IP Special

04. Nov. 2022

Der digitale Fußabdruck

Netflix, Zoom und Co. sind ins Gerede gekommen. Immer stärker werden sie nicht als Teil der Lösung, sondern als Verursacher des Klimaproblems ausgemacht. Ist Streaming das neue Fliegen?

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Ein altes Fernsehgerät
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Gemeinfrei CC0

Wenn von Technologie und Klimawandel die Rede ist, wird oft eine Geschichte erzählt, die von Hoffnung handelt und von großen und kleinen Erfolgen. So hat sich die Nutzung digitaler Dienste nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) in den vergangenen zehn Jahren mindestens verfünffacht, während der Gesamtenergiebedarf von Rechenzentren mit rund 200 Terawattstunden pro Jahr weltweit etwa gleichgeblieben ist. Erreicht wurde dies vor allem durch eine Verlagerung der Datenverarbeitung weg von einzelnen, ineffizienten, kleineren Rechenzentren hin zu effizienteren „Hyperscale“-Rechenzentren, die sich im Besitz einiger weniger, immer größer werdender Unternehmen befinden. Außerdem waren für viele von uns Streamingplattformen wie Netflix und Videokonferenzanbieter wie Zoom ein Rettungsanker, um die ersten Jahre der Pandemie zu überstehen.

Gleichzeitig haben die Bedeutung dieser digitalen Dienste in unserem Leben und die Zuspitzung der Klimakrise zu einem neuen Interesse an den Auswirkungen des Technologiesektors auf das Klima geführt. Natürlich korreliert ein größeres Interesse nicht notwendigerweise mit mehr Wissen über das Thema. Auch heute noch werden Fragen wie „Ist Streaming das neue Fliegen?“ oder „Sollte ich mir Gedanken über den CO2-Fußabdruck meiner E-Mails machen?“ regelmäßig ernsthaft gestellt. Zur Verteidigung der Fragesteller sei gesagt, dass die Industrie dem Menschen nicht wirklich dabei geholfen hat, vernünftige Antworten zu finden.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens wird jeder, der etwas verkauft, dazu neigen, die Nachteile herunterzuspielen. In den vergangenen zehn Jahren wurden digitale Dienste immer wieder mit Begriffen wie „Cloud“ und „virtuell“ beschrieben, um von der sehr realen physischen Infrastruktur abzulenken, die sie in Wirklichkeit benötigen.

Die größte Maschine der Welt

Man kann sich das Internet als die größte Maschine der Welt vorstellen, und diese Maschine wird größtenteils mit Kohle betrieben, denn die zugrunde liegenden Stromnetze sind darauf angewiesen, dass wir Kohle zur Stromerzeugung verbrennen. Allerdings sind die meisten der uns zur Verfügung stehenden Methoden zur Messung der Umweltauswirkungen nicht für digitale Dienstleistungen ausgelegt und lassen viel Raum für Interpretationen. Am deutlichsten wird das bei den gemeldeten Emissionen von digitalen Unternehmen.

Im Jahr 2019 beauftragte Mozilla, der Hersteller des Firefox-Webbrowsers, Spezialisten damit, jährlich seine CO2-Emissionen zu ermitteln. Die gemeldeten Emissionen des Unternehmens mit etwa 1000 Mitarbeitern entsprachen etwa 800 000 Tonnen Kohlendioxid. Im selben Jahr meldete Google, ein Unternehmen, das für den Bau riesiger Rechenzentren auf der ganzen Welt bekannt ist und buchstäblich 100-mal so viele Mitarbeiter beschäftigt, einen Wert von rund 13 Millionen Tonnen. Wie kann ein Unternehmen mit 100-mal mehr Mitarbeitern, das mehr als 250-mal so viel Geld verdient und wahrscheinlich Millionen von Servern betreibt, kaum mehr als 15-mal so viel Umweltschäden verursachen?

Einer der Hauptunterschiede bestand darin, dass Mozilla die Emissionen aus der Nutzung seines Produkts berücksichtigte. Diese eine Entscheidung machte etwa 98 Prozent seiner gemeldeten Emissionen aus, während das größere Cloud-Unternehmen sich dafür entschied, sie nicht zu berücksichtigen.

Beide Unternehmen befolgten die gleichen Melde-Richtlinien, und beide hielten sich an sie. Letztlich wirkt hier ein ähnlicher Mechanismus wie der, der dazu führt, dass Tech-Giganten am Ende praktisch keine Steuern auf Dutzende von Milliarden Euro zahlen müssen – und dennoch die Vorschriften einhalten.

Das ist natürlich ein erhebliches Problem, wenn wir Fragen zu den Umwelt­folgen der IT beantworten wollen. Denn dafür müssten wir in der Lage sein, eine Diskussion zu führen, bei der die ermittelten Daten eine aussagekräftige Grundlage für die Politikgestaltung bilden.

Das Schlimmste verhindern

Im Jahr 2015 unterzeichneten fast alle Länder der Erde auf dem Weltklima­gipfel von Paris ein Abkommen, in dem sie sich verpflichteten, den Klimawandel auf deutlich unter 2 Grad Erwärmung zu begrenzen. Teil der Verpflichtung war es, einen Bericht in Auftrag zu geben, um die politischen Entscheidungsträger über den Unterschied zwischen 1,5 und 2 Grad globaler Erwärmung zu informieren. Als die Ergebnisse 2018 veröffentlicht wurden, stellte sich heraus, dass der Unterschied eklatant ist: 0,5 Grad weltweit mehr bedeuten neben dem Verlust unserer Korallenriffe, Hunderten Millionen Klimaflüchtlinge und Billionen an wirtschaftlichen Schäden den Verlust von Dutzenden Millionen Menschenleben.

Anfang dieses Jahres veröffentlichte der Weltklimarat einen umfassenden Bericht zum Klimawandel und zu unseren Fortschritten bei einer effektiven Antwort. Die Kernaussagen: Erstens, es bleibt noch Zeit für sinnvolle Maßnahmen (auch wenn sich das Zeitfenster bald schließt); zweitens, die Hindernisse für Maßnahmen sind weder technologischer noch wirtschaftlicher, sondern vor allem politischer Natur. Um das Schlimmste zu verhindern, muss jeder Sektor einen Weg finden, die Emissionen so weit zu reduzieren, dass die Erwärmung nicht mehr als 1,5 Grad beträgt.

Für den Technologiesektor gibt es drei Hebel, um die notwendigen Veränderungen zu erreichen: Verbrauch (im Sinne von „Kann ich ändern, wie viel wir brauchen, um etwas zu tun?“), Intensität („Kann ich ändern, wie viel Schaden entsteht, wenn ich etwas tue?“) und Weichenstellung („Kann ich ändern, wohin wir uns als Gesellschaft bewegen?“).

Verbrauch und Intensität

Der Verbrauch von Ressourcen ist in den meisten Fällen der Preis für die Erzielung eines bestimmten Nutzens, sei es eine warme, trockene Unterkunft oder die Möglichkeit, per Smartphone mit einem weit entfernten geliebten Menschen zu sprechen. Und obgleich die Rechenzentren selbst immer energieeffizienter werden, sind die Emissionen der Technologieunternehmen in absoluten Zahlen gestiegen.

Dieses Phänomen ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert stellte William Stanley Jevons fest, dass jede Generation von Dampfmaschinen effizienter war, dadurch aber immer mehr Maschinen preisgünstiger gebaut werden konnten und somit der Kohleverbrauch insgesamt anstieg. Gerade eine höhere Effizienz wird also irgendwann den Verbrauch in absoluten Zahlen erhöhen: das sogenannte Jevons-Paradox.

Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von IT zur Verringerung der Umweltfolgen anderer Aktivitäten, wie etwa im Verkehr mit Elektrofahrzeugen und autonomen Fahrern. Wie das kalifornische Institute of Transport Studies 2021 in einer Studie herausfand, steigt die Kilometerleistung der Autos auch dann, wenn sie effizienter sind, da die Menschen das Auto auf Besorgungen schicken, die sie sonst nicht selbst erledigen würden. Ähnliche Ergebnisse wurden bei Mobilitätsdienstleistern à la Uber und Lyft beobachtet – sie mögen bequem sein, erhöhen aber die Zahl der Autos auf der Straße.

Die Regelung des Verbrauchs allein wird nicht ausreichen. Für die Erreichung der Klimaziele ist die Intensität ein weiterer hilfreicher Hebel. Sie bezieht sich auf die Verringerung des angerichteten Schadens, während die Ressourcen verbraucht werden. In der Welt der Daten verbraucht eine Lernaufgabe die gleiche Menge an Rechenleistung, unabhängig davon, ob sie mit Energie aus der Verbrennung von Kohle oder mit Windenergie läuft. Würde man die gesamte Datenverarbeitung ausschließlich mit erneuerbaren Energien betreiben, könnte man rund 80 Prozent der Kohlenstoffemissionen des Sektors einsparen.

Unternehmen wie Microsoft, Google und Amazon waren in den vergangenen zehn Jahren die weltweit größten Abnehmer von Strom aus erneuerbaren Energien. Das trägt dazu bei, die Kosten für die Erzeugung fossilfreier Energie für alle zu senken. Denn das Wrightsche Gesetz, bei dem jede Verdopplung der Produktion die Kosten pro Einheit um einen bestimmten Betrag senkt, hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Rückgang der Kosten für Computer geführt. Das gleiche Gesetz gilt auch für modulare erneuerbare Technologien wie Wind- und Solarenergie.

Die deutsche Energiewende-Politik mit der Einspeisevergütung für Erneuerbare hat dazu beigetragen, dass die Kosten für diese Energien gesunken sind. Und für die Tech-Giganten wurden die Großaufträge für Erneuerbare teilweise mit großzügigen Steuergutschriften und anderen Subventionen finanziert.

Die Subventionierung von Billionen-Dollar-Unternehmen, damit sie umweltfreundlichere Energie nutzen, mag nicht der gerechteste Weg sein, um von fossilen Brennstoffen wegzukommen. Aber man kann argumentieren, dass Menschen und börsennotierte Unternehmen gleichermaßen auf die Anreize reagieren, die sie sehen. Wenn wir umweltfreundlichere Technologien wollen, müssen wir darüber nachdenken, welche Schäden die Verursacher auf die Gesellschaft abwälzen dürfen und welche Schäden wir durch das von uns geschaffene politische Umfeld vermeiden. Auch wenn wir nicht in der Lage sind, die Physik des Klimawandels zu ändern, so gibt es doch immer mehr Beweise dafür, dass wir die „Ökonomie“ des Klimawandels mit durchdachten politischen Maßnahmen ändern können.

Wo die Gesellschaft hinwill

Und schließlich der letzte Hebel, den man bei der Technologie im Auge behalten sollte: die gesellschaftliche Weichenstellung. Technologie ist, so war es auch kürzlich auf dem New Design Congress in Berlin zu hören, „ein sozialer, politischer und ökologischer Beschleuniger“.

Wenn wir uns nur auf die direkten Auswirkungen der Technologie auf die Umwelt konzentrieren und auf Green IT, übersehen wir die Tatsache, dass die Technologie eingesetzt wird, um Entwicklungen zu beschleunigen, welche die Gesellschaft auf einen bestimmten Weg bringen. Das ist besonders wichtig, wenn man die Auswirkungen der Beschleunigung gewisser Aktivitäten mit dem direkten digitalen Fußabdruck betrachtet.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Einsatz eigentlich umweltfreundlicher, effizienter Software und leistungsstarker Künstliche- Intelligenz-Modelle, um die Entdeckung und Förderung fossiler Brennstoffe zu beschleunigen. Als Microsoft 2019 einen neuen Vertrag mit ExxonMobil ankündigte, um mit Hilfe von KI im nordamerikanischen Permian-Becken nach Öl zu bohren, berechnete Greenpeace anhand der Zahlen aus den öffentlich zugänglichen Pressemitteilungen, dass dieser Vertrag allein vermutlich für Emissionen im selben Jahr verantwortlich sein würde, die der Hälfte der Gesamtemissionen von Microsoft entsprächen und etwa so hoch wären wie die von Facebook.

Wenn die IEA sagt, dass keine weiteren Explorationen nötig seien, und der Weltklimarat  erklärt, dass wir die Förderung von Öl und Gas einstellen müssten, sollten wir über die Nutzung von grüner IT genauso sprechen wie darüber, wie wir IT grüner machen können. Die Antwort auf die Frage, ob Streaming das neue Fliegen ist, lautet mit ziemlicher Sicherheit: Nein. Aber wenn wir darüber sprechen, wie wir unsere digitalen Dienste umweltfreundlicher gestalten können, kann es helfen, über Verbrauch, Intensität und Weichenstellungen nachzudenken.

Aus dem Englischen von Joachim Staron

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, November 2022, S. 30-33

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Chris Adams ist Co-Direktor der Green Web Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, deren Ziel ein vollständig mit erneuerbarer Energie betriebenes Internet ist.

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