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01. Mai 2016

Schema des Scheiterns

Kleine Historie der russischen Reformunfähigkeit

Die Geschichte Russlands ist eine Geschichte der missglückten Reformen. Das Muster ist stets das gleiche: Reformen folgen auf Krisen, die einen Wandel unvermeidlich machen. Sie werden „von oben“ durchgeführt und stoßen bei wichtigen Eliten auf Widerstand. Ganz umgesetzt werden sie nie – was dann zu Gegenreform und Stagnation führt.

Wenn das jüngste Scheitern von „Top down“-Reformen in Russland eines gezeigt hat, dann das: Im Rahmen eines autoritären Regimes und ohne Demokratisierung können Reformen nicht erfolgreich sein.

Derzeit nähert sich das Land wieder einem Punkt, an dem Reformen unausweichlich werden könnten. Dabei wird ironischerweise jegliches politisches Reformprogramm, wenn es erfolgreich sein soll, eine Rückkehr des Systems zu den Rahmenbedingungen erfordern, die in der Verfassung festgelegt sind. Offensichtlich repressive und nicht verfassungskonforme Gesetze der Putin-Ära müssen rückgängig gemacht, Eigentumsrechte gesichert werden. Der Staat wird Rahmenbedingungen schaffen müssen, die allen Bevölkerungsgruppen freie Meinungsäußerung und politische Repräsentation ermöglichen.

Herzstück jeder vernünftigen wirtschaftlichen Agenda werden Maßnahmen sein, die schon vor zwei Jahrzehnten zur Debatte standen: Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Militärsektor, eine Neuaufstellung der Altersvorsorge und der sozialen Systeme sowie, last not least, eine Reduzierung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft. Doch wirtschaftliche Reformen, die den Namen wirklich verdienen, werden sich in Russland erst dann umsetzen lassen, wenn das politische Klima und die Institutionen sich so verändern, dass sie die individuelle Freiheit fördern.

Auf den Sanktnimmerleinstag verschoben

Bevor wir mit der Diskussion über Reformen in Russland beginnen können, müssen wir zwei grundsätzliche Fragen beantworten: Warum werden Reformen notwendig? Und was bedeutet der Begriff im russischen Kontext?

Ich würde Reformen als politische Wende definieren; eine Wende, die größere politische und wirtschaftliche Freiheiten mit sich bringt und dazu beiträgt, dass politische, wirtschaftliche und soziale Schlüsselinstitutionen effektiver ­arbeiten. Wenn eine Regierung kein Interesse mehr daran hat, besser zu werden, wenn ein Land hinter seinen Nachbarn zurückbleibt, wenn das menschliche Kapital erschöpft ist und eine Gesellschaft immer isolierter und wirtschaftlich rückständiger wird – dann werden Reformen unabdingbar.

In Russland beginnen Reformen normalerweise mit geheimen und nur ­quasilegalen Treffen. Doch die Entscheidungen werden letztlich „ganz oben“ getroffen; ihre Umsetzung beginnt ebenfalls dort. Das Ganze scheitert dann fast immer daran, dass die Visionen mutiger Reformbefürworter in beständigen Kompromissen mit Machtinteressen zerrieben oder die Handelnden durch die Angst vor persönlichen Nachteilen gelähmt werden.

Nehmen wir einmal eine der Schlüsselreformen vom Beginn des 19. Jahrhunderts: die Bauernreform. Sie ist quasi das Modell für zahlreiche gescheiterte Reformen, die folgen sollten. Im Dezember 1826 wies Zar Nikolaus I. das so genannte „Private Komitee“ an, sich der Bauernfrage anzunehmen. Im April 1827 übergab er dem Komitee ein Memo über das Verbot des Verkaufs von landlosen Leibeigenen – vermutlich der erste Schritt zur Emanzipierung der Bauern. Im August 1827 begann eine detaillierte Diskussion über die Reformen mit dem Ziel, bis zum Dezember des Jahres ein Gesetz zu verabschieden. Das zog sich bis zum Jahre 1830 hin. An diesem Punkt übergab Nikolaus das Projekt an seinen Bruder Konstantin, der vorschlug, die Zeit darüber urteilen zu lassen – oder, anders formuliert: es auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben. Während seiner Herrschaft berief Nikolaus elf Komitees ein, um die Bauernfrage zu diskutieren; nicht ein einziges brachte irgendwelche Resultate hervor. Und das war das Werk eines Regenten, den Alexander Puschkin einmal „Russlands einzigen Europäer“ nannte.

Die Frage, warum Reformen in Russland nie zu Ende gebracht werden und wie sich daran etwas ändern ließe, ist nicht nur von historischem Interesse. Auch derzeit sind Russlands Wirtschaftsexperten und Gesetzgeber angeblich dabei, eine Strategie für die Entwicklung des Landes bis 2030 zu entwerfen.

Ökonomen ernst nehmen

Ein Meilenstein, der die Grundlage dafür schuf, politische und ökonomische Reformen überhaupt möglich zu machen, war die Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow in den fünfziger und sechziger Jahren. Die Diskussionen über wirtschaftliche Reformen – und darüber, wie man die öffentliche Meinung darauf vorbereiten könnte – begannen ebenfalls unter Chruschtschow. Die Chance, derartige Reformen auch tatsächlich umzusetzen, bot sich, als Leonid Breschnew 1964 die Macht übernahm und Alexei Kossygin für seine Steigbügelhalter-Dienste mit einem Mandat für eine Neuaufstellung der Wirtschaft bedachte.

Begonnen hatte die Debatte mit einem Artikel des Ökonomen Evsei Liberman, der am 9. September 1962 in der Prawda veröffentlicht wurde. Höhepunkt der Diskussion war ein Bericht von Ministerpräsident Alexei Kossygin vor dem Plenum des KPdSU-Zentralkomitees im September 1965. Die Öffentlichkeit nahm diese Reformen nicht sonderlich ernst, was sich an dem Spitz­namen „Libermanisierung“ ablesen lässt. Nichtsdestotrotz erlebten Begriffe wie „Wirtschaft“ und „Ökonom“ in den sechziger Jahren ihre Rehabilitierung. Ökonomen wurden nun als ernst zu nehmende Wissenschaftler gesehen, die versuchten, komplexen Prozessen auf den Grund zu gehen. Im Mai 1968 verfasste Kossygin eine Notiz an sich selbst: „Womöglich zum ersten Mal sind die Ergebnisse wirtschaftlicher Forschung relevant für die nationale Ökonomie. Im Grunde werden wir erst jetzt zu echten Ökonomen.“ Woran scheiterte dieser Reformversuch? Im Anschluss an das Plenum des KPdSU-Zentralkomitees im September 1965 führten 43 Betriebe in 17 Wirtschaftssektoren neue Verwaltungsprinzipien ein, die ihnen ein gewisses Maß an individueller Freiheit eröffneten. Zuvor als geradezu blasphemisch geltende Ideen wie „Profit“ oder „Bonuszahlungen“ nahmen ihren Platz neben dem geheiligten Konzept des „Plans“ ein, während das allmächtige Prinzip der „schieren Masse“ vom „Verkaufsvolumen“ abgelöst wurde. Es reichte nicht mehr aus zu produzieren, das Produkt musste auch verkauft werden.

Aus heutiger Sicht scheint es offensichtlich, dass Kossygins Reformen zum Scheitern verurteilt waren, da sie die Führungskräfte der Unternehmen dazu zwangen, nach den Regeln des Marktes zu handeln, obwohl es diesen Markt gar nicht gab. Zwar wuchs die Wirtschaft in der ersten Hälfte der sechziger Jahre tatsächlich – jedenfalls laut offiziellen Statistiken. Doch Ökonomen wie Jewgeni Jasin gehen davon aus, dass dieser Wachstumsschub nicht so sehr den Reformen geschuldet war, sondern eher dem latenten Inflationsdruck. Das Minimalmaß an Freiheit, das der Staat Unternehmen einräumte, führte dazu, dass diese ihre Angebotspalette erweiterten und die Preise anhoben. Hinzu kam, dass Kossygins Wirtschaftsreformen vor dem Hintergrund einer politischen Erstarrung durchgeführt wurden, für die insbesondere die Invasion der Tschecho­slowakei im August 1968 steht. Das nahm den Reformen die nötige Dynamik.

Unvollendete Revolution

Das Konzept der Perestroika hat tiefe historische Wurzeln und geht auf die Zeit der Großen Reform in den 1860er Jahren zurück. Michail Gorbatschows Erscheinen auf der politischen Bühne im Jahre 1985 und sein Aufgreifen des Konzepts erscheinen geschichtlich betrachtet fast zwangsläufig, wenn man die Anforderungen der Zeit betrachtet. Fast jeder im Lande hungerte nach Wandel, auch wenn niemand so recht wusste, was für eine Art Wandel das sein sollte.

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Perestroika war die Einführung von Wahlen als demokratisches Werkzeug und allgemein geteilter Wert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion konnte sich eine breitere Bevölkerung als Quelle konstitutioneller Macht erleben. Die führenden Vertreter der Perestroika versuchten, westliche, demokratische Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit oder die Rechenschaftspflicht der Regierung zum Teil des Systems zu machen, auch wenn sie diese nicht immer als westliche Werte erkannten.

Die Architekten der Perestroika erklärten diese zur Revolution. Sie versuchten sie mit positiven Bildern in Verbindung zu bringen – etwa mit denen der Oktober-Revolution. Und es war in der Tat weit mehr als Propaganda, als Gorbatschow 1987 zum Jahrestag der Revolution erklärte: „Oktober und ­Perestroika: die Revolution geht weiter.“

Die Perestroika war aber auch gleichzeitig eine Revolution der Erwartungen. Gorbatschow war ausgesprochen populär, und gerade deshalb erwarteten viele ein Wunder von ihm. Vielleicht dachten sie, dass sie nicht mehr zur Arbeit gehen müssten oder dass die Regale der Supermärkte unter dem Gewicht neuer Waren ächzen würden. Oder dass das Leben so gut werden würde wie in der DDR, in Ungarn oder gar in Westeuropa. Diese Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen; viele Menschen mussten sich ganz schön abstrampeln, um mit den neuen Realitäten Schritt zu halten. Bis heute können das viele Gorbatschow nicht verzeihen.

Hinzu kommt, dass die Schöpfer der Perestroika nie vorhatten, den Sozialismus abzuschaffen. Sie wollten den Leninismus mit Marktorientierung und Demokratie versöhnen. Diese Vereinigung von Dingen, die nicht miteinander vereinbar sind, konnte nicht funktionieren; aber die Idee einer Übereinstimmung von russischen mit westlichen Werten wurde nicht aufgegeben und 1993 sogar in der russischen Verfassung verankert. Doch in der Praxis haben wir es heute mit einer kompletten Neubewertung des Perestroika-Erbes und der damit verbundenen Reformen zu tun.

Aus einem Omelett ein Ei machen

Radikale liberale Reformen im postsowjetischen Russland wurden von Anfang an dadurch erschwert, dass die sowjetische Regierung unumgängliche Maßnahmen wie die Preisliberalisierung beständig vor sich herschob. Wirtschaftliche Reformen, einschließlich Privatisierungen, mussten zeitgleich mit der Aufgabe begonnen werden, die institutionellen Grundlagen für einen neuen Staat zu schaffen. Dieser Prozess ist oft als Versuch, ein Ei aus einem Omelett zu machen, beschrieben worden – also auf den Ruinen des sowjetischen Systems eine Marktwirtschaft zu errichten.

Für den Durchschnittsrussen war der Preis der Reformen enorm hoch – zumal man nicht vergessen darf, dass der Zerfall der Sowjetunion ein ausgesprochenes psychologisches Trauma bedeutete. Ob es Alternativen zur wirtschaftlichen Schocktherapie gegeben hätte? Vielleicht. Wahrscheinlicher ist, dass jede reformwillige Regierung sich genauso verhalten hätte – sei es, weil sie es so wollte oder sei es, weil die Umstände sie dazu gezwungen hätten.

Zudem wurde der Reformprozess immer wieder durch Streitereien gebremst – und durch die Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen. Der Übergang zur Marktwirtschaft stieß auf eine entschlossene Gegenbewegung in Gestalt der mächtigsten industriellen und politischen Lobbys: der Energie-, Agrar- und ­Militärindustrie auf der einen und bestimmter parlamentarischer Fraktionen auf der anderen Seite. Tiefpunkt war der Showdown zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Parlament im Oktober 1993, der damit endete, dass Truppen der Armee das Parlamentsgebäude mit Panzergranaten unter Beschuss nahmen.

Der hohe Preis, den die Öffentlichkeit für Reformen bezahlte, kostete die Reformbefürworter ihre Popularität, und eine Reihe von Hindernissen – die teils in der Natur der Sache lagen und teils von Menschen verursacht wurden – sorgten dafür, dass Reformen oft nicht vollständig umgesetzt wurden. Budgetdefizite, die sozialen Auswirkungen der eher unangenehmen Seiten des „Wilden Kapitalismus“ und die Suche nach politischer Unterstützung gerade nach Ausbruch des Krieges in Tsche­tschenien sorgten dafür, dass die Regierung mehr und mehr auf eine Zusammenarbeit mit den aufstrebenden Oligarchen setzte. Bis Mitte der neunziger Jahre entwickelten die Regierung und führende Unternehmer eine Art oligarchischen Kapitalismus, der nach den Wahlen 1996 fest verankert wurde. Reformen im engeren Sinne wurden nur partiell umgesetzt. Es gab ein paar halbherzige Versuche einer wirtschaftlichen Liberalisierung, einer Privatisierung, einer finanziellen Stabilisierung. Doch es mangelte an politischen Ressourcen und öffentlicher Unterstützung für weitreichende strukturelle Reformen. Diese Maßnahmen hätten als eine Art Ticket in die postindustrielle Welt wirken können, doch leider sind sie bis heute ausgeblieben.

Prognosen von erschreckender Hellsicht

Die Wirtschaftskrise von 1998 bedeutete das Ende der liberalen Reformära. Zwar ist „Ende“ in diesem Fall nicht mit „Vollendung“ zu verwechseln, doch zumindest das Hauptziel der Reformen – die Schaffung einer Marktwirtschaft – wurde erreicht. Zu dieser Zeit begann der so genannte „Club 2015“, ein Think Tank, in dem sich einige der fortschrittlichsten Denker und Unternehmer Russlands zusammengefunden hatten, sein Projekt „Szenarien für Russland“.

Der Auftrag war ambitioniert. Man wollte in Gestalt verschiedener Szenarien eine brauchbare Chancen-Risiken-Analyse entwickeln und damit die Grundlage dafür schaffen, aus dem scheinbar endlosen russischen Kreislauf Reform-Gegenreform auszubrechen. Kein Wunder, dass der spätere Minister für Wirtschaftsentwicklung Herman Oskarowitsch Gref, der 1999 den Auftrag erhielt, eine Wirtschaftsstrategie für den späteren Präsidenten Wladimir Putin zu entwickeln, sich mit Mitgliedern des Club 2015 traf.

Das pessimistischste der entwickelten Szenarien, das man vielleicht mit „Vergifteter eiserner Besen“-Szenario übersetzen könnte, dürfte kaum eines gewesen sein, das die Autoren als sonderlich wünschenswert bezeichnet hätten. Und doch war es mit seiner Skizzierung eines Putin-ähnlichen autoritären Anführers von erschreckender Hellsicht. Später zeigte sich, dass die Realitäten im Land autoritäre Tendenzen begünstigten. Es wäre zu einfach, Putin allein dafür verantwortlich zu machen. Schuld daran waren, in unterschiedlichem Maße, die politischen wie wirtschaftlichen Eliten und die breite Bevölkerung.

Unter den anderen Szenarien stechen die „Geschichte der verlorenen Zeit“ und das „Renaissance“-Szenario hervor. Geht es in der „Geschichte der verlorenen Zeit“ um den typischen Zustand der Trägheit und des mangelnden Enthusiasmus, der das Land immer wieder in die Krise stürzt, dürfte sich das optimistische „Renaissance“-Szenario für Augenzeugen der Straßenproteste von 2011 bis 2012 bekannt anhören. Doch die Menschen, die sich auf dem Bolotnaja-Platz versammelt hatten, wurden letzten Endes von einer Putin-Mehrheit vertrieben – eben jener Mehrheit, die später zur Krim-Mehrheit wurde. 2003 begann zunächst das Szenario „Geschichte der verlorenen Zeit“ Gestalt anzunehmen. In jenem Jahr wurde der Oligarch und Kreml-Gegner Michail Chodorkowski verhaftet, und die liberalen Parteien mussten bei den Duma-Wahlen massive Verluste hinnehmen. Außerdem bildeten sich neue politische Eliten heraus, die aus Veteranen der Sicherheitsdienste und den etablierten Gruppen aus Finanzwirtschaft und Industrie bestanden. Der Staat begann, wieder verstärkt in die Wirtschaft einzugreifen, und der Reichtum wurde wieder im Sinne der Eliten (mit anderen Worten: im Sinne der Kumpane Putins) verteilt.

Dank der Annexion der Krim ist Russland heute wieder in einer Ära der Konterreformen angelangt. Wie im „Vergifteter eiserner Besen“-Szenario prognostiziert, kam es „zunächst zu einem BIP-Wachstum von vielleicht bis zu 4 Prozent, da die Mobilisierung von Seiten der Regierung ausgesprochen wirkungsvoll sein kann. Doch dann wird es einen lang anhaltenden und schmerzlichen Niedergang geben, möglicherweise sogar hinter einem ‚Eisernen Vorhang‘, der Russland und seine Regierung von der internationalen Gemeinschaft trennt.“

Heute im Rückblick nicht mehr als ein Intermezzo, war die Modernisierungskampagne unter Dmitri Medwedew (2008 bis 2012) seinerzeit von großen Hoffnungen begleitet. Entwickelt hatten sie Wissenschaftler vom Institut für zeitgenössische Entwicklung (INSOR), das eigens für diesen Zweck gegründet worden war. Eine Studie des INSOR aus dem Jahr 2010 sagte präzise voraus, wie sich das Land unter einer erneuten Präsidentschaft Putins 2012 politisch, sozial und psychologisch verändern würde: „Schon wieder sehen wir der Gefahr ins Auge, dass wir zu hilflosen Zeugen werden, wie eine große Macht in sich zusammenfällt. Russland kann sich nicht schon wieder eine Zeit der Stagnation erlauben“. Die Kapitelüberschriften der Studie beschreiben eine durchaus ambitionierte Modernisierungsagenda: „Werte und Prinzipien: Von einer ressourcenbasierten Moral zur Ethik der Freiheit“, „Die politische Zukunft des Landes: Rückkehr zur Verfassung“ und „Das Herrschaftssystem: Der Weg aus der bürokratischen Kontrolle der Wirtschaft“.

Doch der Modernisierungssprung blieb aus. Ein abschließender Bericht des INSOR wurde vom Präsidenten schon nicht mehr eingefordert. Wenige Monate vor der „großen Rochade“ hatte Medwedew sein Interesse an Reformen verloren. Er wusste wohl, dass ihm keine zweite Amtszeit vergönnt sein würde.

Krise – Reform – Gegenreform

Am Ablauf russischer Reformzyklen hat sich über die Jahrhunderte nicht viel geändert. Stets wurden Reformen irgendwann unausweichlich: Die Situa­tion des Landes ist unhaltbar geworden, und somit müssen die Eliten, wenn sie an der Macht bleiben wollen, in irgendeiner Form reagieren. Zu ihren Antworten gehört normalerweise auch eine Verschärfung der Repression – doch das schließt eine spätere Rückbesinnung auf Reformideen nicht unbedingt aus. Allerdings kann diese erste Phase der Stagnation und Repression Jahrzehnte dauern. In dieser Zeit haben die Eliten die Möglichkeit, mit Modernisierungsinitiativen die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass sie sich selbst in Gefahr bringen.

Wenn zu diesem Zeitpunkt Forderungen nach Wandel in der Gesellschaft kursieren und wenn es den am oberen und am unteren Ende der Gesellschaftspyramide Stehenden gelingt, sich auf Ziele zu einigen oder Kompromisse zu schließen, dann beginnen die Reformen. Gestartet werden sie von den Eliten, da Modernisierung nur von Menschen mit einer gewissen Machtfülle begonnen werden kann. Gleichzeitig ist es wichtig, mithilfe politischer, staatlicher und sozialer Gruppen, die von den Reformen profitieren könnten, so genannte „Koalitionen für Modernisierung“ zu bilden.

Hemmnisse in Gestalt politischer oder ideologischer Grenzziehungen sind ständige Begleiter russischer Reformen. Während der Perestroika wagte es die Regierung nicht, das sozialistische System an sich infrage zu stellen. Unter Alexander I., dem Vorgänger Nikolaus I., galten die Prinzipien der Leibeigenschaft und der absolutistischen Macht des Monarchen als rote Linien. Im heutigen Russland ist es der unbedingte Wille der etablierten Elite, an der Macht zu bleiben, die ihren Widerwillen erklärt, etwas am Status quo zu ändern. Jedweder ernsthafte Reformversuch wird zu viele Opfer und radikale Veränderungen erfordern, als dass er reibunglos ablaufen könnte. Das hilft zu verstehen, warum die Umsetzung normalerweise mehr oder weniger im Sande verläuft.

Inzwischen begegnen viele Russen Reformen mit der fatalistischen Ansicht, dass sie wohl für immer Nachzügler im Entwicklungsprozess bleiben werden. Unter bestimmten Umständen sind sie, wie Jürgen Habermas es nennt, dazu verdammt, „nachholende Revolutionen“ zu starten, um wettzumachen, was sie verloren haben. Ein Beispiel einer solchen „nachholenden Revolution“ war die Protestbewegung von 2011 und 2012, in der die fortschrittlichsten Teile der Gesellschaft politischen Wandel einforderten, da sie der Meinung waren, dass rückständige Eliten und unvollendete Regierungsreformen die Entwicklung Russlands hemmten.

Der russische Demograf Anatoly Vishnevsky hat die widersprüchliche Logik von Reformen folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Egal, welchen Aspekt der Reform wir betrachten, nach einer kurzen Phase des Erfolgs stehen die Ziele der Modernisierung irgendwann im Widerspruch zur konservativen Gesellschaftsordnung, und weiterer Wandel wird blockiert. Die Reformen geraten ins Stocken und enden in einer Sackgasse. Am Ende mündet das in eine Systemkrise, die seine komplette Neuerfindung erforderlich macht.“

In einer perfekten Welt hätte jeder etwas von Reformen, und sie würden von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt werden. Doch selbst dann ist ihr Erfolg nicht ausgemacht – siehe Gorbatschows Perestroika. Der Moskauer Reformökonom Jegor Gaidar schrieb dazu vor rund 20 Jahren: „Objektiv betrachtet, gibt es vornehmlich zwei Gruppen in unserer Gesellschaft, die an einer liberalen Wirtschaftspolitik interessiert sind, die Russland den Weg in eine stabile freie Marktwirtschaft ebnen könnte. Das ist zum einen die neue Mittelschicht, die gleiche Regeln für alle braucht, effektiven Schutz von Privatbesitz und eine Regierung, die keine allzu große Last ist. Und dann die Intellektuellen aus Wissenschaft, Bildung, Medizin und Kultur – Bereiche, in denen der Zustrom von Geld die Bedürfnisse der Bevölkerung objektiv widerspiegelt. Werden diese Gruppen es schaffen, herauszufinden, was sie wirklich brauchen und wie man dafür kämpft? Die Antwort auf diese Fragen wird die Zukunft Russlands im 21. Jahrhundert maßgeblich beeinflussen.“

Die progressiven Gruppen, die Gaidar beschreibt, hätten das Kernstück einer Koalition für Reformen sein können, hätten sie sich für eine Modernisierung des Systems eingesetzt. Doch im heutigen Russland findet man selten Koalitionen, die aufgrund einer gemeinsamen Klassen- oder Berufsgruppenzugehörigkeit für Reformen kämpfen. Enthusiastischer Patriotismus trifft auf soziale Apathie, und das vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise. Kein Wunder, dass auf Regierungsebene die Bereitschaft überschaubar ist, eine Reform zu unterstützen, und dass auch von der Bevölkerung kein klares Zeichen kommt, dass eine solche erwünscht ist. Es mangelt an einer klaren Zukunftsvision.

Die russische Regierung steht auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen 2018 vor einem Dilemma. Entweder wählt Russland den Weg der Demokratie und Liberalisierung oder den der Repression, der Isolierung und Rückständigkeit. Es gäbe noch eine dritte Option: Stillstand – doch auch das wird zu Entwicklungsrückstand führen, vielleicht ohne verschärfte Unterdrückung. Erfolgreiche Reformen erfordern nicht nur den politischen Willen, sondern auch eine eindeutige Bereitschaft vonseiten der Elite, Macht für Fortschritt zu opfern und das autoritäre System abzuschaffen. Autoritär geführte Modernisierungsversuche hatten bisher keinen Erfolg im postsowjetischen Russland, und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich das in Zukunft ändern wird. Für die nächste Welle erfolgreicher Reformen wird Demokratisierung vonnöten sein – was bedeutet, dass die Demokratisierung an sich das Hauptziel der Reformen sein muss.

Andrei Kolesnikov ist Senior Associate und Vorsitzender des Programms für Russische Innenpolitik und Politische Institutionen am Carnegie Center Moskau.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2016, S. 30-37

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