01. Mai 2016

Keine Demokratie in Sicht

Arabische Stimmen zur Legitimitätskrise der Staaten im Nahen Osten

Bei einer Umfrage der Carnegie Foundation in nahezu allen arabischen Ländern sprechen sich 80 Prozent der Befragten für die repräsentative Demokratie als Regierungsform aus. Doch fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling ist die große Mehrheit immer noch unzufrieden mit dem Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern.

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Das Spektrum der Herausforderungen, mit denen sich der Nahe Osten derzeit konfrontiert sieht – Terrorismus, Extremismus, Bürgerkriege, ausländische Interventionen, Sekten, Korruption und Autoritarismus – ist erschreckend breit und entmutigend zugleich. Bei so vielen Problemen ist es nicht einfach zu entscheiden, wie diese angegangen werden können und welche Rolle externe Akteure wie die USA oder die EU dabei spielen sollen.

Vor diesem Hintergrund führte das Middle East Program der Carnegie Endowment for International ­Peace eine Meinungsumfrage durch, an der 105 Expertinnen und Experten aus nahezu allen arabischen Staaten teilnahmen. Die Befragten sind renommierte politische Denker aus der Region, darunter Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft, Aktivisten, Industrievertreter, Wissenschaftler, ehemalige Kabinettsmitglieder, Parlamentarier und Regierungsberater. Einige von ihnen traten erstmals während des Arabischen Frühlings in Erscheinung, andere verfügen über jahrzehntelange Erfahrungen.

Die Umfrage hat eher qualitativen als quantitativen Charakter; die Teilnehmer sind nicht willkürlich aus­gewählt und die Ergebnisse nicht unbedingt repräsentativ für das Meinungsbild in der arabischen Öffentlichkeit. Aber als Stimmen, die nachdrücklich Veränderungen und Reformen fordern, liefern die Befragten bemerkenswerte Einblicke in die politischen Dilemmata des Nahen Ostens. Drei Themenfelder ragen dabei hervor: die Legitimität von Regierungen, die Priorisierung lokaler Angelegenheiten und Perspektiven für die Demokratie.

Die Legitimitätskrise überwinden

Fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling hat die Legitimitätskrise, die die Aufstände überhaupt erst ausgelöst hat, weder an Resonanz noch an Dringlichkeit verloren. Die Experten sind weitestgehend geeint in ihrer Unzufriedenheit mit den Antworten, die ihre jeweiligen Regierungen auf die zahlreichen Herausforderungen ihrer Länder anzubieten haben. Die Gründe für ihren Unmut sind vielfältig: Autoritarismus und Militarismus, Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Intervention externer Akteure gehören dazu. Diese Gründe für die vorherrschende Unzufriedenheit sind daraus entstanden, dass es in den meisten Ländern des Nahen Ostens nicht wirklich Gesellschaftsverträge zwischen Staat und Bürgern gibt – dass überhaupt ein allgemeines Verständnis für deren Bedeutung fehlt.

Hoffnungslosigkeit ist das vorherrschende Gefühl in den zusammenbrechenden Staaten in der Region. Dabei beklagen vor allem Experten aus Libyen, Syrien und dem Jemen das Unvermögen, staatliche Aufgaben zu erfüllen, wenn es faktisch keine Regierung mehr gibt.

Probleme vor Ort lösen

Die befragten Experten richten trotz der vielen geopolitischen Herausforderungen ihre Aufmerksamkeit vor allem auf lokale Themen. Arabische wie westliche Medien berichten jedoch meistens über die akuten Krisen des Nahen und Mittleren Ostens, beispielsweise die Militärkampagne gegen den so genannten Islamischen Staat, den Konflikt im Jemen und die Rivalität zwischen dem Iran und ­Saudi-Arabien.

Während es unter den Befragten keinen Konsens darüber gibt, was die eigentlichen Ursachen für die weit verbreiteten Unruhen sind, legen sie alle jedoch ihr Augenmerk auf lokale Probleme wie Autoritarismus, Korruption und fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Fünf Jahre nach Beginn der arabischen Revolutionen ruft dies in Erinnerung, dass die Legitimationskrise, mit der die arabischen Staaten konfrontiert sind, noch immer ein äußerst wichtiges Thema ist.

Ganz allgemein betrachten die Experten Demokratie nicht als Selbstzweck, sondern als ein Instrument, welches das Verantwortungsbewusstsein von Regierungen stärkt und sich gegen Korruption richtet. Obwohl sich die Befragten in der großen Mehrheit für die repräsentative Demokratie aussprechen, unterscheiden sie zwischen echten demokratischen Institutionen und eher oberflächlichem Agieren. Sie äußern erheblichen Unmut über die verpassten Chancen als Folge des Versagens auf Regierungsebene und sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Fehlen von politischem Pluralismus und dem Aufstieg extremistischer Gruppierungen.

Die meisten der Befragten sind sehr unzufrieden mit ihren jeweiligen Regierungen. In der Umfrage gab es drei Fragen zu den Beziehungen zwischen Regierung und Bürgern. Obwohl einige Experten in leitenden Regierungsfunk­tionen tätig waren ­beziehungsweise noch sind, zeigen sich nur vier von 93 Befragten (diese stammen aus Ägypten, Jordanien, dem Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten) mit ihren Regierungen zufrieden. Vor allem ­Befragte aus Libyen, Syrien und dem Jemen sind sehr direkt, wenn sie das generelle Versagen staatlicher Institutionen und die fehlende Legitimität ihrer Regierungen beschreiben. Auf offen gestellte Fragen zu Kriterien, die sie gerne umgesetzt sähen, und zu möglichen Maßnahmen, die der Staat ergreifen müsste, um seine Regierungsfähigkeit zu verbessern, sind die Antworten der Experten eher skeptisch.

Wie bisherige Meinungsumfragen in der arabischen Welt bereits gezeigt haben, unterstützen auch die meisten der hier befragten Experten die Bedeutung der repräsentativen Demokratie als angemessene Regierungsform. Nur sechs von 101 Befragten sind der Ansicht, dass die repräsentative Demokratie nicht für ihr Land geeignet sei.

Arabische Gesellschaften haben viel Erfahrung mit autoritären Regimen, die demokratische Verfahren geschickt nutzen, um sich einen Anstrich von Legitimität zu geben. Nur wenige Experten idealisieren die Demokratie; die Mehrheit betont, dass demokratische Regierungsführung kein Selbstzweck sei, sondern vielmehr ein Mechanismus, um Verantwortungsbewusstsein zu stärken und der Korruption entgegenzuwirken.

Einige Experten äußern Besorgnis über die Gefahren, die von illiberalen Scheindemokratien ausgehen, sowie über die Herausforderungen, politische und ethnische Minderheiten zu schützen. Ein weiteres Problem sei die Tendenz autoritärer Regime, Wahlen zu manipulieren.

Obwohl die Befragten in vielen Bereichen unterschiedliche Ansichten haben, zeigt sich doch eine große Übereinstimmung darin, politische Herausforderungen vor Ort für wichtiger zu halten als regionale beziehungsweise geopolitische Themen. Die Expertinnen und Experten waren dazu angehalten, die dringlichsten Probleme, mit denen die arabischen Gesellschaften heute konfrontiert sind, zu reflektieren – zunächst in eigenen Worten, dann durch ein Ranking von zehn Problemen. Als Antwort auf die offen gestellte Frage nennen die Experten politische und wirtschaftliche Herausforderungen etwa doppelt so oft wie Kategorien in Bezug auf Ideologien und die Sicherheitslage. Regionale Angelegenheiten sind für sie hingegen weniger wichtig. Beim Ranking werden Autoritarismus und Korruption am häufigsten genannt.

Staat und Religion trennen

Befragte, die dem Liberalismus offener gegenüberstehen als weite Teile der arabischen Bevölkerungen, tendieren zu einer Trennung von religiösen und staatlichen Institutionen. Knapp mehr als die Hälfte von ihnen lehnt eine Regierungsfunktion für religiöse Würdenträger ab, während ein Viertel sich für eine beschränkte und ausschließlich beratende Funktion ausspricht. Einer von zehn Experten befürwortet eine begrenzte staatliche Funktion religiöser Autoritäten, beispielsweise in Bezug auf Gesetzesvorschläge, religiöse Ausbildung oder Familienhilfe. Keiner der Befragten spricht sich für eine direkte politische Funktion von religiösen Amtsinhabern aus.

Religion spielt eine zentrale Rolle in den Antworten dieser Studie. So stellt ungefähr die Hälfte der Experten, als sie nach den drei größten Herausforderungen im Nahen Osten gefragt wurden, einen direkten oder indirekten Bezug zur Religion her. Auch wenn in dieser Studie religiöse Faktoren eine wesentlich geringere Rolle spielen als politische Herausforderungen und autoritäre Regierungssysteme, äußern die Befragten den Wunsch, dass religiöse Institutionen sich mehr für religiöse Toleranz und Pluralismus einsetzen sollten; auch die Notwendigkeit der Reform von religiösen Institutionen wird immer wieder hervorgehoben.

Bildungschancen verbessern

Die Arab Human Development Reports dokumentieren seit 2002 jährlich die Entwicklungen in Bildung und Wissenschaft in der arabischen Welt. Im Rahmen der hier beschriebenen Umfrage berichten manche Experten von Fehlern im Bildungssystem ihrer Länder. Dabei werden vor allem ungenügende Finanzierung, nicht geeignete Lehrpläne sowie mangelnde Vorbereitung der Studierenden auf die moderne Arbeitswelt als Probleme genannt.

Für die meisten arabischen Experten sind Bildung und Wissenschaft ­direkt mit den staatlichen Herausforderungen ihrer Länder verknüpft. Viele gehen in ihren Ausführungen sogar so weit zu behaupten, dass die Bildungssysteme ihrer Länder bewusst darauf ausgerichtet seien, kritisches Denken zu unterbinden und damit Unwissenheit zu verfestigen. Außerdem sei fehlende Bildung eine wesentliche Ursache für Radikalisierungstendenzen.

Die Wirtschaft entwickeln

Auch bei Wirtschaftsthemen beziehen sich die Experten hauptsächlich auf Regierungsverantwortung und Transparenz. Die Sichtweisen auf die wirtschaftliche Lage sind unterschiedlich, wobei sich eine Mehrheit der Befragten für eine Mischform der Wirtschaft ausspricht: Die Regierung soll eine dominante Rolle spielen und dabei entweder die freie Marktwirtschaft oder die Wohlfahrtsökonomie fördern.

Auch wenn die meisten der Befragten nicht über besondere Expertise in Wirtschaftsfragen verfügen, lässt sich doch ein beachtlicher Konsens der Meinungen über Wirtschaft und Politik feststellen.

Bei der Frage, wie die Regierungen die wirtschaftlichen Aussichten für ihre Bürger verbessern könnten, findet man in den Antworten der meisten Befragten keine konkreten Vorschläge für regulative Maßnahmen seitens des Staates, sondern viel grundsätzlichere Vorschläge. Diese betreffen die Bekämpfung von Korruption, die Eindämmung von Vetternwirtschaft sowie mehr Maßnahmen für Transparenz. Zumindest für diese Experten scheinen die Unterschiede in den verschiedenen Volkswirtschaften nicht vorrangig vom eigentlichen wirtschaftlichen System abzuhängen, sondern vielmehr von der Kompatibilität dieses Systems mit allgemein gültigen Normen zur Transparenz und zum internationalen Recht.

Die Experten wurden aufgefordert, die drei arabischen Staaten zu nennen, die ihrer Meinung nach die beste Regierungsleistung für ihr Volk bieten. Fast zwei Drittel der Befragten nennen hier Tunesien. In ihrer Wahrnehmung stellt dieses Land fünf Jahre nach der Revolution, trotz aller anhaltenden Herausforderungen, die politisch integrativste Gesellschaft in der arabischen Welt.

Marokko, das nach und nach politische Reformen umgesetzt hat, sowie die Vereinigten Arabischen Emirate, denen es nach wie vor an politischer Pluralität fehlt, genießen den Ruf moderner und globaler Wirtschaftszentren. Nicht genannt werden in diesem Zusammenhang Ägypten und Saudi-Arabien, trotz ihrer traditionellen Führungsrolle im Nahen und Mittleren Osten. Aufgrund ihrer repressiven politischen Systeme haben sie offensichtlich nur ein geringes Ansehen. Fast ein Fünftel der Experten geht davon aus, dass es überhaupt keine erfolgreichen arabischen Staaten gibt.

Die Rolle der USA

Die Teilnehmer der Meinungsumfrage sollten auch beschreiben, welche Rolle ihrer Meinung nach die USA in der Region spielen sollen. Viele der Antworten widersprechen einander und geben ein breites Meinungsspek­trum wieder. Viele Befragte zeigen sich äußerst kritisch angesichts der amerikanischen Politik im Nahen und Mittleren Osten. Zusammengenommen können die Antworten in vier Kategorien unterteilt werden:

1. Vier von zehn Experten entwerfen ein Szenario, in dem die USA eine konstruktive Rolle in ihrem Land spielen würden. Besonders wünschen sich viele Unterstützung bei institutionellen Reformen, Vermittlung von technischem Know-how sowie Hilfe in Bildungsbelangen.

2. Zwei von zehn Befragten fordern eine Beendigung amerikanischer Einmischung und verlangen, dass die USA militärische Aktivitäten in der Region eindämmen oder ganz unterlassen.

3. Ein Sechstel der Befragten fordert, dass die amerikanische Regierung mehr Druck auf arabische Staaten ausüben solle. Aus dieser Gruppe verlangen sogar vier Experten eine direkte militärische Intervention zur Absetzung des syrischen Präsidenten, Baschar al-Assad.

4. Zwei von zehn Befragten beziehen sich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und fordern die USA auf, mehr Druck auf Israel auszuüben beziehungsweise die Palästinenser und ihren Weg zu einem eigenen Staat zu unterstützen.

Wenn man diese Antworten mit den relativ seltenen Bezugnahmen auf den arabisch-israelischen Konflikt an anderen Stellen dieser Studie in Zusammenhang setzt, kann man daraus schlussfolgern, dass dieser Konflikt ein zentrales Thema bleibt, wenn es um die Bewertung der amerikanischen Politik im Nahen Osten geht. Aber allgemein betrachtet zählt der „Nahost-Konflikt“ für die meisten Experten nicht mehr zu den Hauptproblemen der Region.

Fazit

Die Ergebnisse dieser Studie bieten einen außergewöhnlich interessanten Einblick in die Ansichten zahlreicher führender arabischer Wissenschaftler und Experten. In Anbetracht der enormen Probleme, die in der Region zu bewältigen sind, ist es kaum verwunderlich, dass die Befragten keinen Konsens über die Haupt­ursachen für die Umbrüche in der Region anbieten können.

Dennoch ist der gewählte Schwerpunkt auf autoritäre Systeme, Regierungsverantwortung und Transparenz, selbst angesichts akuter terroristischer Bedrohungen und aufkeimender regionaler Konflikte, ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Legitimitätskrise, mit der sich die arabische Welt konfrontiert sieht, eines der relevantesten Probleme ist. Mehr als fünf Jahre, nachdem der Funke der Revolution in einem kleinen Dorf in Tunesien entfacht wurde, ist die dramatische und turbulente Geschichte des arabischen Umbruchs noch lange nicht zu Ende.

Perry Cammack arbeitet im Nahost-­Programm des Carnegie Endowment for International Peace.

Marwan Muasher ist stellvertretender Forschungsdirektor beim Carnegie Endowment for International Peace.

Bibliografische Angaben

Cammack, Perry, and Marwan Muasher. “Keine Demokratie in Sicht.” May 2016.

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 46-51