzenten“. „BeTipul“ stand am Anfang einer Reihe von israelischen Fernsehproduktionen, die in den vergangenen Jahren von US-Firmen aufgekauft wurden. „Früher stand Israel in erster Linie für Literatur und Wissenschaft. Aber das hat sich geändert.“
„Natürlich musste einiges für das amerikanische Publikum umgeschrieben werden. Die Geschichte eines Kriegspiloten, durch dessen Luftangriff auf ein Flüchtlingslager auch palästinensische Kinder umkommen, konnte nicht genau so erzählt werden.“
Die wohl bekannteste israelische Serie, die für das amerikanische Fernsehen adaptiert wurde, ist „Hatufim/Prisoners of War“. Ihr US-Ableger „Homeland“ wurde von 2012 bis 2015 in fünf Staffeln auf dem Kabelsender Showtime ausgestrahlt und erreichte eine Rekordzahl an Zuschauern. Der Plot um drei israelische Soldaten, die nach 17-jähriger Gefangenschaft aus dem Libanon zurückkehren, wurde in der amerikanischen Fassung durch einen im Irak gefangen genommenen US-Marine ersetzt. „Homeland“ wurde von Publikum und Feuilleton gefeiert. Einige Kritiker sahen in der Handlung jedoch islamophobe Stereotype bedient.
In seiner jüngsten Produktion „Tyrant“ von 2014 erzählt der Drehbuchautor und Regisseur von „Hatufim“, Gideon Raff, die Geschichte des Kinderarzts Bassam Al-Fayeed, der aus dem amerikanischen Exil in sein arabisches Heimatland zurückkehrt. Als Sohn eines Despoten wird er von seiner Vergangenheit eingeholt.
Für die Vielfältigkeit israelischer Produktionen steht auch die Serie „The Writer“ des bekannten arabischen Autors Sayed Kashua, der die eigene zwiespältige Rolle im israelischen Kultur- und Medienbetrieb zur Grundlage seines Alter Ego Kateb macht. Hauptdarsteller ist Yousef Sweid. Der arabische Israeli war jüngst auch in einer „Game of Thrones“-Episode in einer Nebenrolle zu sehen. Auf bedeutenden Filmfestivals waren in den vergangenen Jahren ebenfalls vermehrt israelische Beiträge präsent. In diesem Jahr wurden gleich zwei Filme junger Regisseure aus Israel in Cannes prämiert: Or Sinais Kurzfilm „Anna“ gewann in der Reihe „Cinéfondation“ für Filmstudierende und Asaph Polonsky war mit dem Langfilm „One Week in a Day“ erfolgreich.
Viel Kreativität, wenig Geld
„Israel ist wie eine Goldmine an neuen Ideen“, sagt Hedaya, „alles ist hier ganz anders als in den Staaten. Hier kann ein 20-Jähriger in eine Produktionsfirma kommen und sagen: Ich hab da eine grandiose Idee. Und manchmal hat er sogar Glück damit. Das funktioniert so natürlich nicht in den USA.“
Als erheblich nimmt Hedaya jedoch die finanziellen Schwierigkeiten wahr, mit denen viele Künstler und Kulturschaffende zu kämpfen haben. „Es gibt hier viel Kreativität, aber kein Geld“, sagt die Autorin. „Wir müssen immer doppelt denken, wie eine schwangere Mutter für zwei denkt: Ist das etwas, was sich auch im Ausland verkauft? Zahlreiche Autoren, auch ich, schreiben Konzepte daher von vornherein auf Englisch.“
Viele israelische Kulturschaffende haben sich wegen der schwierigen Bedingungen und den teuren Lebenshaltungskosten in Israel für ein Leben im Ausland entschieden. In New York, London und Berlin sind sie fester Bestandteil der Kulturszene. Die Bedeutung israelischer Künstler für Galerien, Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen in der deutschen Hauptstadt zeigt das gerade gegründete deutsch-hebräische Magazin aviv. Es macht die Bandbreite an Themen deutlich, die die Kunst- und Lifestyle-Metropolen Berlin und Tel Aviv miteinander verbindet. Und doch kehren viele Israelis immer wieder nach Jerusalem und Tel Aviv zurück. Die israelische Heimat lassen nur wenige für immer hinter sich.
Längst sind es nicht mehr nur die Bestseller von Amos Oz und David Grossman, die im Ausland als israelische Kultur wahrgenommen werden. Musiker wie Asaf Avidan, der Tänzer und Choreograf Ohad Naharin oder der Bildhauer Dani Karavan stehen beispielhaft für die facettenreichen Beiträge israelischer Künstler zur weltweiten Kulturszene. Die Romane der älteren Schriftstellergeneration bestimmen zwar immer noch vorwiegend die Wahrnehmung hebräischer Kultur, aber auch die Bücher jüngerer Autoren werden nun verstärkt unter anderem ins Englische, Deutsche, Französische, Spanische und Russische übersetzt.
„Wir vertreten israelische Autoren in 43 Ländern“, sagt Hadar Makov-Hasson von der Deborah Harris Agency. Die Agentur arbeitet mit bekannten Schriftstellern wie David Grossman und Meir Shalev zusammen, betreut aber auch eine ganze Reihe jüngerer Autoren, die in den vergangenen Jahren ihre ersten Romane veröffentlicht haben. „Deutschland spielt nach wie vor eine wichtige Rolle bei Übersetzungen aus dem Hebräischen, aber natürlich auch die anderen Länder Europas und die USA. Wir beobachten sogar ein steigendes Interesse an hebräischer Literatur in Ostasien.“
Minderheiten im Fokus
Die Themenvielfalt an gefragter Literatur ist für Makov-Hasson bezeichnend, Tendenzen kann sie aber dennoch erkennen: „Für die jüngere Generation steht der Nahost-Konflikt zwar nicht im Vordergrund, spielt aber zumindest unterschwellig natürlich weiter eine Rolle.“
Auf besonderes Interesse stieß in letzter Zeit vor allem das Buch „Borderlife“ von Dorit Rabinyan. Die Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser wurde als Material für den Literaturunterricht verboten. „Intime Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden gefährden die separaten Identitäten“, hieß es aus dem Bildungsministerium. Die Entscheidung löste einen Sturm der Entrüstung unter israelischen Schriftstellern aus. „Das Buch zeigt eben nicht nur eine Seite“, sagt Makov-Hasson. „Es wurde im Ausland enthusiastisch aufgenommen. Viele Menschen waren von der Geschichte tief bewegt. Letztendlich zeigt das auch: Der Konflikt bleibt nie ganz außen vor.“
Die Themen sind vielseitig, die Perspektiven aber verschieben sich. Das zeigt sich auch beim Umgang mit dem Holocaust. „Die Shoah ist auch bei den jüngeren Autoren präsent“, sagt die Literaturagentin, „aber meist aus Sicht der dritten Generation.“
„Wir beobachten ein verstärktes Interesse der Autoren an den verschiedenen Minderheiten in Israel“, sagt Makov-Hasson, „wie beispielsweise in den Kurzgeschichten von Dalia Betolin-Sherman.“ Die Autorin wurde 1979 in Äthiopien geboren. In ihrem Debüt „When the world became white“ eröffnet sie dem Leser einen tiefen Einblick in den Alltag einer äthiopischen Einwandererfamilie. Das Buch soll 2018 auf Englisch bei Penguin erscheinen.
Auf die Lebenswelt russischer Einwanderer geht Amichai Shalev in seinen Werken ein. „Seine raue, bisweilen gewaltsame Sprache macht seine Bücher zu einer Besonderheit“, sagt Makov-Hasson. Er ist einer von 19 Autoren, deren Kurzgeschichten 2014 im S.Fischer Verlag unter dem Titel „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“ auf Deutsch und Hebräisch erschienen. Die Geschichten spiegeln die Sicht deutscher und israelischer Autoren auf das Land des jeweils anderen.
Grelle, faszinierende Vielfalt
Die Themen Minderheiten und Anderssein in der israelischen Gesellschaft spielen auch bei vielen Dokumentarfilmern eine wichtige Rolle. Auf dem Tel Aviver Dokumentarfilmfestival Docaviv wird dies besonders deutlich. Viele der hier vorgestellten Produktionen heimsen auch auf anderen Filmfestivals bedeutende Preise ein.
Der schwule Filmemacher Tomer Heymann etwa hat über seine außergewöhnliche Liebe zu dem deutschen Tänzer Andreas Merk einen Film gedreht. In „I shot my love“ erzählt er ihre Geschichte. 70 Jahre, nachdem sein Großvater vor den Nazis aus Berlin nach Israel fliehen musste, folgt ihm Tomers deutscher Geliebter nach Tel Aviv.
Tomers jüngster Film „Who’s gonna love me now?“ erzählt die Geschichte eines HIV-positiven Israeli, der sich in London eine neue Existenz aufbaut. Der Film gewann auf der diesjährigen Berlinale den Panorama-Publikumspreis. Bereits sein Dokumentarfilm „Paper Dolls“ wurde auf der Berlinale damit ausgezeichnet. Er ist so der einzige Regisseur, der den Publikumspreis gleich zwei Mal abräumte. „Nachdem man mich im israelischen Fernsehen über meinen Film ‚Paper Dolls‘ interviewt hatte, wurde mein Auto vor meiner Tür in Jaffa zerstört“, erzählt Heymann. „Man sieht da in einer Szene, wie ich mich als Frau verkleide.“ „Paper Dolls“ ist eine Dokumentation über philippinische Transsexuelle, die sich tagsüber als Altenpfleger um orthodoxe Männer kümmern und nachts als glamouröse Dragqueens in Tel Aviver Clubs auftreten.
„Das ist gerade einmal zehn Jahre her. Ich bin daraufhin weggezogen und wollte eigentlich nie wieder nach Jaffa zurück, aber heute fühle ich mich sehr sicher hier. Ich mag, dass Jaffa so durchmischt ist. Wenn du am Samstagmorgen auf der Salame Street Richtung Zentrum unterwegs bist, siehst du die Schwulen, die aus dem Haoman Club kommen und auf der Suche nach Sex sind, die Äthiopier, ganz in Weiß, auf dem Weg zu einer Hochzeit, die Sudanesen und Eritreer gehen arbeiten und die Religiösen beten. Daneben junge Familien auf dem Weg zum Strand. Ich mag dieses Bild. Das ist Tel Aviv für mich. Du kannst religiös sein oder eine Dragqueen. Ganz egal. Die meisten interessiert es einfach nicht.“
Kein Wunder, dass diese grelle Vielfalt israelischen Alltags Filmemacher und Künstler wie Heymann unwiderstehlich anzieht.
Winfried Schumacher lebt seit 2009 als freier Journalist in Israel und schreibt u.a. die SZ, die FAZ und die Zeit. Er ist zudem Lektor an der Universität Haifa.
IP Länderporträt 2, Juli - Oktober 2016, S. 58-62