Ein außenpolitischer Plan B für Berlin
Was, wenn Putin in der Ukraine siegt? Wenn Trump die US-Wahl gewinnt? Damit Deutschland sich für Worst-Case-Szenarien wappnen kann, braucht sie eine bessere Einschätzung der Rahmenbedingungen weltweit. Und das ist längst nicht alles.
Die Talkshow mit dem Stargast – nun als Buch? Die Tatsache, dass das Konterfei von Carlo Masala den Einband seines neuen Werkes ziert, scheint in diese Richtung zu deuten. Erfreulicherweise stehen hier aber zumeist die Inhalte im Mittelpunkt, nicht die Person.
Es geht um drei große Themen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: Um die bekanntermaßen beklagenswerte Verfassung der Bundeswehr, um Deutschlands zutiefst problematische Fehleinschätzung des russischen Herrschaftssystems unter Wladimir Putin und die darauf aufgebaute Russland-Politik, und schließlich geht es um die Verfassung der Welt, in der sich Deutschland zu behaupten hat – das, was Masala als „Weltunordnung“ bezeichnet.
Dabei lässt sich über die Strecke des gut lesbaren Buches ein, wie Ökonomen es nennen würden, abnehmender Grenznutzen beobachten. Am besten gelungen ist das Kapitel über die lange und sträflich vernachlässigte Bundeswehr, in dem Masala das Problem nicht nur kompetent erläutert, sondern auch interessante neue Facetten aus seinem eigenen Erfahrungsbereich hinzufügt.
Insgesamt überzeugend ist auch das zweite Kapitel mit der Analyse der russischen Übergriffe auf die Ukraine, der – ein wenig schräg – mit der Frage beginnt, was der Herr Professor ab dem 24. Februar 2022 anders gemacht hätte, wenn er Bundeskanzler gewesen wäre. Es ist das Privileg des akademischen Beobachters, keine politische Verantwortung tragen zu müssen und sich der politischen Logik entziehen zu können.
Dennoch: Masalas harsche Kritik an Deutschlands Russland-Politik ist berechtigt, fundiert und überzeugend formuliert. Das ist insofern besonders bemerkenswert, als Masalas Analyse – wie er einräumt – zwei wesentliche Elemente für die Fehlentwicklungen der deutschen Russland-Politik identifiziert, die in seinem eigenen theoretischen Zugriff auf die internationalen Beziehungen, dem Neorealismus, eigentlich keine Rolle spielen. Erstens das spezifische Herrschaftssystem Wladimir Putins und dessen imperiale Ideologie und zweitens die systematische Fehleinschätzung dieses Systems in Berlin.
Insofern bestand der Hauptfehler der deutschen Russland-Politik eben nicht in einem grundsätzlichen Unvermögen, sich auf Worst-Case-Szenarien einzulassen. Vielmehr verkannte man in Berlin völlig das „imperiale Selbstverständnis Russlands“. Dadurch fehlte es Deutschland an mentalen Voraussetzungen für das Durchspielen von derartigen Szenarien.
Allerdings erscheint es nicht ganz unproblematisch, diese imperial-expansive Großmachtpolitik des Systems Putin, wie Masala das tut, gleich als das russische „Selbstverständnis als Imperium“ und damit als „Identitätsfrage“ einzuordnen: Für die Vergangenheit Russlands seit Peter dem Großen mag das gelten, doch sollte man hier wie generell vorsichtig dabei sein, die Vergangenheit in die Zukunft zu verlängern.
Genau das tut Masala allerdings, und zuweilen etwas vorschnell. Das wird besonders im dritten Kapitel über die neue Weltunordnung deutlich. Dort sind wir „in ein Zeitalter der Deglobalisierung“ eingetreten, der Konflikt zwischen den USA und China ist „vorwiegend ein machtpolitischer und erst in zweiter Linie ein ideologischer“, und klar sei: „Es wird eine konfrontativere Weltordnung geben.“
Plausibel, sicherlich – aber der Duktus der Prophezeiung irritiert, und man könnte beide Aussagen auch gut begründet umdrehen: Danach würde sich die Globalisierung in veränderten Formen fortsetzen und der amerikanisch-chinesische Gegensatz sei in erster Linie ein ordnungs- und erst dann ein machtpolitischer.
Das bestehende System ist hier auch für Masala eine Weltordnung, keine Weltunordnung. Letzterer Begriff würde nur dann Sinn machen, wenn es in der Weltpolitik gar keine Regelhaftigkeit mehr gäbe. Die gibt es aber – auch wenn die Regeln uns nicht gefallen können. Bezeichnend ist, dass sich gerade in diesem letzten Kapitel Bezüge auf „die“ Deutschen, „die“ Chinesen und „die“ Amerikaner häufen (die Talkshow lässt grüßen). Dennoch ist das insgesamt eine kluge, leicht zugängliche Bestandsaufnahme zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Europas vier Abhängigkeiten
Christian Möllings Buch beschäftigt sich zwar mit der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im engeren Sinne. Aber er greift dazu noch weiter aus als Masala, bis hin zu Sicherheitsbedrohungen im Gefolge des Klimawandels und durch Pandemien.
Seine Befunde decken sich dabei in vieler Hinsicht mit denjenigen von Carlo Masala. Allerdings geht er in umgekehrter Reihenfolge vor und beginnt dort, wo Masala endet: bei den Veränderungen der Weltordnung, der „Welt am Wendepunkt“.
Auch Mölling diagnostiziert treffend die systematische Fehlwahrnehmung der weltpolitischen Gegebenheiten im Zentrum der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik: Deutschland habe für sich „in den letzten dreißig Jahren ein eigenes Bild über die Welt gezeichnet“ statt wahrzunehmen, was anderswo tatsächlich vor sich ging.
Nun geht es um einen fundamentalen Kurswechsel: Die Zukunft der internationalen Ordnung zeichnet Mölling als „konfrontative Konfliktordnung“, in der sich die Auseinandersetzungen zwischen den liberalen Demokratien und ihren Widersachern, allen voran China und Russland, auf alle Lebensbereiche erstrecken und in vielfältigen Formen ausgetragen werden.
Um sich in dieser Welt zu behaupten, so Mölling, brauchen Deutschland und Europa Widerstandsfähigkeit, die Wiederbesinnung auf das, was Europa normativ auszeichnet und attraktiv macht, und einen tiefgreifenden Umbau des Wirtschaftssystems.
Möllings Bestandsaufnahme der deutschen Sicherheitspolitik nach der Zeitenwende und ihrer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie fällt zwiespältig aus: Manches wurde angepackt, vieles blieb liegen. Nun gelte es, mit den vier wesentlichen Abhängigkeiten umzugehen, die Deutschlands Zukunft bestimmen werden: die Abhängigkeit von Russlands Energie- und Rohstofflieferungen, von Chinas Wirtschaft, von Amerikas Sicherheitsgarantien und Technologieführerschaft und von Europas geopolitischer Verankerung.
Dazu müsse Deutschland sicherheitspolitisch handlungsfähig werden – eine Herausforderung von gewaltigen Dimensionen, für die Mölling eine „sicherheitspolitische Dekade“ fordert. Er legt dafür eine Liste von zehn ebenso weitreichenden wie inhaltlich überzeugenden Empfehlungen vor, welche Anstrengungen jetzt eingeleitet werden sollten.
Diese Empfehlungen bilden den Kernbestand und die wichtigste intellektuelle Leistung dieses Buches. Erkennbar stehen drei Leitmotive hinter den Vorschlägen: die Priorisierung Europas; die Überwindung der bürokratischen und institutionellen Versäulung der deutschen Politik, um ihre Fragmentierung aufzubrechen; und die Gewinnung von Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen in Gesellschaft und Politik.
Hinter diesem letzten Stichwort der Akzeptanz verbirgt sich ein unangenehmer, aber unentrinnbarer Sachverhalt, den auch Mölling nur verschämt anspricht: Es geht um die Frage, ob und inwieweit die deutsche Gesellschaft bereit ist, für ihre Zukunftsvorsorge Kosten in Kauf zu nehmen und schmerzhafte Einschränkungen zu akzeptieren.
Nukleare Dilemmata
Um ein spezielles, wichtiges, aber bislang unterbelichtetes Thema deutscher und europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht es in dem schmalen Buch von Karl-Heinz Kamp: die nukleare Abschreckung.
Kamp, der seit Jahrzehnten zum engsten Kreis sicherheitspolitischer Experten in der Bundesrepublik gehört und zuletzt im CDU-geführten Verteidigungsministerium arbeitete, zeichnet hier kenntnisreich und überzeugend die Interessenslage Deutschlands mit Blick auf Atomwaffen nach und verweist auf die schwerwiegenden Mängel der gegenwärtigen Sicherheitspolitik. Einer Sicherheitspolitik, die das „Konzept der nuklearen Abschreckung als wesentliches Element der Sicherheitsvorsorge“ aufgrund falscher Einschätzungen und bequemer Selbsttäuschungen sträflich vernachlässige.
Putins nukleare Drohgebärden hat sie nun aufgeschreckt. Ob sie die Kraft finden wird, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist allerdings sehr unklar. Und so überzeugend Kamps Analyse ausfällt – für seine sicherheitspolitischen Schlussfolgerungen gilt das weniger. Axiomatisch ist für ihn das Festhalten nicht nur am Verzicht auf eigene deutsche Kernwaffen, sondern auch an den nuklearen Schutzgarantien der USA. Die „erweiterte Abschreckung“, die einen Angriff auf Europa mit der Androhung amerikanischer Nuklearschläge zu verhindern sucht, sei unersetzlich.
Kamp macht in seiner klugen Analyse der nuklearen Dilemmata aber auch deutlich, mit welchen Problemen diese Sicherheitsgarantien für Europa behaftet sind. Was, wenn im November in den USA Donald Trump gewählt würde? Was, wenn Amerika – selbst im Falle einer Wiederwahl Joe Bidens – immer mehr in das strategische Ringen mit einer nuklear aufrüstenden Volksrepublik China hineingezogen oder in einer Staatskrise innerlich zerrüttet würde?
Das unbedingte Setzen auf die USA ist völlig nachvollziehbar, aber es vernachlässigt seinerseits ebenso die Frage nach einem Plan B, wie es die mangelnde Sorge um nukleare Abschreckung in der Vergangenheit tat.
Dass Kamp die Möglichkeiten einer europäischen nuklearen Abschreckung auf der Grundlage der französischen Force de frappe (möglicherweise auch in Zusammenarbeit mit Großbritannien) umstandslos und ohne ernsthafte Reflexion beiseiteschiebt, erscheint eher der Skepsis gegenüber gaullistischen Tendenzen in Frankreichs Außenpolitik geschuldet als einer leidenschaftslosen Analyse.
Reich, aber verwundbar
William Glenn Gray beginnt seine hervorragende Untersuchung der deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre mit der Feststellung: „Germany in 1965 was rich but vulnerable.“ Das gilt natürlich ebenso heute. Grays Studie zeigt, wie die Bundesrepublik damals eine Strategie entwickelte und verfolgte, die diese Verwundbarkeiten erfolgreich einhegte und die BRD zu einem einflussreichen Akteur im westlichen Bündnissystem und in den globalen Institutionen werden ließ. Ironischerweise gelang das, wie Gray eindrucksvoll zeigt, vor allem dadurch, dass sich die alte Bundesrepublik bewusst bestimmte militärische Optionen versagte, um Souveränität gegen politischen Einfluss einzutauschen.
Gray stützt sich in seiner Darstellung vor allem auf Dokumente und die Auswertung der Archive in mehreren Ländern, aber auch auf eine umfassende Aufarbeitung der Literatur; das Buch dürfte wohl bis auf Weiteres die definitive Darstellung dieser Epoche der deutschen Außenpolitik bleiben. Dabei zeigt Gray auch, wie sehr die bundesdeutsche Strategie von ihren internationalen Rahmenbedingungen profitierte: Ihr Erfolg war das Ergebnis kluger Politik, aber auch günstiger Umstände.
Diese Strategie hat sich seit mindestens zehn Jahren erschöpft; die neuen Gegebenheiten der internationalen Politik erfordern nun eine neue, erfolgversprechende außen-, außenwirtschaftliche und sicherheitspolitische Strategie zu entwickeln und umzusetzen – diesmal freilich unter deutlich ungünstigeren äußeren Rahmenbedingungen.
Reparatur des Politikbetriebs
Einige Gedankenstränge lassen sich durch alle vier Bücher hindurch verfolgen – so etwa die überragende Bedeutung der europäischen, transatlantischen und in wachsendem Maße auch: indopazifischen Partner für die Zukunft der deutschen Sicherheit, mit einem großen Fragezeichen hinter der künftigen Verfügbarkeit der USA. Ein zweiter Strang betrifft die Bedeutung angemessener Einschätzungen der internationalen Rahmenbedingungen als entscheidender Voraussetzung für erfolgreiches strategisches Handeln.
Drittens zieht sich durch die drei Bücher, die sich mit der Gegenwart beschäftigen, ein Leitmotiv, das bei Mölling „der überlastete Staat“ heißt; Masala spricht davon, dass es die Politik nicht wagt und nicht schafft, die Probleme anzusprechen und anzupacken – aus Furcht, den Rückhalt in der Gesellschaft zu verlieren.
Wenn aber der Staat, wenn die Politik zu Teilen des Problems geworden sind, dann haben auch die besten Handlungsvorschläge nur begrenzten Wert: Es muss dann zunächst um die Reparatur des Politikbetriebs gehen.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Ein Plan B für Berlin" erschienen.
Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende. München: C.H.Beck 2023, 207 Seiten, 18,00 Euro
Christian Mölling: Fragile Sicherheit. Das Ende des Friedens und die neue Kon-fliktordnung. Freiburg: Herder 2023. 224 Seiten, 20,00 Euro
Karl-Heinz Kamp: Deutschlands nukleare Interessen nach dem Ukraine- Krieg. Baden-Baden: Nomos 2023. 113 Seiten, 29,00 Euro
William Glenn Gray: Trading Power, West Germany’s Rise to Global Influence 1963 – 975. Cambridge: Cambridge University Press 2023. 498 Seiten, 43,70 Euro
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 128-131
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