„Die Menschen sehen die EU als Leuchtturm“
Auf den Philippinen oder in der arabischen Welt gilt Europa als Beispiel dafür, dass man Frieden lernen kann. Doch die Union hinkt ihren Ansprüchen allzu oft hinterher. Gefragt wären Selbstkritik, mehr Bildungsarbeit und grundlegende Reformen. Und: Niemand in der EU sollte sich von Autokratien à la China vorschreiben lassen, wie er seinen Job zu machen hat.
IP: Frau Neumann, Sie sind viel auf Twitter unterwegs und geübt darin, die Dinge in 280 Zeichen auf den Punkt zu bringen. Wenn Sie in 280 Zeichen sagen müssten, warum wir die EU unbedingt brauchen, was wäre das?
Hannah Neumann: Könnte ich zwei Tweets bekommen? Dann würde ich sagen: Für die Welt – Europa ist der Beweis, dass man Frieden lernen kann. Das gibt sehr vielen Menschen da draußen, die in ewigen Krisen- und Kriegszyklen hängen, wahnsinnig viel Hoffnung. Ein Scheitern der EU wäre dramatisch. Und für uns selber: Wir stehen vor großen Aufgaben – Klimawandel, Digitalisierung, Schutz der Demokratie. Kein EU-Land kann das alleine bewältigen. Dass wir gemeinsam stärker sind, lässt sich an einem vergemeinschafteten Bereich wie dem Handel zeigen.
Nun hat ja die EU zuletzt etwa für ihre Pandemiebekämpfung jede Menge Kritik eingesteckt. Was wäre an Reformen nötig, damit die nächste große Krise besser bewältigt wird?
Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht: Welches Thema müsste eigentlich auf welcher Ebene geregelt werden? Also eine Bestandsaufnahme des Subsidiaritätsprinzips. Mit Blick auf die Länderebene heißt es zurzeit, unser Föderalismus sei gescheitert, mit Blick auf die Bundesebene, die Regierung bekomme es auch irgendwie nicht hin, und wenn man sich die EU-Ebene anschaut, dann klingt das ähnlich: Brüssel habe sich kümmern wollen und es nicht geschafft. Letztlich ist das politische System, das wir derzeit haben, dieser und anderen Krisen nicht gewachsen, und zwar auf allen Ebenen. Hier der EU die Schuld zu geben, ist unfair.
Was gehört denn Ihrer Ansicht nach auf die EU-Ebene?
Es gibt ein paar Themen, die müssen europäisch geregelt werden und sind es auch, etwa der Außenhandel. Dann sind da die Themen, die national behandelt werden, aber eigentlich auf die europäische Ebene gehören. Wenn man Waren- und Reisefreizügigkeit hat und eine Pandemie, dann geht es eben nicht, dass jedes Land seine eigenen Regeln macht, die Menschen am Wochenende zum Einkaufen in ein anderes Land rüberfahren und die Krankheit mitbringen oder aber einfach die Grenzen dichtgemacht werden. Auch die Themen Klima und Energie lassen sich national nicht bewältigen. Man könnte so viel erreichen, wenn man ein europäisches Energienetz hätte, durch das die Sonne aus dem Süden in den Norden gelangt und der Wind aus dem Norden Richtung Süden.
„Mehr Europa“ also?
Ja. Außerdem müssen die Länder damit aufhören, sich hinter der EU zu verstecken. Das Muster ist immer das gleiche: Wenn es ein Problem gibt, für das es auf nationaler Ebene keine Lösung gibt, soll es die EU lösen. Anschließend versucht sie das, hat aber keine vollumfassende Regelungskompetenz. Weil jedes Mitgliedsland sein Veto einlegen kann, bleibt die europäische Lösung oft unbefriedigend. Als verantwortlich dafür gilt dann aber die EU und nicht die nationalen Regierungen, die das Problem „nach oben schieben“ wollten und dann blockieren. Wir müssen damit aufhören, der EU den Schwarzen Peter zuzuschieben und uns gleichzeitig, wenn Brüssel etwas Gutes tut, auf die nationale Schulter zu klopfen.
Muss die Europäische Union weg vom Einstimmigkeitsprinzip?
Ja. Wenn wir Mehrheitsentscheidungen auch in der Außenpolitik durchsetzen würden, wären wir einen großen Schritt weiter. Das geht teilweise sogar ohne Vertragsänderung. Beim Thema Menschenrechte etwa müssten Sanktionen unter dem neuen Mechanismus nicht einstimmig beschlossen werden, das könnte auch mit einer qualifizierten Mehrheit funktionieren.
Sehen Sie die europäische Idee in Gefahr?
Wenn die Idee das Friedensprojekt Europa ist: Nein, das sehe ich absolut nicht gefährdet. Wir sind so miteinander verwoben, dass die Idee und das Konzept nicht infrage stehen. Wenn die europäische Idee ist, dass wir unsere Angelegenheiten gemeinsam politisch regeln, dann würde ich sagen: Ja, man kann die Regeln verbessern und man könnte auch über das Thema Mehrheiten reden. Wenn wir Europa allerdings dauerhaft zum Selbstbedienungsladen oder zum Sündenbock machen, dann bringt das irgendwann auch die Idee in Gefahr. Das ist aber nicht die Schuld der Europäischen Union, sondern die ihrer Mitglieder.
Lassen Sie uns über Frauen in der Politik sprechen, ein Thema, das seit der Nominierung von Annalena Baerbock als grüne Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl noch aktueller ist. Würden Sie sagen, dass die EU hier spürbare Fortschritte gemacht hat?
Zumindest ist Europa da deutlich progressiver als Deutschland. Wir haben im Parlament derzeit einen Frauenanteil von rund 40 Prozent. Davon kann der Bundestag nur träumen. Auch die Forderung, dass in der neuen Kommission das Geschlechterverhältnis 50:50 betragen soll, war in Brüssel nicht weiter umstritten, in den einzelnen Mitgliedstaaten schon. Und im Parlament habe ich gerade bei meinen osteuropäischen Kolleginnen oft besonders aktive Verbündete. Die fragen sich, wann die Westeuropäer in Gleichstellungsfragen mal aus dem Knick kommen. Mittlerweile sind auch bei Themen wie der Abtreibungsfrage europäische Allianzen entstanden, mit den Polinnen, den Nordirinnen oder den Französinnen, aber auch mit den Ungarinnen.
Eine Art europäisches Momentum?
Das könnte man so sagen. Und es ist ja schon seit den sechziger Jahren so, dass die Gleichstellung in Deutschland immer wieder durch Verfahren am europäischen Gerichtshof einen entscheidenden Schub bekommen hat – ob es dabei um Frauen in der Bundeswehr ging, um Entgeltgleichheit, um Krankenversicherungsbeiträge oder Autoversicherungen. Eine im Vergleich zur deutschen Situation revolutionäre Gesetzgebung auf europäischer Ebene ermöglichte es den Frauen bei uns, auf Basis dieser Gesetze Rechte einzuklagen. Ganz ähnlich ist das mit dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle. Das ist in osteuropäischen Staaten halb so hoch wie in Deutschland – das ist für mich wirklich ein Traum! Auch da könnten Frauen in Deutschland von einer europäischen Regelung profitieren.
Motor in Gleichstellungsfragen – das ist sicher etwas, was die EU attraktiv macht. Wie lässt sich eine junge Generation, die nach dem Ende des Kalten Krieges aufgewachsen ist, ansonsten für die EU begeistern?
Ich bin ja selbst in einer Zwischengeneration geboren, 1984; der Kalte Krieg war so gut wie vorbei, als ich noch im Kindergarten war. Insofern geht es mir ähnlich: Der Frieden, den Europa unseren Großeltern gebracht hat, ist für mich total selbstverständlich. Aber ich weiß noch, wie es ist, über eine Grenze zu fahren. Ich bin im deutsch-französischen Grenzgebiet aufgewachsen und wusste, dass man einen Pass haben muss und dass man den Dreisatz für die Umrechnung von D-Mark in Franc lernt. Das ist alles weggefallen. Handygespräche in Europa kosten nicht mehr als im Inland, man hat Freunde in ganz Europa und kann jederzeit über die sozialen Medien mit ihnen kommunizieren. Mir ist abstrakt bewusst, dass wir das ohne die EU nicht hätten. In meinem Kopf klebt da aber nicht überall eine Europafahne dran. Ich finde, es liegt in der Verantwortung aller, die sich Europa verpflichtet fühlen, das immer wieder in Erinnerung zu rufen. Andererseits kenne ich sehr viele Menschen, denen all das vollkommen gleichgültig ist. Es hat einfach nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun, dieses Europäische, Internationale, Gemeinsame.
Also geht es darum, Europa für Menschen erfahrbar zu machen, die einen anderen Bildungshintergrund haben?
Genau. Da reden wir dann über Erasmus+, über den Railpass für alle ab 18, aber auch über Austauschprojekte zwischen Schulen – nicht nur zwischen Gymnasien. Oder über Sportveranstaltungen. Das ist uns deutsch-französisch ziemlich gut gelungen, aber deutsch-polnisch zum Beispiel ist da nicht viel passiert. Letztlich bleibt der geistige Horizont vorwiegend national ausgerichtet. Jeder weiß, wer Bundeskanzlerin ist, aber fragen Sie doch mal, wer EU-Kommissionspräsidentin ist, wenn es gerade keine Deutsche ist. Kein Wunder, dass wir unsere Debatten weiterhin nicht europäisch führen. Verteidigungspolitik in Deutschland und Frankreich – was wäre das für eine faszinierende Debatte! Wenn wir sie nur endlich mal führen würden.
Wen sehen Sie da in der Pflicht?
Vor allem die Schulen. Europa gehört ganz vorne ins Curriculum und nicht, wie bisher, dem politischen System Deutschlands nachgeordnet. Ich erinnere mich, wie ich einmal in der S-Bahn mit meiner Tochter fuhr, als die 13 war. Wir diskutierten darüber, was es für das EU-Parlament und das Spitzenkandidatensystem bedeute, wenn Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin würde. Die Leute um uns herum schauten uns an, als seien wir Außerirdische! Wie wichtig Europa ist, dringt also nicht bis dahin durch, wo man die Bildungsgrundlage legen sollte. Ich habe aber die Hoffnung, dass man mit einem ambitionierten europäischen Green Deal die jetzige Generation überzeugen kann, dass es gemeinsam besser geht. Die Bewältigung der Klimakrise, das kriegen wir nur gemeinsam hin. Das könnte ein neues europäisches Narrativ für die junge Generation werden und neben das Friedensprojekt treten.
Was war denn Ihr persönlicher „Europamoment“?
Vielleicht war das in Mindanao auf den Philippinen. Ich war da mit Anfang 20 als Austauschstudentin. Dort herrscht seit 40 Jahren Bürgerkrieg, und ich habe mich öfters mit einem der Friedensaktivisten unterhalten. Einmal sagte er zu mir: „Europa ist für uns der Beweis, dass man Frieden lernen kann. Immer wenn bei uns mal wieder ein Friedensabkommen scheitert, dann erinnern wir uns daran, dass auch Menschen, die einst die schlimmsten Feinde waren, konstruktiv zusammenarbeiten können.“ Da wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, was für einen Wert das Ganze hat. Mittlerweile leite ich unter anderem die Delegation für die Arabische Halbinsel. Und auch von den sechs Ländern des Golf-Kooperationsrats höre ich immer wieder: Die EU ist ein Vorbild für uns. Sie zeigt, wie man so zusammenarbeiten kann, dass davon alle wirtschaftlich profitieren.
Wenn die EU von außen so positiv gesehen wird, warum ist man in Deutschland so skeptisch, was die Zugkraft der „Marke Europa“ angeht? Martin Schulz, der sehr viel europäische Erfahrung mitbrachte, wurde im Wahlkampf 2017 ausgesprochen lokal verkauft, als der Bürgermeister von Würselen …
Ich glaube, das war schlicht ein wahlstrategischer Fehler der SPD, den sie sich mittlerweile auch eingestanden hat. Im Europawahlkampf 2019 sind dann ja alle wieder in Europahoodies herumgelaufen.
Europa ist sehr stolz auf seine Werte. Schaut man auf die Situation der Geflüchteten in Griechenland, dann steht die EU nicht mehr ganz so glänzend da. Wie kann es gelingen, doch noch eine europäische Lösung zu finden, die zu menschenwürdigen Lebensbedingungen der Geflüchteten führt?
Die Situation in Moria und anderen Lagern geht mir persönlich sehr nah. Das, was da geschieht, widerspricht der europäischen Idee und allem, was ich eben so glühend verteidigt habe. Die Leute da draußen sehen uns als Leuchtturm, und gleichzeitig treten wir die Menschenrechte im Mittelmeer mit Füßen. Das wird uns mit Recht vorgehalten. Dabei sind sich ja im Grunde alle einig, dass diese Zustände unhaltbar sind. Aber wenn es um konkrete Lösungen geht, dann geht der Streit los über Solidarität und darüber, wer schon wie viele Geflüchtete aufgenommen hat und ob man nicht falsche Anreize schaffe, wenn man noch mehr Zuwanderung akzeptiert. Das ist einfach unwürdig, und auch da fällt uns wieder das Einstimmigkeitsprinzip auf die Füße, weil einzelne Länder alles blockieren können.
Bleiben wir beim Thema Menschenrechte und kommen zu China. Nach dem EU-Parlament hat jetzt auch die EU-Kommission die weitere Arbeit am Investitionspakt abgelehnt. Erst müssten die Gegensanktionen fallen. Glauben Sie, dass das Abkommen überhaupt noch eine Zukunft hat?
Zunächst einmal muss man klar sagen, dass das keine Gegensanktionen waren. Die EU hat vier Menschen sanktioniert, denen schwerste Menschenrechtsverletzungen gegen die muslimische Minderheit der Uiguren nachgewiesen werden können, und China hat daraufhin quasi mit der Schrotflinte alle möglichen Personen sanktioniert – Menschen, die sich gerne konstruktiv mit China befassen wollen, aber auf der Basis ihrer Werte die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Werten anmahnen. Wir vom Menschenrechtsausschuss sind komplett sanktioniert. Ich sehe nicht ein, dass ich mir von der Kommunistischen Partei Chinas diktieren lasse, wie ich meine Arbeit im Parlament zu tun habe. Solange diese Sanktionen bestehen, passiert gar nichts mit diesem Abkommen.
Glauben Sie denn, dass Peking zu Zugeständnissen zu bewegen ist?
Es gibt viele im EU-Parlament, die wie ich ganz grundsätzlich sagen, wir sollten über das Abkommen gar nicht verhandeln, solange die Sanktionen bestehen. Das haben wir auch noch einmal in einer Resolution bekräftigt, die mit großer Mehrheit angenommen wurde. Ich glaube aber auch, dass der wirtschaftliche Nutzen, den man sich von dem Abkommen erwartet, den Schaden, den man bei den Menschenrechten und der Demokratie in Hongkong und Taiwan anrichtet, nicht mal annähernd aufwiegt. Ich würde dem Abkommen in seiner jetzigen Form auch ohne die Sanktionen nicht zustimmen.
Um Menschenrechte geht es auch in der Auseinandersetzung mit der Türkei. Ankara hat seinen Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen erklärt, es ignoriert Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und inhaftiert Oppositionelle mit haarsträubenden Begründungen. Dennoch schlägt EU-Ratspräsident Charles Michel versöhnliche Töne gegenüber der Türkei an. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Annäherung?
Die Türkei ist Nachbarin der EU, in der Türkei leben viele Deutsche, und in Deutschland und anderen europäischen Ländern leben jede Menge Türkinnen und Türken. Wir werden also immer miteinander reden müssen, und ich finde das auch gut. Ich würde den Beitrittsprozess auch nicht rückabwickeln und diese Option vom Tisch nehmen. Die Frage, die sich für mich stellt, lautet eher: Ist das der richtige Moment, um mit einer „positiven Agenda“, wie es Michel nannte, in die Türkei zu fahren? Ich glaube, dass das wirklich ein fatales Signal an all diejenigen in der Türkei war, die eigentlich unsere Partner sind.
Also nicht auf Regierungs-, sondern auf Werteebene ...
Genau. Erdoğans Politik hat sich in den vergangenen Jahren heftig verschärft – von der Invasion in Nordsyrien über die Diskriminierung der Kurden im eigenen Land bis hin zur Aggression gegen Griechenland im Mittelmeer. Im Inneren setzt man gewählte Bürgermeister ab, man spricht Abgeordneten die Immunität ab. Das ist ein ausgesprochen aggressives Verhalten, das viele Bestimmungen des Völkerrechts und auch der türkischen Gesetze außer Kraft setzt. Und dann gibt es die Menschen in der Türkei, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Die sind alle sehr proeuropäisch eingestellt; sie sehen in der EU eine Verbündete. Wenn Charles Michel dann mit seiner positiven Agenda kommt, kann man noch so oft in Pressekonferenzen sagen: Ja, wir haben auch die Menschenrechte und die Istanbul-Konvention angesprochen. Im Moment ist einfach nicht die Zeit für eine positive Agenda mit Erdoğan.
Die Fragen stellten Martin Bialecki, Fabio Reith, Lisa Marie Rumpf und Joachim Staron.
Internationale Politik Special 04, Juli 2021, S. 12-17