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01. Mai 2015

„Wir wollen die Wahrheit nicht wissen“

Warum Putins Propaganda in Deutschland offene Türen einrennt

Wer ist Täter, wer ist Opfer in der Ukraine? Deutschlands Öffentlichkeit ist verwirrt, seine Medien üben sich zum Teil in ängstlicher Äquidistanz. Haben wir Wladimir Putins Propagandakrieg überhaupt noch etwas entgegenzusetzen? Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und Roderich Kiesewetter (CDU) suchen gemeinsam nach Strategien.

Internationale Politik: Frau Beck, Herr Kiesewetter, das Phänomen, dass Kriege mit Propaganda begleitet werden, ist kein ganz neues. Und doch scheint es so, als seien wir durch den russischen Propagandakrieg in der Ukraine auf dem falschen Fuß erwischt worden. Woran liegt das?
Roderich Kiesewetter: Zum guten Teil an unserer begrenzten Aufnahmefähigkeit. Wir sind offenbar nicht in der Lage, drei, vier, fünf Krisen gleichzeitig mit der nötigen Aufmerksamkeit zu verfolgen. Und wenn dann in einer Krise die gegnerische Seite ihre Sicht der Dinge konsequent und ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkeiten durchsetzen will, haben wir Schwierigkeiten, dem etwas entgegenzusetzen. Hinzu kommt eine verbreitete Unlust, sich über einen längeren Zeitraum mit etwas komplexen Sachverhalten zu beschäftigen. Das spielt einem Sender wie Russia Today in die Karten, der ein Unterhaltungspaket mit Informationshäppchen liefert – auch wenn der sich natürlich im Wesentlichen an die Hunderttausenden von Immigranten aus Russland wendet.

IP: Auffällig an Wladimir Putins Strategie scheint ein neuer Umgang mit Lüge und Wahrheit. Sein Ziel ist es gar nicht so sehr, eine bestimmte Lesart durchzusetzen, sondern eher, viele unterschiedliche „Wahrheiten“ zu verbreiten und Verwirrung zu stiften. Nun ist ja die Skepsis eines der Urelemente der demokratischen Kultur. Trifft Putin mit seinem „Anything Goes“ den Westen an einem wunden Punkt?
Kiesewetter: Allein dass man unterschiedliche „Wahrheiten“ als „Wahrheiten“ bezeichnet, ist ja schon abstrus. Wenn Putin ganz lässig behauptet, dass die russischen Soldaten in der Ukraine „auf Urlaub“ seien, dann ist das natürlich zynisch. Aber dieser postmoderne Zynismus kommt bei einem jüngeren Publikum gut an – und das ist in der Tat neu.
Marieluise Beck: Dass diese Propaganda bei uns so offene Türen einrennt, scheint mir nicht so sehr ihrer Brillanz geschuldet zu sein – der entscheidende Faktor sind wir selbst.

IP: Was macht uns so anfällig?
Beck: Das hat mit der eigenen politischen Verfasstheit weiter Teile unserer Bevölkerung zu tun und natürlich mit der eigenen Geschichte. Da ist vor allem das berechtigte Gefühl einer historischen Schuld gegenüber der Sowjetunion, die aber wahrgenommen wird als Schuld gegenüber Russland. Anlässlich der Gedenkstunde zur Befreiung von Auschwitz hieß es im Deutschen Bundestag, das Lager sei u.a. „von russischen Soldaten“ befreit worden. Es hieß nicht: „von sowjetischen“. Das ist aber ein wichtiger Unterschied. Zur Sowjetunion gehörte damals die Ukraine, und ein wesentlicher Teil der deutschen Kriegsverbrechen hat sich auf ukrainischem, belarussischem und baltischem Boden abgespielt. Außerdem wissen wir viel zu wenig über das Zusammenspiel der Verbrechen Stalins mit denen Hitlers. Wofür der 1. September 1939 steht, das wissen im Zweifel noch vergleichsweise viele Gymnasiasten, aber wer könnte etwas mit dem 17. September verbinden, dem Einfall der Sowjetunion in Polen? Ich würde auch gerne mal eine Umfrage machen, wie viele der Journalisten, die heute über die Ukraine berichten, etwas mit dem Begriff Holodomor (die von Stalin 1932–1933 vorsätzlich verursachte Hungersnot in der Ukraine, der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen, Anm. d. Red.) anfangen können. Ich kenne kaum welche.

IP: Warum sprechen wir darüber nicht?
Beck: Weil das den Verdacht aufkommen lassen könnte, dass wir die eigenen Verbrechen relativieren wollten. Daher findet eine Debatte darüber, ob die Ukraine sich nicht zu Recht wehrt, weil sie schlechte Erfahrungen mit totalitären Systemen – auch mit Russland – gemacht hat, bei uns nicht statt. Hinzu kommt, dass bei uns der politische Blick bei Teilen der Bevölkerung durch einen heftigen Antiamerikanismus überlagert wird. Wenn es heißt, dass der Maidan von den USA finanziert worden sei, dass John McCain sich dort rumtreibe, dass überhaupt schon wieder Republikaner dort am Werke seien – dann schweißt das hier alle zusammen, die sagen, da wollen wir uns mal bestenfalls raushalten. Da werden schon beide, Russen und Amerikaner, ihre Finger drin haben.

IP: Die berühmte Äquidistanz …
Beck: Genau, der Unwille, anzuerkennen, dass es sich hier um eine russische Aggression handelt und dass man eine gewisse Empathie für die Angegriffenen haben muss. Das geht bis hinein in die höchsten Ebenen der Politik. Wenn ich ständig von „Konfliktparteien“ spreche, dann gibt es gar keinen Angreifer und keinen Angegriffenen mehr. Dann sind irgendwie beide gleichermaßen Schuld. Dann reiße ich die Kinderzimmertür auf und rufe: „Kinder, hört auf euch zu prügeln und vertragt euch!“ Und das führt dann auch dazu, dass man überhaupt nicht begreift, warum die Ukraine in die EU will. „Die können doch in der Mitte zwischen Deutschland und Russland gut leben“, heißt es dann, „die sollen sich gefälligst mit beiden Seiten arrangieren, denn mit den USA ist es ja schließlich auch keine reine Freude.“
Kiesewetter: Diese Äquidistanz ist aber nicht nur Resultat der russischen Propaganda. Die geht vor allem auf die Politik der Amerikaner unter George W. Bush zurück, als man die Europäer in das „alte“ und „neue“ Europa spalten wollte und als man nachweislich den UN-Sicherheitsrat belog. Das wirkt immer noch in unserer Bevölkerung nach. Erschwerend hinzu kommen heute Themen wie der so genannte NSA-Skandal, den wir nie, nennen wir es mal: „deeskalierend“ aufgearbeitet haben, oder die TTIP-Verhandlungen, wo man durch Offenheit viele Aufgeregtheiten in der Debatte hätte vermeiden können. All das hat in der Bevölkerung so ein diffuses Gefühl hinterlassen …

IP: … und das macht es Putin relativ leicht.
Kiesewetter: Aber wir sind ja auch selbst viel zu passiv. Nehmen wir die Annexion der Krim. Wer weiß denn schon, dass in der 200-Meilen-Zone vor der Krim genau so viel Erdölvorkommen lagern wie in den siebziger Jahren in der Nordsee und dass das mindestens eines der Motive für die russische Annexion war?
Beck: Wie hieß es früher so schön: „Kein Blut für Öl“?
Kiesewetter: Jedenfalls habe ich dazu bestenfalls zwei, drei Zeitungsmeldungen gelesen. Die Ukraine hatte vor, bis 2025 energieautark von Russland zu sein, aber da hatte eben jemand etwas dagegen.
Beck: Für mich ist dieser Unwille, die Wahrheit zu sehen, nichts Neues. Wir hatten vor 20 Jahren in Bosnien die gleiche Situation, zumindest bis zum Massaker von Srebrenica. Da hat die NATO gelogen, dass sich die Balken biegen. Drei Jahre lang tat man so, als könnte man nicht wissen, dass es sich um eine Aggression von außen handelte. Die serbische Aggression gegen Bosnien wurde durch die Bank als Bürgerkrieg bezeichnet. Und alles, weil man sonst schon früher hätte intervenieren müssen. Man will die Wahrheit nicht wissen, und nur deswegen ist diese Propaganda so erfolgreich. Stellen Sie sich nur vor, es hätte hier und in den Niederlanden einen Untersuchungsausschuss, eine wirkliche Debatte zum Abschuss der Passagiermaschine MH-17 gegeben. Jeden Tag hätte sich die Politik fragen lassen müssen: „Was ist da eigentlich mit der MH-17 gewesen? 300 unserer Zivilisten werden vom Himmel geholt und alle Indizien deuten nach Moskau.“ Und damit meine ich nicht, dass wir Gegenpropaganda machen sollen, ich sage nur: Wir müssen die politischen Fragen auf den Tisch legen.

IP: Nun ist ja im Falle von MH-17 zum Teil durchaus gründlich recherchiert worden, etwa vom Journalistenbüro „correctiv“ …
Beck: Das zeigt doch nur, dass die analytische Kraft durchaus da ist – dass aber der politische Wille fehlt, daraus Schlüsse zu ziehen. Da machen sich zwei erfahrene, investigative Journalisten auf, fragen die Bürger vor Ort – und es stellt sich heraus, dass der Abschuss des Flugzeugs vom Ort Chervonyi Zhovten aus erfolgt ist, also nicht von ukrainischem, sondern von Separatistengebiet. Anhand von Fotos lässt sich belegen, dass die Abschussrampe nach dem Abschuss zurück über die russische Grenze gebracht wurde, an ihren Ursprungsort, nämlich Kursk, auf russischem Gebiet. Das alles wird in einem großen deutschen Nachrichtenmagazin veröffentlicht, und es passiert: nichts.

IP: Gilt das denn auch für die Stimmung in der Öffentlichkeit? Wenn wir nochmal die Bilder von der Absturzstelle des Flugzeugs nehmen: Da sah die deutsche Bevölkerung zum ersten Mal keine wackeren Unabhängigkeitskämpfer, sondern Banditen, die Absturzopfern die Eheringe von den Fingern ziehen. Ab diesem Moment ließe sich schon von einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung sprechen. Und sei es nur, dass man sich zurückzieht und sagt: „Mir ist das zu kompliziert, ich begreife das alles nicht mehr.“
Kiesewetter: Ich würde da auch eher ein Abwenden sehen, weil die Dinge zu kompliziert scheinen, als ein Abwenden von Russland, weil es der Aggressor ist. Man neigt bei uns immer noch dazu, und das gilt für die Politik wie die Wirtschaft, Putins Vorgehen als bloß taktisch motiviert zu sehen, ohne dass da eine Strategie hintersteckte. Das entspringt aber eher einer gewissen Hilflosigkeit und dem Wunsch, nichts tun müssen. Neulich habe ich da mal bei einer prominent besetzten Veranstaltung nachgefragt: „Was ist denn, wenn Sie sich irren und Putin eben nicht bloß taktisch vorgeht, sondern eine Strategie verfolgt?“ Da war dann die Ratlosigkeit groß und es kam nicht mehr als ein: „Ja, dann haben wir dem nichts entgegenzusetzen.“

IP: Mit anderen Worten: Wir müssen in diesem Propagandakrieg nicht unbedingt beim Gegner ansetzen, sondern bei uns. Wo in erster Linie?
Beck: Die Printmedien halten sich wacker. Die haben zwar auch Schwierigkeiten mit Trollen, mit organisierten Mailkampagnen, mit Shitstorms, aber die lassen sich nicht kirre machen. Ein Riesenproblem sind unsere öffentlich-rechtlichen Medien. Wenn der Vorsitzende des Programmbeirats des Ersten Deutschen Fernsehens, Paul Siebertz, öffentlich sagt: „Die Krim, das muss ich Ihnen nicht sagen, dass die sowieso nie zur Ukraine gehört hat und erst 1954 der Ukraine zugeschlagen wurde“, und wenn ebendieser Programmbeirat geschlossen die Berichterstattung seiner Journalisten als „zu Russland-kritisch“ brandmarkt, dann sitzt das Problem im eigenen Haus. Wenn selbst bei den Öffentlich-Rechtlichen die Angst bei den Journalisten so tief sitzt, dass sie sich selbst zensieren, wenn eine mutige Journalistin wie Golineh Atai, die vor Ort recherchiert und dort auf tschetschenische Soldaten stößt, ihr das aber in der deutschen Sendeanstalt nicht geglaubt wird, dann können wir das alles nicht ernsthaft der russischen Propaganda anlasten – das hat etwas mit uns selbst zu tun.
Kiesewetter: Das hat sicherlich mit uns zu tun, aber da kommt auch noch etwas anderes dazu. Marieluise Beck hat ja mit Recht festgestellt, dass die russische Propaganda alles andere als brillant ist – im Gegenteil, sie ist vergleichsweise simpel strukturiert und ziemlich leicht zu durchschauen. Aber sie ist äußerst robust, weil sie auf ein breites Netzwerk in Deutschland zurückgreifen kann. Und sie ist sehr, nennen wir es mal: nachhaltig. Das heißt, sie wird auf Gedeih und Verderb verfolgt. Wir dagegen haben gar keine Gegenstrategie. Und wenn Sie eine schlechte Strategie haben gegenüber keiner, dann ist die schlechte im Vorteil. Was wir haben, sind Journalisten, die versuchen, ihre Äquidistanz als kritischen Journalismus zu verkaufen. Unsere Meinungsführer im öffentlich-rechtlichen Fernsehen beziehen keine Position. Natürlich gibt es noch Qualitätssender wie den Deutschlandfunk, aber deren Zuhörerschaft ist dann doch überschaubar.
Beck: Im Unterschied zu den Talkshows. Die erreichen viele Millionen Menschen. Und die sind outgesourced. Sie funktionieren nach Einschaltquoten, nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien …
Kiesewetter: Immer nach demselben Muster, mit immer denselben Personen …
Beck: Wir bezahlen mit unseren Rundfunkbeiträgen das Privatunternehmen Günther Jauch, der als Moderator für Osteuropa-Fragen, freundlich gesagt, wenig beschlagen ist. Aber dessen Leute stellen die Sendung nach Quotenkriterien zusammen. Da gibt es dann bestimmte Personen, die Quote garantieren. Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat mal eine Studie gemacht, wer denn in diese Talkshows eingeladen wird. Und das sind eben mehrheitlich die so genannten Russland-Versteher – die natürlich in Wahrheit sehr weit davon entfernt sind, das Land zu verstehen. Die haben ein respektables Alter erreicht, sind aber leider seit 20 Jahren nicht mehr in der Lage, zu reisen und die Veränderungen in Russland nachzuvollziehen. Ein Timothy Snyder dagegen wird nicht eingeladen, der uns Deutschen mal erzählen könnte, dass wir eine gewisse Verantwortung gegenüber Ländern wie der Ukraine haben und dass es schlichtweg unappetitlich ist, wenn Herr Gysi direkt von Berlin nach Moskau fliegt, um über die Ukraine zu verhandeln.
Kiesewetter: Das ist auch aus meiner Sicht der springende Punkt: Was ist unsere Aufgabe als Deutsche? Bestimmt nicht, uns mit berechtigter Kritik an Russland zurückzuhalten. Im Gegenteil: Wir müssen ja ausgleichen, was sich die kleineren EU-Staaten in der „Zwischenzone“ gar nicht leisten können. Deutschland muss sich als Anwalt dieser Länder verstehen. Und wir müssen unsere politischen und kulturellen Möglichkeiten ausschöpfen. Wenn wir ein Gegen-Narrativ schaffen wollen, dann klappt das nur, wenn es uns gelingt, dass Menschen aus Russland hierher reisen. Unsere Innenpolitiker gleich welcher Couleur sehen – ausgenommen die der Linkspartei – potenzielle Einreisewillige oft als potenzielle Kriminelle. Unsere Stärke muss es doch sein zu zeigen, was für ein stabiles und vielleicht auch attraktives Sozial-, Wirtschafts- und Kultursystem wir haben, und das können wir nur, indem wir Reisen ermöglichen. Etwa durch gezielte Visaerleichterungen …
Beck: Das machen wir dann zusammen!
Kiesewetter: Da liegen wir nur leider völlig quer mit unseren Innenpolitikern. Wir in unserer Partei noch mehr als Frau Beck in ihrer. Aber der Punkt ist ja: Wir brauchen ein europäisches Gegen-Narrativ. Und zwar ein vernünftiges. Nicht eins, das abgrenzt und polarisiert, sondern eins, das unsere Stärken zeigt.

IP: Sind denn dieses Vertrauen in Europas Stärken und die Anziehungskraft der Demokratie nicht etwas verlorengegangen? Nicht nur in Deutschland, auch europaweit?
Beck: Die Begeisterung für das europäische Projekt ist in der Tat zurückgegangen. Das gilt auch für die Demokratie als politische Ordnung, wie man an der Stärke von Le Pen in Frankreich sieht. Cameron zittert zurzeit vor UKIP. Ungarn wird geführt von jemandem, der sich die illiberale Demokratie Putins wünscht. Was aus der Pegida in Deutschland wird, wissen wir nicht …
Kiesewetter: In Deutschland sind wir noch ausgesprochen proeuropäisch, weil es uns wirtschaftlich gut geht. Doch wenn wir wieder Zustände wie 2008 und 2009 bekommen, kann das schnell anders aussehen. Es bleibt die Aufgabe unserer Politik, unserer Bevölkerung die Vorteile europäischer Integration deutlich zu machen, Geld in Bildung zu investieren und die Jugendarbeitslosigkeit in anderen Teilen Europas zu bekämpfen. Deutschland muss zusammen mit Frankreich und Polen den europäischen Kernbereich, die EU der 28, ausbalancieren und stabilisieren. Wenn uns das nicht gelingt, dann hat Putin mit etwas ganz anderem Erfolg. Dann wird die EU gespalten und ist auf Jahre nur mit sich selbst beschäftigt.

Das Gespräch moderierten Joachim Staron und Sylke Tempel
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 40-45

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