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12. Dez. 2022

Geld oder Leben

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar wird begleitet von massiver Kritik und Boykottaufrufen, auch aus Zivilgesellschaft und Fan-Organisationen. Doch solange das große Geld weiter fließt, wird sich vermutlich wenig ändern.

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Fußball, das ist die Religion mit der wohl größten Gemeinde weltweit. Das Stadion ist der Tempel, die Fans sind die Gläubigen, Stars wie Cristiano Ronaldo und Lionel Messi sind ihre Götter. Die Weltmeisterschaft ist die Krönungsmesse. Wie in jeder erfolgreichen Religion werden auch beim Fußball Milliarden umgesetzt. Die Götter verdienen gigantische Summen, die Sendelizenzen werden alle vier Jahre teurer, Sponsoren schlagen sich um die besten Plätze auf Trikots, Bannern und in den Werbepausen. Diesen Geldfluss steuert und verwaltet die mächtigste Glaubenskongregation der Welt: die FIFA.

Schon vor der Weltmeisterschaft, die derzeit in Katar stattfindet, ist ihr Präsident Giovanni Infantino, ein 52 Jahre alter Schweizer, erstmals richtig unter Druck geraten. Zwar ist die FIFA schon lange bekannt als Hort von Korruption und Vetternwirtschaft, aber die Vergabe der WM an Katar, die noch Infantinos Vorgänger Sepp Blatter zu verantworten hatte, hat in der Weltöffentlichkeit einen Schrei des Entsetzens ausgelöst. Die Vorwürfe: Korruption bei der Bewerbung, Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen und – vor allem – sklavenähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter beim Bau der Stadien. Von bis zu 15.000 Toten ist die Rede. Außerdem findet die Weltmeisterschaft erstmals im Winter statt, weil die Bedingungen im Sommer bei teilweise 50 Grad keinem Spieler zugemutet werden sollten. Der Protest der europäischen Ligen wurde schnell im Keim erstickt – mit Geld, wie eine Dokumentation der ARD vermutet.

Image und Integrität des Weltfußballs beschädigt

Doch an Infantino prallen die Vorwürfe ab wie ein Sandsturm an den Palastmauern des Emirs. Erstmals verlegte ein FIFA-Präsident ein Jahr vor Beginn der WM seinen Wohnsitz in das Gastgeberland, um die Organisation direkt vor Ort zu steuern. Das Europäische Parlament hat Ende November in einer Entschließung zur Lage der Menschenrechte in Katar scharfe Kritik geübt, in der FIFA herrsche „ungezügelte, systemische und tief verwurzelte Korruption“, Image und Integrität des Weltfußballs seien „ernsthaft beschädigt“. Das Parlament forderte die EU-Staaten auf, Druck auf UEFA und FIFA auszuüben, damit letztere sich für grundlegende Reformen einsetzt. Dazu gehöre ein demokratisches und transparentes Verfahren bei der Vergabe der Weltmeisterschaft.

Wer aber kann derartige Reformen beim Weltverband lostreten? Die Stimmen in der Politik blieben seltsam ruhig. Zwar trug die deutsche Innenministerin Nancy Faeser bei ihrem Besuch des ersten Deutschland-Spiels die umstrittene One-Love-Armbinde, die zu tragen mehreren europäischen Mannschaften untersagt worden war, aber Bundeskanzler Olaf Scholz blieb gewohnt zurückhaltend und schloss einen Besuch eines Finales mit deutscher Beteiligung nicht aus. Der französische Präsident Emmanuel Macron wollte „die WM nicht politisieren“, und auch der spanische König Felipe VI. plante einen Besuch am Persischen Golf. Bei Erfolgen ihrer Teams stehen Staats- und Regierungschefs gern in Sichtweite neben ihren Spielern. Erfolg strahlt ab.

Der Fußball praktiziert traditionell einen unausgesprochenen Laizismus – und gegenwärtig ist für die Politik ein besonders ungünstiger Zeitpunkt, sich einzumischen. Zu groß sind die internationalen politischen Abhängigkeiten. Katar verfügt über die drittgrößten Erdgasreserven der Welt. Da will es sich in Zeiten der Gasknappheit infolge des Krieges in der Ukraine niemand mit dem potenziellen Großlieferanten verscherzen.

Wie also sich auflehnen gegen einen Weltverband, der schon längst nur eigene Interessen vertritt und die Fans als zahlende Kunden betrachtet? Wer hat die Möglichkeit, eine wirkliche Reform der FIFA zu bewirken, wo auch die nationalen Verbände sich eher durch Schweigen hervorgetan haben?

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International haben den Weltverband aufgefordert, ein Entschädigungsprogramm für die Angehörigen der gestorbenen Arbeiter in Katar aufzusetzen. Nachdem der WM-Botschafter Katars in einer ZDF-Dokumentation Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnet hatte, forderte der Lesben- und Schwulenverband Deutschland das Auswärtige Amt auf, eine Reisewarnung für das Land auszusprechen. Solche Appelle sind wichtig und erreichen mediale Aufmerksamkeit, sie ändern jedoch nichts.

„Unmut in Protest umwandeln“

Bernd Beyer, ein pensionierter Autor und Journalist aus Göttingen, hat vielleicht die stärkste politische Protestbewegung ausgerufen, die es bislang im Fußball gegeben hat – zumindest in Deutschland. Weil ihn die Berichte über die Arbeitsbedingungen und die vielen Toten unter den Gastarbeitern in Katar erschütterten, gründete er bereits Mitte 2020 die Initiative „Boycott Qatar“. Ihr schlossen sich zahlreiche Organisationen, Vereine und Verbände bis hin zu Kneipen an. Ihr Ziel: „Unmut in eine konkrete Protestbewegung umwandeln“, sagt Beyer. Während der WM soll der Fernseher ausbleiben.

In den letzten Bundesliga-Spieltagen vor der Weltmeisterschaft sah man die Plakate mit der Aufschrift „Boycott Qatar“ in fast allen Stadien – wochenlang. Und es zeigte Wirkung. Die drei Spiele der deutschen Nationalmannschaft schauten insgesamt knapp 44 Millionen Zuschauer. Vor vier Jahren bei der WM in Russland waren es noch fast 75 Millionen gewesen. Beyer ist zu bescheiden, diesen Erfolg seiner Initiative zuzuschreiben, „aber unsere Aktionen in den Stadien haben schon große Aufmerksamkeit erreicht, und zwar quer durch alle Lager. Selbst die Ultras, die sich eigentlich nicht für die Nationalmannschaft interessieren, sondern nur für ihren Verein, haben da mitgezogen“, sagt er.

Es werde, sagt Beyer, eine Diskussion geben müssen, wie es mit dem Weltfußball weitergeht. „Es zeichnet sich gerade eine Spaltung ab, da Infantino versucht, alle Forderungen nach Menschenrechten und Nachhaltigkeit als arroganten Eurozentrismus zu diffamieren. Der Deutsche Fußball Bund (DFB) muss sich mit anderen starken europäischen Verbänden zusammenschließen und möglichst Verbündete in Südamerika suchen.“ Nur so könne man den nötigen Druck für Reformen auf die FIFA ausüben.

In zwei Jahren ist Deutschland Ausrichter der Europameisterschaft. Die läuft unter dem Dach der UEFA. Dennoch hat der DFB die Chance, ein Gegenmodell zu entwickeln, Zivilgesellschaft, LGBTQ-Community, Faninitiativen und Künstler ins Rahmen- und Kulturprogramm einzubinden und so auf globaler Ebene Strahlkraft zu entfalten. Um die FIFA zu reformieren, braucht es jedoch mehr als ein diverses Rahmenprogramm.

Geld regiert die Fußballwelt

Mit dem dänischen hat erstmals ein nationaler Fußball-Verband öffentlich über einen Austritt aus der FIFA nachgedacht. Das hatte der dänische Verbandspräsident Jesper Möller am Rande der WM erklärt. Große Sponsoren der Nationalmannschaft haben ihr Engagement beim DFB nach der Debatte um die One-Love-Binde vorzeitig beendet. Begründung: Die skandalöse Haltung der FIFA sei für moderne, vielfältige Unternehmen nicht akzeptabel. Andere Sponsoren haben sich an dem Entschädigungsfonds beteiligt.

Doch das sind wohl nur verzweifelte Versuche, Haltung zu zeigen. Mehr nicht. Denn letztlich ist der Weltverband nur dort zu treffen, wo es seine Mitglieder am stärksten treffen würde: im Geldbeutel. Solange die Sponsorengelder nicht versiegen, wird auch der Ball wie bisher weiterrollen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online exklusiv, 12.12.2022

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Sebastian Holder ist ein Journalist und Autor aus Hamburg. Nach Stationen unter anderem bei Spiegel TV, dpa und Sport 1 lebt er seit 12 Jahren in Berlin. Er schreibt für Magazine, Online-Plattformen und Agenturen über Kultur, Wirtschaft, Sport und Reisen.