Titelthema

29. Aug. 2022

„Die Ertüchtigung unse­rer Partner wird künftig noch wichtiger“

Was lässt sich aus Russlands Krieg gegen die Ukraine für die Konfliktprävention lernen? Welche Früherkennung brauchen wir? Wird jetzt zu viel Geld für Militärisches ausgegeben und zu wenig für zivile Vorbeugung? Der Außen-Staatsminister im Gespräch.

Ein Interview mit Tobias Lindner

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Bild: Porträt von Tobias Lindner
Dr. Tobias Lindner ist seit 2011 Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen für die Südpfalz in Berlin und seit 2021 Staatsminister im Auswärtigen Amt.
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IP: Herr Lindner, Krisenprävention hat in Deutschlands außenpolitischer Debatte lange ein Nischendasein geführt. Wie in der Corona- Pandemie galt: „There’s no glory in prevention“ – Katastrophen, die nicht stattfinden, bringen weder Schlagzeilen noch Wahlerfolge. Haben Sie den Eindruck, dass sich daran mit Russlands Krieg gegen die Ukraine etwas geändert hat?



Tobias Lindner: Ja, daran hat sich gravierend etwas geändert. Durch den russischen Angriffskrieg ist vielen in unserem Land bewusst geworden, wie wichtig krisenpräventive Maßnahmen weltweit sind. Wenn wir beispielsweise an die durch die russische Aggression ausgelöste Getreideverknappung und die damit einhergehende globale Ernährungskrise denken, ist es essenziell, genau festzulegen, in welchen Regionen wir in den kommenden Wochen und Monaten krisenpräventiv tätig werden. Das gilt übrigens auch für Maßnahmen der vorausschauenden humanitären Hilfe.

 

Was lässt sich aus der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges für die Krisenprävention lernen? Und was muss sich an Europas Sicherheitsarchitektur ändern, um für solche Angriffe besser gewappnet zu sein?



Konfliktprävention und Stabilisierung widmen sich ja traditionell den Krisenregionen dieser Welt, also insbesondere Ländern, die an einem Mangel an staatlicher Autorität, Legitimität oder auch an Kapazitätsdefiziten leiden. Das war bei der Ukraine so nicht der Fall: Das Land war weder dysfunktional noch politisch instabil, als der russische Angriff im Februar erfolgte. Es war aber spätestens seit 2014, mit der Annexion der Krim und dem Anzetteln des Konflikts im ostukrainischen Donbass durch Russland, ein Staat, der erheblichen Sicherheitsbedrohungen ausgesetzt war. Anders als oft dargestellt war ja der Konflikt im Donbass in den acht Jahren zwischen 2014 und Februar 2022 keinesfalls ein „frozen conflict“; er wurde von Russland gezielt und bewusst am Leben gehalten, mit dem Ziel der Schwächung der Ukraine – unter stetigen Opfern und der Zerstörung von Infrastruktur.  



Wir haben uns im Rahmen des Normandie-Formats und der OSZE engagiert und versucht, den Konflikt zu deeskalieren – etwa durch die angestrebte Umsetzung der Minsker Abkommen. Russland hatte aber kein Interesse an der Umsetzung dieser Vereinbarungen. Daraus können wir für die Zukunft lernen, dass die Ertüchtigung unserer Partner ein noch wichtigerer Baustein unserer Sicherheitsvorsorge sein sollte. Aktuell heißt es, dass wir die Ukraine solidarisch und gezielt unterstützen, damit sie in diesem verbrecherischen Krieg einen Sieg davonträgt. Klar ist, dass Europas Sicherheitsarchitektur sich weiter anpassen wird. Dabei spielt eine glaubhafte Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit eine zentralere Rolle als in der Vergangenheit. Wir sehen auch, dass andere Staaten Europas mehr als bisher ein Interesse an zuverlässigem Schutz haben.

 

Die Bundesregierung bekennt sich zu einer feministischen Außenpolitik, bei der es darum geht, in Frieden zu investieren. Doch derzeit bestimmen Aufrüstung und Waffenlieferungen Berlins außenpolitische Agenda. Ist da noch Platz für einen feministischen Ansatz und, wenn ja: Was kann er im Kontext des Krieges leisten?



Lassen Sie mich glasklar sagen: Feministische Außenpolitik und wirksame Sicherheitspolitik sind keine Gegensätze.  Im Gegenteil: Diese Annahme entspricht einem Rollenklischee, nach dem Sicherheitspolitik ein männliches, Friedenspolitik aber ein weibliches Thema sei. Dies ist aus unserer Sicht überholt: Wenig zeigt so klar wie der schreckliche Krieg in der Ukraine, dass feministische Außenpolitik kein Beiwerk, sondern gerade auch aus unserer Sicherheitspolitik nicht mehr wegzudenken ist. Die furchtbaren Berichte über sexualisierte Gewalt auch in diesem Konflikt, die Bilder von Frauen und Mädchen auf der Flucht und das unermessliche Leid für die Zivilbevölkerung, das mit diesem Konflikt einhergeht, zeigen ganz deutlich: Der Ansatz feministischer Außenpolitik mit einem klaren Fokus auf menschliche Sicherheit ist nicht wegzudenken aus einer zeitgemäßen Diplomatie, die in der neuen weltpolitischen Konstellation für unsere Werte eintritt und unsere Interessen wahrt.

 

Sie haben in der Vergangenheit verschiedentlich erklärt, Deutschland und die Welt gäben zu viel Geld für Verteidigung aus und zu wenig für Diplomatie und Krisenprävention. Wie wollen Sie verhindern, dass diese Schere im Zuge der „Zeitenwende“ weiter aufgeht?



Beide Aspekte müssen uns wichtig sein, deshalb haben wir einen sogenannten „Eins-zu-eins-Aufwuchs“ auch im Koalitionsvertrag verankert. Dass die Bundeswehr über Jahre hinweg finanziell vernachlässigt wurde, hat sich in der Russland-Ukraine-Krise besonders bemerkbar gemacht – das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, das der Bundestag jetzt auf den Weg gebracht hat, ist insofern eine bittere Notwendigkeit. Aber auch im Bereich meines Hauses, dem Auswärtigen Amt, konnten wir in den Haushaltsverhandlungen sehr ordentliche finanzielle Zuwächse erzielen, gerade für die humanitäre Hilfe. Erstmalig steigt das Budget des Auswärtigen Amtes auf über sieben Milliarden Euro; fast die Hälfte davon kommt unserer Abteilung für Stabilisierung, Krisenprävention, Friedensförderung und humanitäre Hilfe zugute – und somit den schwachen und fragilen Staaten dieser Welt und ihren Menschen.

 

Wie kann es uns gelingen, Nachhaltigkeit in die Krisenprävention zu bekommen, damit wir es vor die Konfliktwellen schaffen? Welche Rolle kann und muss politische Kommunikation in diesem Prozess spielen?



Um nachhaltig zu werden, muss Krisenprävention möglichst in einem frühen Stadium ansetzen. Dazu gibt es inzwischen viele gute Ansätze. Trotzdem können wir nicht in jedem Staat aktiv sein und werden auch zukünftig nicht nur agieren, sondern auch weiterhin reagieren müssen – das liegt in der Natur der Krise. Es gibt zudem immer wieder krisenhafte Entwicklungen, die einfach nicht vorhersehbar sind – nehmen Sie die Ermordung des haitianischen Präsidenten Moïse im vergangenen Jahr und die dadurch ausgelösten politischen Unruhen auf Haiti. Hier kommt der politischen Kommunikation eine entscheidende Bedeutung zu, denn wir könnten vieles von dem, was wir präventiv tun, einfach noch besser vermitteln. Deutschland muss sich als zweitgrößter humanitärer Geber weltweit nicht verstecken – da gehört „Klappern zum Handwerk“, wie man so schön sagt.

 

Früherkennung ist entscheidend, um Krisen und Gewaltkonflikte schon im Ansatz zu verhindern. Doch der Brückenschlag von der Analyse zum präventiven Handeln gelingt Kritikern zufolge häufig nicht. Die Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung etwa bemängelt die unzureichende Anbindung von Früherkennung an Strategiebildung, politische Entscheidungsprozesse und Personal vor Ort. Was ist zu tun?



Wir haben dieses Problem auch identifiziert; in gewisser Hinsicht erklärt sich die Gründung der Abteilung S des Auswärtigen Amtes im Jahr 2015 hieraus. In der Analyse sind wir inzwischen – auch durch unser PREVIEW-Krisenfrüherkennungssystem – viel, viel besser geworden. Nun müssen wir daraus politische Entscheidungsprozesse anstoßen. Hierfür treffen sich etwa die Arbeitsgruppe Krisenfrüherkennung auf Arbeitsebene und die Koordinierungsgruppe Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung der Bundesregierung regelmäßig auf Ebene der Abteilungsleiterinnen und -leiter. Sie nutzen vielfältige quantitative und qualitative, länderspezifische Krisenfrüherkennungsanalysen, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten und politische Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. In einem weiteren Schritt muss dann Personal vor Ort diese Entscheidungen auch ­umsetzen. Hierfür haben wir an unseren über 220 Auslandsvertretungen inzwischen ein sehr breit aufgestelltes Netzwerk, in vielen Krisenstaaten auch mit Kolleginnen und Kollegen, die sich spezifisch der Betreuung von Stabilisierungsprojekten widmen. Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Die meisten Auslandsvertretungen in Krisenregionen sind personell leider noch nicht so ausgestattet, wie wir es gerne sehen würden.

 

Die Bundesregierung hat sich außenpolitisch zwei Ziele auf die Fahnen geschrieben, die zuweilen miteinander im Widerspruch stehen: Stabilisierung und Menschenrechtsschutz. So gibt es vermeintlich stabile Regimes wie in Ägypten, die auf Repression und Ungleichheit beruhen und eklatant gegen Menschenrechte verstoßen. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen?



Stabilisierung kann nur ein Zwischenschritt sein auf dem Weg hin zu einem positiven Frieden: Nicht nur die Abwesenheit von Gewalt ist Ziel, sondern auch politische und soziale Teilhabe, ein rechtsstaatlicher Rahmen, Gewährleistung der Menschenrechte. Es ist richtig, dass es hier ein Spannungsfeld gibt und wir immer wieder abwägen müssen. Das ist oft schwierig. Eine Regierung zu stärken, die unsere Ziele und Werte nicht teilt, kann nicht unser Ziel sein, allerdings können wir ohne ein Mindestmaß der Koopera­tion auch keine Veränderungen erreichen. Aber es gibt Grenzen: Die Taliban in Af­ghanistan, das syrische Regime haben von uns derzeit keine über die humanitäre Hilfe hinausgehende Unterstützung zu erwarten. Auch in Mali schauen wir deswegen zurzeit ganz genau auf jedes Projekt.

 

Wenn Sie einmal in die Krisenregionen weltweit schauen: Wo wird Ihrer Einschätzung nach der nächste große Konflikt ausbrechen?



Das kann ich nicht vorhersagen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre lehren uns, dass Konflikte mitunter dort ausbrechen, wo wir es am wenigsten erwarten. In Myanmar beispielsweise hatte sich die zivile Regierung über Jahre fest etabliert und ihren Rückhalt in der Bevölkerung in Wahlen im Herbst 2020 auch noch einmal stark ausgebaut. Dann putschte Anfang Februar 2021 überraschend das Militär. Es gibt zudem viele Krisen, die nicht genug Aufmerksamkeit erhalten – wie die verzweifelte humanitäre Lage im Jemen. Auch die Entwicklungen im Zusammenhang mit der eingangs erwähnten globalen Ernährungskrise im Sudan geben Anlass zu großer Sorge. Eines ist jedoch klar: Übergreifende Themen wie die Klimakrise beschleunigen weltweit das Konfliktpotenzial. Hier müssen wir mit unseren Maßnahmen ansetzen.



Die Fragen stellte Joachim Staron. Das Interview wurde schriftlich geführt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 5, September 2022, S. 12-15

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