Essay

28. Okt. 2024

Die zwei Prinzipien der ­Weltordnung

Selbst wenn der Krieg in der Ukraine mit dem besten Ergebnis für Kiew ausgeht, wird das die liberale Demokratie als internationale Ordnungslogik nicht rechtfertigen. In und nach diesem Konflikt wird ein Kampf um das Wesen der Demokratie ausgefochten werden, der den aufziehenden Wettstreit zwischen einer liberalen und einer neowestfälischen Logik spiegelt.

Bild
Bild: Polizei und Demonstranten auf einer Kundgebung in Istanbul Ende 2023.
Illiberale Demokratien wie Ungarn, Indien oder die Türkei lehnen den Schutz freiheitlicher Werte ab. Dazu gehört auch das ­Demonstrationsrecht. Szene von einer Kundgebung in Istanbul Ende 2023.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Es ist eine Binsenweisheit, dass liberale Demokratien sich mit einer neuen Achse mächtiger Autokratien konfrontiert sehen, die fest entschlossen sind, die liberale Ordnung zu untergraben. „Unsere Demokratien“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich, „werden nachhaltig und systematisch von denen angegriffen, die die Freiheit verabscheuen, weil sie ihre Herrschaft bedroht.“ 

Nirgendwo wird dieser Konflikt so deutlich wie im Krieg in der Ukraine. Im Kern geht es in diesem Krieg nicht nur um die politische Zukunft der Ukraine oder die zerstörerischen Unsicherheiten Russlands. Er ist auch die sichtbarste Manifestation eines sich abzeichnenden ideologischen Wettstreits zwischen liberalen Demokratien und revisionistischen Mächten, an deren Spitze Russland und China stehen. In diesem Wettstreit konkurrieren zwei Weltbilder, ein liberales und ein neowestfälisches, die das Handeln und ­Denken der Akteure auf beiden Seiten und insbesondere ihre Vorstellung einer erstrebenswerten Weltordnung prägen. Alle wichtigen Konfliktparteien, von den zwei kriegführenden Staaten selbst bis zu ihren Verbündeten und Partnern, sehen den Krieg als einen Kampf um grundlegend unterschiedliche Konzepte des politischen Lebens. Da der Westen nicht direkt in den Krieg verwickelt ist, wird seine Beilegung selbst unter den für die Ukraine günstigsten Bedingungen jedoch keine Legitimierung für den Liberalismus darstellen. Vielmehr wird sich der Konflikt zwischen diesen beiden Logiken – auch innerhalb der Ukraine – noch weiter vertiefen. 

Es ist entscheidend, die ideologischen Aspekte des Krieges zu verstehen. Denn Ideologien sind nicht einfach nur Ideen, sondern „Ordnungslogiken“ bzw. Prinzipien und Konzepte, die mit über die moralischen Werte und Grundprinzipien einer gerechten Gesellschaft bestimmen. Sie geben den Akteuren vor, wie sie ihre Macht und ihre militärische Stärke nutzen können, um eine auf diesen Werten basierende Gesellschaft aufzubauen; es sind Logiken, die festlegen, welche Strategien rechtmäßig sind, um ihre Interessen durchzusetzen und um politische Legitimität zu erzeugen – und um diese in eine moralische Vision der Welt einzubetten, die es aufrechtzuerhalten gilt. Welche Vision sich in der Zeit nach dem Krieg durchsetzt, wird daher nicht nur die Zukunft der liberalen Bestrebungen der Ukraine bestimmen, sondern auch das internationale System im weiteren Sinne prägen. Der Ausgang des Krieges, so heißt es in einem russischen Strategiepapier aus dem Jahr 2023, „wird weitgehend die Umrisse der künftigen Weltordnung bestimmen“.

Die liberale Bedrohung 

Eine wichtige Auswirkung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist, wie bereits im Zitat von der Leyens angedeutet, die Entlarvung der inhärenten Bedrohungen, die eine liberale Weltordnung für die illiberalen Regime der Welt darstellt. Immerhin ist diese Weltordnung ein Produkt der Bemühungen, die die mächtigsten und wohlhabendsten liberalen Demokratien der Welt nach den großen Konflikten des 20. Jahrhunderts unternahmen, um eine Ordnung zu ihrem eigenen Schutz zu schaffen. Sie machten liberale Grundprinzipien wie die Menschenrechte und das Wahlrecht zu normativen Schlüsselelementen der wichtigsten Abkommen des internationalen Systems, etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und von Institutionen wie den Vereinten Nationen und der EU. Darüber hinaus haben sie sich durch die Integration vormals nationaler Märkte und ein ineinandergreifendes liberales Bündnissystem mit Partnern in Amerika, Asien und fast ganz Europa vernetzt und so ein System kreiert, das rund 1,45 Milliarden Menschen schützt, fast 64 Prozent der weltweiten Militärausgaben verschlingt und mehr als 60 Prozent der weltweiten Wirtschaftsproduktion ausmacht.

So haben die liberalen Demokratien letztlich eine umfangreiche transnationale Zivilgesellschaft entstehen lassen, die sich für die Förderung der Menschenrechte, der liberalen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit einsetzt, und deren Organisationen häufig mit liberalen ­Regimen und Institutionen zusammenarbeiten, um liberale Werte auf der ganzen Welt zu fördern. 

Eine Welt, in der die liberale Demokratie sicher ist, stellt jedoch auch eine existenzielle Bedrohung für die illiberalen Regime in der Welt dar. Da liberale Werte einen universellen Anspruch haben und nicht durch Kultur, Religion, ethnische Zugehörigkeit oder Nationen begrenzt werden wollen, bieten sie den Gegnern eines jeden illiberalen Regimes ein moralisches Vokabular und eine politische Vision, mit der sie ihre Opposition organisieren, die Legitimität dieser Regime untergraben und ihre Ablösung erzwingen können. Da die liberale Ordnung den Bemühungen ebensolcher Staaten, Institutionen und zivilgesellschaftlicher Gruppen für den Schutz der Menschenrechte und für demokratischen Wandel in illiberalen Ländern Legitimität verleiht, bringt sie die innerstaatlichen liberalen Gegner von Regimen mit einem Netzwerk gut ausgestatteter und mächtiger Verbündeter auf allen Ebenen der globalen liberalen Ordnung zusammen. Als Kompromiss zwischen Freiheit und Sicherheit haben libe­rale Regierungen ein sicheres militärisches Umfeld schaffen müssen, um ihr eigenes Überleben zu sichern.

Diese Dynamik der politischen Sicherheit führte während des Kalten Krieges zur Schaffung des liberalen Bündnissystems und nach dem Ende des Kalten Krieges zur NATO-Ost­erweiterung in die osteuropäischen und baltischen Staaten, um dortige Demokratisierungsprozesse zu schützen. Da liberale Demokratien nicht gegeneinander Krieg führen, werden sich die Bemühungen um die eigene Sicherheit immer gegen eine mögliche Aggression durch illiberale Regime richten.

Die liberal-demokratischen Bestrebungen der Ukraine aus der Vorkriegszeit stellten für das Regime von Wladimir Putin somit eine erhebliche ideologische und militärische Gefahr dar (und tun dies auch weiterhin). Wie die Geschichte der Ukraine mit dem Westen deutlich machte, würde der Westen umso mehr auf die politischen Bestrebungen der Ukraine eingehen, je mehr die Ukraine demokratische Reformen anstrebte und je größer der interne und externe Druck auf Putins eigene Legitimität und Herrschaft würde. Der Westen, so erklärte Putin bei der Ankündigung der Invasion, hatte „… versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzuzwingen, die uns und unser Volk von innen heraus zersetzen würden ... [während] die militärische Entwicklung der an unsere Grenzen angrenzenden Gebiete, wenn wir sie zulassen, auf Jahrzehnte, vielleicht für immer, bestehen bleiben und eine ständig wachsende, absolut inakzeptable Bedrohung für Russland darstellen wird ... nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates, seine Souveränität“.

Da diese Bedrohungen von den universellen Prinzipien ausgehen, nach denen liberale Gesellschaften organisiert und legitimiert sind, sowie von der sicherheitspolitischen Dynamik, die diese Staaten schützt, gab (und gibt) es für dieses Problem keine praktikable diplomatische Lösung. Abgesehen von der Auslieferung der Ukraine an Russland kann der Westen nichts tun, um Russland davon zu überzeugen, dass es sich keiner existenziellen Bedrohung gegenübersieht: Für Moskau ist schon die pure Existenz einer sicheren und freien Ukraine eine Gefahr. Putin kann sich entweder mit diesen Gefahren abfinden, oder – so wie Russland es jetzt versucht – ihre Entstehung durch Krieg verhindern. Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine wird jedoch nicht nur durch die Bedrohung angetrieben, die eine liberale Ordnung für Russland und andere illiberale Regime darstellt. Russland versucht gleichzeitig auch, seine eigene Vision der Weltordnung durchzusetzen. Eine Weltordnung, die Moskau mit anderen Regimen teilt und die die Welt nicht sicher für Demokratien, sondern sicher für Autokratien macht. 

Neowestfälische Logik

Diese Vision, die neowestfälische Ordnungslogik, hat ihren Ursprung im Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, den letzten großen Religionskrieg in Europa. Damals wurde die universelle Vision des Christentums als europäisches Ordnungsprinzip durch das Prinzip cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion) ersetzt. So erhielt jedes Reich die Macht, über die Religion seines eigenen Volkes zu bestimmen. Auf diese Weise etablierte der Westfälische Frieden nicht nur den Grundsatz der staatlichen Souveränität, also das Recht eines Staates auf Nichteinmischung in seine inneren Angelegenheiten, sondern schuf auch ein internationales System zum Schutz der religiösen Pluralität.

In diesem Sinne versucht auch die neowestfälische Logik eine internationale Ordnung zu schaffen, die eine Vielzahl von Regimetypen schützt und legitimiert. Nach dieser Logik besteht die Welt aus einer Vielzahl unterschiedlicher Völker, die sich jeweils durch eigene moralische Werte auszeichnen, die sich wiederum aus ihrer Geschichte, ihren Sitten und ihren kulturellen Praktiken ergeben. So ist jedes Volk ein organisches Ganzes, und das politische Regime, das es bildet, ist der Ausdruck seines kollektiven Schicksals. Nach dieser Logik wird die Legitimität eines Regimes nicht dadurch bestimmt, ob es sich an eine Reihe universeller moralischer Prinzipien oder an politische Spielregeln hält, sondern einzig und allein dadurch, ob seine Herrschaft die besonderen moralischen Werte seines Volkes verkörpert – eine Frage, die wiederum nur das Volk selbst beantworten kann und dem das Regime allein rechenschaftspflichtig ist. Eine internationale Ordnung, die einen gerechten und dauerhaften Frieden schafft, muss in diesem Sinne eine Ordnung sein, die die große Vielfalt an politischen Regimen, moralischen Werten und Legitimationsansprüchen am besten vor Einmischung von außen schützt.

Diese Logik zeigt sich darin, dass Russland und China nicht nur Bemühungen zur Förderung liberaler Werte als destabilisierend kritisieren, sondern auch immer wieder versuchen, zentrale liberale Grundsätze neu zu definieren, um sie mit der neowestfälischen Vision in Einklang zu bringen. Bemühungen liberaler Staaten, so warnten sie 2022 in ihrer Proklamation einer „grenzenlosen Freundschaft“, „anderen Ländern ihre eigenen ‚demokratischen Standards‘ aufzuzwingen [oder] das Recht zu monopolisieren, die Einhaltung demokratischer Kriterien zu beurteilen ... untergraben die Stabilität der Weltordnung“. Eine friedliche Weltordnung müsse es einer Nation vielmehr erlauben, „die Formen und Methoden zur Umsetzung der Demokratie zu wählen, die für ihren jeweiligen Staat am besten geeignet sind, basierend auf ihrem sozialen und politischen System, ihrem historischen Hintergrund, ihren Traditionen und ihren einzigartigen kulturellen Eigenschaften. Es ist allein Sache des Volkes eines Landes, zu entscheiden, ob sein Staat ein demokratischer Staat ist.“ 

Die neowestfälische Logik wird viele anziehen, die mit der liberalen Ordnung unzufrieden sind – und das sind nicht nur Schurkenstaaten wie der Iran oder Nordkorea. Dazu gehören auch die „illiberalen“ Demokratien Ungarn, Indien und die Türkei sowie alle anderen Regime, die den Schutz liberaler Werte ablehnen, sich als Verkörperung historisch und kulturell unterschied­licher Völker legitimieren und bereit sind, in einer fluideren, multipolaren Welt eine einflussreiche Rolle zu spielen, sollte die liberale Ordnung ins Wanken geraten. Viele Regime im Globalen Süden werden sich angesichts ihrer Geschichte als ehemalige Kolonien westlicher Mächte und der Aufdringlichkeit westlicher Institutionen in der postkolonialen Ära ebenfalls zu dieser Logik hingezogen fühlen.

Und schließlich findet diese Vision auch großen Widerhall bei antiliberalen nationalistischen Parteien und Bewegungen in vielen liberalen Demokratien, von der Slowakischen Nationalpartei bis zur MAGA-Bewegung in den Vereinigten Staaten – und bildet so Grundlage für eine illiberale transnationale Zivilgesellschaft, die sich für die Ablösung der liberalen Ordnung einsetzt. Was die Anhänger der neowestfälischen Logik anzieht, ist jedoch nicht die gemeinsame Liebe zur Autokratie. Es ist vielmehr eine Metaphysik der Staatlichkeit, die auf innerstaatlicher Legitimität und einem gemeinsamen normativen Rahmen gründet und damit die Grundlage für die Einbettung entsprechender Regeln, Normen und Praktiken in die internationale Politik schafft. Letztlich verspricht die neowestfälische Logik eine Weltordnung, in der die Bemühungen liberaler Staaten, liberaler Institutionen und der liberalen Zivilgesellschaft um liberale Werte, um den Schutz der Menschenrechte und um demokratische Reformen sanktioniert werden können.

Nachkriegs-Ukraine: Liberalismus kein Automatismus

Doch selbst wenn der Krieg in der Ukraine mit dem besten Ergebnis für Kiew ausgeht, wird das die liberalen Werte und die liberale Demokratie als internationale Ordnungslogik nicht rechtfertigen. Stattdessen wird in der Ukraine ein Kampf über die Bedeutung des Krieges und das Wesen der Demokratie ausgefochten werden, ein Kampf, der den sich abzeichnenden Wettstreit zwischen einer liberalen und einer neowestfälischen Logik spiegelt. 

Der Krieg in der Ukraine ist verheerend. Zehntausende sind getötet worden, viele durch brutale Kriegsverbrechen. Städte, Gemeinden und Dörfer wurden zerstört. Die Infrastruktur des Landes liegt in Trümmern. Die Ukraine muss immer härter in der eigenen Bevölkerung durchgreifen, um neue Soldaten zu rekrutieren und sich gegen einen immer stärker werdenden Feind zu verteidigen. Fast 6,5 Millionen Ukrainer sind ins Ausland geflohen, weitere 3,7 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Millionen werden am Ende des Krieges nach einem tieferen Sinn und moralischem Trost suchen inmitten der unermesslichen Zerstörungen, von Leid und Tod. Die Darstellung des Krieges als Kampf der Ukraine um den Anschluss an die liberale Welt ist eine solche tröstende Erzählung. Aber es gibt noch ein anderes Narrativ, das sich in der Nachkriegsukraine noch dazu als überzeugender erweisen könnte und dem Liberalismus weit weniger freundlich gesinnt sein wird. 

Die Erholung der Ukraine von diesem Krieg und die Umsetzung ihrer liberalen Bestrebungen werden nicht nur Hunderte von Milliarden Euro an Hilfe aus dem Westen erfordern, sondern auch substanzielle Reformen, um den Übergang des Landes zu einer liberalen Demokratie zu gewährleisten. In der Praxis bedeutet das, dass westliche Mittel, die in die Ukraine fließen, streng reguliert werden müssen, um Korruption zu verhindern, und sie an liberal-demokratische Reformen zu binden, die den demokratischen Wandel konsolidieren. Eine solche Kombination aus Kontrolle und Konditionalität ist sowohl im Rahmen des EU- als auch mit Blick auf einen NATO-Beitritt ein Standardverfahren und wird vom Westen regelmäßig auch in Entwicklungsländern angewendet, um Anreize für liberale und demokratische Reformen zu schaffen. 

Dieser Prozess findet im Fall der Ukraine jedoch in einem Nachkriegskontext statt – und Kiew war der einzige Kämpfer gegen ein Russland, das Krieg gegen die liberale Weltordnung führte. Dieser Krieg hat die Ukraine viel gekostet. „Wir unterstützen die tapferen ukrainischen Soldaten, die für die Freiheit der Ukraine kämpfen. Und für die Freiheit aller“, sagte von der Leyen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj 2022. Doch bis heute gibt es keine westlichen Streitkräfte, die an der Seite der Ukrainer für die freie und demokratische Zukunft aller kämpfen und sterben, sondern nur Ukrainer, die dies an der Seite anderer Ukrainer tun. Stattdessen versichern die westlichen Demokratien ihren Wählern, dass sie sich nicht im Krieg mit Russland befinden, vermeiden jeglichen Kontakt zwischen russischen und NATO-Streitkräften und haben die Kriegsführung der Ukraine in einer Weise eingeschränkt, die das Schlachtfeld weitgehend auf die Streitkräfte, das Volk und den Boden der Ukraine beschränkt. 

Folglich werden viele Ukrainer glauben, dass sie – das ukrainische Volk – und nicht die westlichen Demokratien das moralische Recht haben zu bestimmen, was ukrainische Demokratie ist. Sie werden vom Westen als gleichberechtigte Partner behandelt werden und die Bedingungen für die Eingliederung der Ukraine in westliche Institutionen selbst festlegen wollen. Die einzig legitime Form einer ukrainischen Demokratie wird daher eine nationalistische sein, die die hart erkämpfte Autonomie der Ukraine gegenüber jeder ausländischen Macht garantiert, sei es Moskau, Brüssel oder Washington. Mit einer solchen Haltung würde Kiew aber noch längst nicht den Anspruch auf westliche Unterstützung aufgeben. Im Gegenteil: Sie hat die westliche liberale Ordnung ja eigenhändig gegen die russische Aggres­sion verteidigt und sich jede Unterstützung hart erkämpft. Hier geht es also nicht um die Frage der westlichen Hilfe für den Wiederaufbau der Ukraine, sondern vielmehr um das moralische Recht des Westens, diese Hilfe an Bedingungen zu knüpfen.

Die Gefahr einer ukrainischen Dolchstoßlegende

Solange die Ukraine für ihr Überleben auf den Westen angewiesen ist, wird es um diese Strömungen eher still bleiben. Sobald die Kämpfe aber aufhören, wird die Ukraine mehr als reif sein für politische Akteure, die versuchen, Stimmung gegen den Westen zu machen und die schwachen Institutionen des Landes auszunutzen. Diese Koalition der Unzufriedenen und der Eingesessenen wird versuchen, den westlichen Einfluss zu delegitimieren und Nachkriegsreformen zur Konsolidierung des liberal-demokratischen Wandels in der Ukraine zu verhindern. Sollten die westlichen Mächte eine von der Ukraine unerwünschte Einigung mit Russland erzwingen oder die Ukraine auf andere Art und Weise im Stich lassen, wird dieses Thema die ukrainische Nachkriegspolitik dominieren. Um zu sehen, wie destabilisierend solche Kräfte sein können, braucht man sich nur die sogenannte Dolchstoßlegende vor Augen zu führen, die die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte und die sowohl den Boden für die innere Zerstörung der deutschen demokratischen Bestrebungen als auch für das Abgleiten Europas in einen noch verheerenderen Krieg bereitete. Anstatt sich in eine liberale Weltordnung einzureihen, könnte eine Nachkriegs-Ukraine einen nationalistischen Kurs einschlagen, der sich gegen diese Ordnung richtet.

Der Krieg in der Ukraine und sein Ausgang stellen vor diesem Hintergrund eine enorme Herausforderung für die liberale Weltordnung dar; eine Herausforderung, die über die Beendigung des Krieges hinaus andauern wird und die liberale Weltordnung auf eine noch nicht vollständig absehbare Art und Weise auf die Probe stellen wird. 

Liberalismus ist kein Pazifismus – und liberale Grundsätze können das politische Leben nur dann sinnvoll strukturieren, wenn die liberalen Demokratien selbst bereit sind, wenn nötig Gewalt anzuwenden, um sie zu schützen und zu verteidigen. Um den sich abzeichnenden Konflikt zwischen zwei Visionen der Weltordnung, deren Umrisse sich schon heute abzeichnen, erfolgreich zu bewältigen und um eine Welt zu schaffen, in der die liberale Demokratie in der Ukraine und anderswo sicher ist, müssen liberale Regierungen bereit sein, glaubwürdige Abschreckungsszenarien aufrechtzuerhalten. Nur so können illiberale Regime in Schach gehalten und die Sicherheit der liberalen Demokratie, die Entwicklung liberaler Gesellschaften und der Schutz der Menschenrechte gewährleistet werden. Darin liegt die tiefgreifendste und dringendste Herausforderung unserer Zeit. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier

Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen, die der Autor als Fulbright-­Stipendiat für NATO-Sicherheitsstudien und als Gastwissenschaftler beim ­German Marshall Fund of the United States in Brüssel gewonnen hat. Dieses Projekt wurde vom US-Außenministerium und der NATO unterstützt. Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind allein die des Autors und geben nicht die Ansichten oder Standpunkte der Organisationen wieder.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 100-105

Teilen

Prof. David M. Rowe lehrt politische Ökonomie, vergleichende Politikwissenschaft und internationale Beziehungen. Er ist ehemaliger Direktor des International Studies Program am Kenyon College (Ohio) und hatte dort den R. Todd Ruppert-Lehrstuhl für Internationale Studien inne.

 

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.