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24. Juni 2021

Nachruf auf Wilhelm Cornides (28.7.1920-15.7.1966)

Von Hermann Volle

“Nur über sich selbst hinaus wird der Mensch er selbst.” Alfred Delp

 

Das Europa-Archiv hat seinen Herausgeber, jedes Mitglied der Redaktion, hat einen Freund verloren. Der Verlust wird weit über Deutschland hinaus empfunden: Wilhelm Cornides genoss das höchste Ansehen im Kreise der Spezialisten für internationale Politik vieler Länder. Die Trauer um ihn wird jenseits der Ozeane und jenseits des Eisernen Vorhangs geteilt.

Von knapp sechsundvierzig Jahren seines Lebens hat Wilhelm Cornides fast einundzwanzig der Sache gegeben, für die er lebte. Es gab verschiedene Wegmarken; im Grunde waren sie alle Stationen auf dem Weg zu einem Ziel: der Civitas Dei so nahezukommen, wie es die menschliche Natur erlaubt, die er mit christlichem Realismus ohne Illusionen sah.

Geprägt durch die Atmosphäre des elterlichen Hauses – den altösterreichischen Kulturstil väterlicherseits, die Geistigkeit der Verlegerfamilie Oldenbourg mütterlicherseits –, verbrachte Wilhelm Cornides, achtzehn Jahre alt, ein Jahr in England. Lebensformen und Institutionen hinterließen einen tiefen und bleibenden Eindruck. Im Chatham House, dem Royal Institute of International Affairs, wurde er mit einer Einrichtung bekannt, die Pläne anregte und in späteren Jahren als Modell für eigenes Wirken diente.

Arbeitsdienst und Kriegsdienst folgten. Nach der Teilnahme an Kampfhandlungen in Frankreich wurde er einer Dolmetscherkompanie zugeteilt. In verschiedenen Kriegsgefangenenlagern, vor allem im Offiziersgefangenenlager Eichstätt, fand er unter großem persönlichem Risiko Kontakt mit Offizieren der Alliierten und erörterte mit ihnen Fragen der politischen Nachkriegsordnung.

Nach dem Elternhaus und dem Aufenthalt in England war die dritte formende Kraft ein Studienurlaub in Wien, im Winter 1942/43. Im Hause des Schriftstellers Ernst Molden und seiner Frau, der Dichterin Paula Preradović, nahm Wilhelm Cornides an Gesprächen über die geistige Neuordnung nach dem Kriege teil.

Im Sommer 1943 nahm er die Verbindung mit Alfred Delp auf, der im Februar 1945 ein Opfer der Terrorgerichtsbarkeit wurde. In den Gesprächen mit Alfred Delp hat Wilhelm Cornides Wertmaßstäbe von entscheidender Bedeutung empfangen.

München, London und Wien, das waren die Städte der Vorbereitung. Die Stunde des Handelns kam, als er im Juni 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen wurde und, noch nicht 25 Jahre alt, in Frankfurt mit der Verwirklichung seiner Pläne begann. Im Juli fingen die Vorbereitungen für die Gründung eines Verlags und einer Zeitschrift an. Nach langwierigen Verhandlungen erhielt er im Frühsommer 1946 die Lizenz für die Zeitschrift Europa-Archiv. Ihr erstes Heft erschien im Juli unter der Schriftleitung von Wilhelm Cornides, Hermann Volle und Gertrud Becker.

Politisch war die Zeitschrift. Politik erschöpfte sich für Wilhelm Cornides jedoch nicht in den Vordergrundsfragen und Aufregungen des Tagesgeschehens. Seine Generation hatte erlebt, dass Politik dieser Art kein isoliertes oder isolierbares Geschehen ist, sondern nur eine Erscheinungsform der Einheit von Mythen, Ideen, Interessen, die durch ein Zeitalter strömen. So war es natürlich, dass die politische Zeitschrift Europa-Archiv in ihrem ersten Heft nicht nur unter anderem das Rhein-Ruhr-Problem, die Vereinten Nationen, Südtirol und die deutsche Kohleproduktion behandelte, sondern auch Literatur und Theater in der Sowjetunion. Dabei war der Titel der Zeitschrift mehr als ein Name. Europa als Substanz war im Bewusstsein, Europa als Einheit in der Vision des Gründers. Anknüpfend an ein Wort von Hofmannsthal schrieb er im November 1946: „Wir sehen Europa als die geistige Grundfarbe des Planeten, das Europäische als Maßstab, an dem die jeweiligen nationalen Forderungen zu messen und zu korrigieren sind. Wenn sich auch der Schwerpunkt des Weltgeschehens von diesem Kontinent entfernt hat, so steht es uns doch nach wie vor frei, in der Art, wie wir die Dinge betrachten und beurteilen, die Qualität zum Ausdruck zu bringen und den Werten Geltung zu verschaffen, die das Gesicht dieses Erdteils geprägt haben und die auch heute noch ein unverlierbares Vermächtnis an die Welt darstellen."

Niemand konnte indessen vom europazentrischen Denken weiter entfernt sein, als Wilhelm Cornides es war. Er sah ganz klar, dass alle europäischen Fragen auf die eine oder andere Art mit Angelegenheiten anderer Kontinente verflochten sind, und er warnte immer wieder, diese Zusammenhänge zu übersehen, weil ohne sie das europäische Problem ungebührlich vereinfacht und letztlich die Offensive der antieuropäischen Kräfte gefördert würde. Ihnen stellte er den „europäischen Maßstab" entgegen. Darunter verstand er „eine in ihrer Wandlungsfähigkeit dauerhafte Art des Ausgleichs zwischen Individualität und Gruppenbewusstsein, eine besondere Art des geistigen Gleichgewichts, das in verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte von einzelnen wie von ganzen Völkern errungen wurde und dadurch auch heute als geistiger Anspruch und als Möglichkeit für die Zukunft vorhanden ist". Europäisches, aber nicht europazentrisches Denken kennzeichnet auch sein Buch „Die Weltmächte und Deutschland", das auch heute noch eine der besten Orientierungshilfen zum Verständnis unserer Zeit ist.

Hier kann nicht die Geschichte seiner Zeitschrift geschrieben werden, die viele Jahre unablässiger Mühen, Erfolge, Rückschläge und neuen Beginnens einschließt. Die Währungsreform 1948 traf das junge Unternehmen hart. Die Auflage sank gleichsam über Nacht von 12 000 auf unter 2000 Exemplare. Bücherreihen, die begonnen waren, konnten nicht fortgeführt werden. Wilhelm Cornides aber ließ sich nicht entmutigen. Ein besonderes Wort gebührt an dieser Stelle Frau Margit Cornides, die an allen Arbeiten ihres Mannes verstehend Anteil genommen und in den ersten Jahren des Europa-Archiv tatkräftig mitgearbeitet hat. Wieviel sie zu dem Gelingen des Unternehmens beigetragen hat, vermag nur zu ermessen, wer ihr unermüdliches Wirken aus der Nähe miterlebt hat.

Mit Elan und Tatkraft, die sich auf seine Mitarbeiter übertrugen, führte Wilhelm Cornides die Arbeit trotz aller Schwierigkeiten fort und fasste gerade in dieser Zeit den kühnen Entschluss, vom monatlichen zum vierzehntägigen Erscheinen überzugehen. Dadurch wurde die Zeitschrift aktualisiert, aber nicht „entideologisiert", denn so sehr das Bemühen um Objektivität eines ihrer Lebensgesetze war und ist, so wenig sollte und durfte sie nach dem Willen des Herausgebers wertneutral sein.

Im Oktober 1949 wurde die „Europa-Archiv Studienhilfe für internationale Zusammenarbeit e.V." gegründet, deren Vorsitzender seit Dezember 1950 Theodor Steltzer war. Diese Institution übernahm mithilfe privater Zuwendungen den Ausbau des Verlagsarchivs zu einem Dokumentationszentrum für internationale, vor allem europäische Probleme. Damit war der erste Schritt zur Verwirklichung der Pläne getan, die Wilhelm Cornides seit seinem Englandaufenthalt vor Augen standen: die Schaffung eines Instituts für internationale Beziehungen. Die Gründung des Instituts für Europäische Politik und Wirtschaft im Sommer 1952 war die nächste Stufe einer organischen Entwicklung. Die Institutsleitung wurde von Theodor Steltzer als Vorsitzenden, Wilhelm Cornides und Dr. Dietrich Mende übernommen.

Nachdem es ihnen gelungen war, zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft für ihre Ziele zu gewinnen, wurde am 29. März 1955 die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. in Bonn als eine unabhängige und überparteiliche Vereinigung gegründet. Ihr wurde das Institut für Europäische Politik und Wirtschaft als Forschungsinstitut der Gesellschaft eingegliedert. Nun wurde das Europa-Archiv Organ der Gesellschaft und des Forschungsinstituts. Die Gesellschaft übernahm die Verlagsrechte, weil, wie der Präsident der Gesellschaft, Dr. Günter Henle, formuliert hat, zwischen den Aufgaben und Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, und jenen, denen das Europa-Archiv seit seiner Gründung dient, Übereinstimmung besteht.

Außer der Herausgabe des Europa-Archiv übernahm Wilhelm Cornides die Vorbereitung und Herausgabe der Jahrbücher „Die internationale Politik". Maßgeblichen Anteil hatte er an der Einsetzung der Studiengruppe der Gesellschaft für Rüstungskontrolle, Rüstungsbeschränkung und internationale Sicherheit sowie der Studiengruppe für Fragen der deutschen Ostpolitik. Im Jahr 1965 übernahm er, nach langem Zögern, auch noch die Leitung des Forschungsinstituts.

Es ist unmöglich, alle Institutionen und Organisationen zu nennen, an deren Schaffung Wilhelm Cornides beteiligt war oder deren Arbeit er mitgestaltet hat. Nur das Centre Européen de la Culture in Genf und das Comité Européen pour le Progrès Économique et Social seien erwähnt, an deren Gründung er den tätigsten Anteil hatte.

Diese nur den Vordergrund streifenden Fakten geben nicht mehr als eine Ahnung der Dimensionen seiner Interessen und Kenntnisse, seines Könnens und Wirkens. Seine Interessen schienen keine Grenzen zu kennen, immer entdeckte er Neues, das ihn anzog und das er sich aneignete, weit entlegene Gebiete wie Scholastik und Existentialismus, Tiroler Landesgeschichte und Kybernetik, alte und zeitgenössische Musik, um nur einiges wenige zu nennen. Als einer der ersten in Deutschland hat er die Bedeutung der nuklearen Rüstung und Strategie für die internationale Politik erkannt und die vielfältigen Aspekte dieser Komplexe gemeistert. Auf vielen internationalen Konferenzen hat er die Bundesrepublik vertreten und in kritischen Situationen der westlichen Allianz dafür gewirkt, dass die Zusammenarbeit der nichtamtlichen Spezialisten für internationale Politik nicht gestört wurde. Das Verstehen anderer Standpunkte bei unbeirrbarer Behauptung des eigenen, zusammen mit diplomatischem Feingefühl, machten ihn zu einem vorbildlichen „ehrlichen Makler". Auf seine Uneigennützigkeit, Redlichkeit und Bescheidenheit gründete sich sein Ansehen. Er vollbrachte die größten Leistungen und machte von sich nicht das geringste Aufheben.

Oft ist die Frage gestellt worden, was ihm die Kraft zu diesem Wirken gab, das in die Breite und in die Tiefe reichte. Die Antwort ist: sein Glaube und seine Familie.

Das Europa-Archiv, lange Jahre ein Sorgenkind, hat Wilhelm Cornides besonders am Herzen gelegen. Wer das in diesen Tagen erschienene Zwanzig-Jahres-­Register aufschlägt und die Vielzahl seiner Beiträge und die Vielfältigkeit der von ihm behandelten Themen studiert, wird erkennen, was er als Gründer und Herausgeber für die Zeitschrift bedeutet hat. Er kann nicht ersetzt werden. Wir wollen die Arbeit in seinem Sinne weiterführen.

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