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01. Nov. 2014

Wer gehört zur „russischen Welt“?

Putin zählt auf professionelle Russen. Wichtiger wären Russian professionals

Es gibt zwei Gruppen von Russen im Ausland: Die einen sind enorm erfolgreich, geben aber nicht viel auf ihre „Russischkeit“. Die anderen gerieren sich als Berufsrussen, fordern Moskaus Unterstützung, haben aber kaum Qualifikationen zu bieten. Mit seiner Doktrin der „russischen Welt“ setzt Wladimir Putin auf die Berufsrussen. Das ist fatal.

Für Staatspräsident Wladimir Putin sind „alle Russen nicht nur durch ihre Kultur, sondern auch durch genetische Abstammung miteinander verbunden“. Für Kirill I., Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, gehören all diejenigen zur „russischen Welt“, die die „russische spirituelle und kulturelle Tradition als Grund­lage oder zumindest als einen wesentlichen Teil ihrer nationalen Identität empfinden“. Inzwischen berufen sich viele russische Politiker und Persönlich­keiten des öffentlichen Lebens auf eine solche Doktrin, um die besondere Rolle Russlands im postsowjetischen Raum und darüber hinaus zu betonen.

Doch eine solche Definition von Identität ist ebenso provokant wie gefährlich. Sie nimmt Anleihen an die Ideologie des Panslawismus, mit dem Russland im 19. Jahrhundert wiederholt die Einmischung in die Angelegenheiten der Länder Südosteuropas rechtfertigte. Nur ist diese Definition einer „russischen Welt“ heute spätestens mit der EU-Erweiterung und der ukrainischen Zurückweisung russischer Integrationsexperimente überholt. Was bleibt, ist die Berufung auf eine „russische Abstammung“, die als letztes Argument herangezogen wird, um den Einfluss Moskaus in den einstmals sowjetischen Regionen zu gewährleisten.

Unrealistisch und gefährlich

Die zur Doktrin erhobene Idee der „russischen Welt“ ist theoretisch nicht haltbar, unrealistisch und politisch gefährlich. De facto wird mit einer solchen Doktrin die Rückkehr in einen Zustand vor dem westfälischen Konzept der Souveränität und der Entstehung der Nationalstaaten gefordert. Die Beziehungen zwischen den Staaten sind nunmehr fest im Prinzip der Staatsbürgerschaft und damit auch in dem Grundsatz verankert, dass es dem Staat zufällt, die Rechte und Interessen seiner Bürger zu schützen und das eigene Territorium innerhalb der international anerkannten Grenzen zu verteidigen. Der Ansatz, den Moskau gerade wählt, geht jedoch von besonderen Rechten für russische Minderheiten in anderen Ländern aus; fordert konsequenterweise enorme Änderungen in deren politischen Systemen (zum Beispiel durch eine „Föderalisierung“, die Moskau von der Ukraine verlangt); besteht auf Freiheiten für die russisch-orthodoxe Kirche, die aber als Ideologie-Abteilung des Kremls auftritt und insistiert auf besondere Rechte nicht nur für ethnische Russen, sondern für alle, die sich, zum Beispiel als Russischsprachige, als Teil dieser so weit gefassten Idee der „russischen Kultur“ sehen.

Wer ist Russe?

Man könnte die russische Haltung ja vielleicht nachvollziehen: Immerhin sahen sich 4,5 Millionen ethnische Russen gezwungen, nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums vor einem Vierteljahrhundert in die neu gegründete Russische Föderation umzusiedeln. Dies war bei weitem die größte postkoloniale Migration der Weltgeschichte. 8,5 Millionen Russen leben heute in neuen Staaten, die auf ehemals sowjetischem Territorium entstanden sind. Für weitere 19 Millionen Menschen ist Russisch Muttersprache. Und dennoch bleibt diese Neuauflage einer „Russkij-mir“-Doktrin gefährlich, denn sie könnte eine Kettenreaktion auslösen und internationale Konflikte heraufbeschwören.

Wenn Moskau die Interessen der russischen Muttersprachler in Moldawien bis hin zur Bildung eines Quasistaats „schützen“ darf, was spräche dann gegen eine Intervention Frankreichs in den ehemaligen frankophonen Kolonien Kamerun oder Senegal? Wenn Moskau in seinen Nachbarländern Pässe an russischsprachige Bürger verteilt, warum kann China nicht das Gleiche mit seiner Diaspora in Übersee tun, die bei weitem größte im Ausland lebende Minderheit? Kurzum, die Logik der „russkij mir“ widerspricht in jeder Hinsicht dem derzeitigen internationalen System. Will Moskau daran festhalten, muss der Rest der Welt in Alarmbereitschaft sein.

Dabei ist Putins „russkij mir“ extrem heterogen. Rund elf Millionen Menschen, die die Sowjetunion oder Russland freiwillig verlassen haben, leben nun außerhalb der Russischen Föderation – und die Zahl wächst stetig. Verließen zwischen 2008 und 2011 im Durchschnitt 35 500 Auswanderer jährlich das Land, so lag die Zahl 2012 und 2013 bei 309 100. Darüber hinaus gibt es mehr als acht Millionen ethnische Russen weltweit, die nie in Russland gelebt haben.

Weitere 13,5 Millionen Menschen bilden die „Gemeinschaft der Russischsprachigen“, einschließlich der ehemaligen sowjetischen Bürger, die keine ethnischen Russen sind, aber sich als zugehörig zur russischen Kultur empfinden. Und schließlich müssten noch sechs bis elf Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion hinzugezählt werden, die sich zwar als russisch bezeichnen, aber aus unterschiedlichen Gründen nie in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Es gibt also keine homogene russische Welt. Vielmehr lässt sie sich grob in zwei Gruppen unterteilen.

Freiwillig emigriert

Beginnen wir mit der Gruppe jener, die im weitesten Sinne den Entschluss gefasst haben, Russland zu verlassen. Es mag zynisch klingen, aber dazu ließen sich auch die Flüchtlinge des Bürgerkriegs nach den Revolutionen von 1917 zählen, jüdische Sowjetbürger, die in den siebziger Jahren flohen und viele Deutschstämmige, die seit 1987 emigrierten. Zu dieser Gruppe gehören aber auch jene, die in den neunziger Jahren auswanderten, sowie die jungen und erfolgreichen Fachkräfte, die das Land heute in großer Zahl verlassen. Ihnen ging und geht es nicht darum, russische Kultur in die Welt zu tragen oder etwa die Einflusssphäre Russlands zu vergrößern. Sie wollen ein besseres Leben für sich selbst. Notwendige Voraussetzungen dafür sind gute Bildung, Eigeninitiative und vor allem die Bereitschaft, sich in die Gesellschaften ihrer neuen Heimatländer zu integrieren.

Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die meisten Auswanderer in all diesen Punkten erfolgreich waren. Das berühmte Brighton Beach in New York City, das entstanden ist, weil es bereits andere ethnisch geprägte Stadtviertel gab und weil schlicht Sozialbauten für die Einwanderer aus der Sowjetunion fehlten, ist eine Ausnahme. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine russische Version der in vielen amerikanischen Städten bis heute existierenden „Chinatowns“.

Russische Migranten verfügen häufig über ein höheres Bildungs­niveau, sie zeigen mehr Eigeninitia­tive und wählen nach ihrer Einbürgerung eher konservative Parteien, die dafür stehen, staatliche Hilfen zu reduzieren und lieber wirtschaftliche Freiheit zu fördern. In den USA verfügen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Schnitt über 14,1 Jahre Ausbildungszeit; der amerikanische Durchschnitt liegt bei 12,2 Jahren. Auch ihr Einkommen liegt 39 Prozent über dem Durchschnitt.

Das weist schon darauf hin: Zuwanderer aus den postsowjetischen Staaten integrieren sich schneller und besser, weil sie die jeweilige Landessprache schnell lernen und meist nicht innerhalb ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe Partnerschaften eingehen (dies gilt nur für 25 bis 30 Prozent der russischen Migranten).

Mehr Nobelpreise als Russland

All dies hat dazu geführt, dass sich in westlichen, aber vermehrt auch in östlichen Ländern wie China, Kambodscha und den Vereinigten Arabischen Emiraten zahlreiche hochqua­lifizierte russische Migranten ansiedeln. Sie pflegen ihre kulturellen Traditionen und erzielen mit ihrer Arbeit beeindruckende Erfolge. In Wien, Prag, Berlin, London, Paris und New York haben sie einen Anteil von 2 bis 8 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
Über zehntausend Wissenschaftler und Professoren arbeiten an Univer­sitäten und Forschungszentren in den USA und Europa: darunter die Nobelpreisträger Andre Geim, Konstantin Novoselov und Alexei Abrikossow, die renommierten Wissenschaftler Wladimir Wapnik und Maxim Konzewitsch, Eugene Koonin und Andrei Linde, um nur die bekanntesten zu nennen. Ein Witz, den fast alle Russen kennen, drückt dieses Erfolgsbewusstsein russischer Migranten auch aus: „Was ist eine amerikanische Universität? Ein Ort, an dem russische Professoren chinesische Studenten unterrichten.“

Dutzende hervorragende Künstler waren und sind in den USA und Europa tätig: Dazu gehören Musiker und Sänger wie Msitslaw Rostropowitsch und Galina Wischnewskaja, Waleri Gergijew und Denis Mazujew, Mikhail Baryschnikow und Anna Netrebko; Schriftsteller wie Edouard Limonov; die Maler Ilja Kabakow und Dmitri Wrubel; die Sportler Alexander Owetschkin und Pavel Bure sowie der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow.

Doch so stark die Verbundenheit dieser Menschen mit einer russischen „Kultur-DNA“ auch zu sein scheint: Das, was die meisten von ihnen antreibt, ihre Aspirationen, ihre Adap­tion an neue Umgebungen und der Hang, weniger auf eine „russische Seele“ zu rekurrieren als vielmehr rationale Entscheidungen für ihr eigenes Leben zu treffen, macht sie zu echten Kindern der europäischen Moderne. Ihre Identität basiert eher auf ihrem beruflichen Erfolg, der ihnen zu Wohlstand verholfen hat, als auf ihrer Nationalität. Dementsprechend stellen sie auch keine Forderungen an den russischen Staat. Das ist der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg solch hoch qualifizierter russischer Auswanderer wie des Google-Mitbegründers Sergei Brin, des Malers Igor Oleinikov oder des Unternehmers Valentin Gaponzew.

Spräche man von diesen Russian professionals in den USA und Europa als einer Gemeinschaft, dann läge in deren Händen ein Vermögen von schätzungsweise über einer Billion Dollar. Es wäre keineswegs eine Übertreibung zu behaupten, dass diese „community“ wirtschaftliche, intellektuelle oder künstlerische Leistungen erbringt, die sich durchaus mit jenen der Russischen Föderation messen lassen können. Das, was in dieser Gemeinschaft an Technologie und Waren produziert wird, liegt über der Wirtschaftsleistung Russlands. Auch der Anteil an Nobelpreis­trägern und renommierten Wissenschaftlern ist unter russischen Migranten im Ausland höher als in Russland selbst.

Unfreiwillig geblieben

Die zweite Gruppe der „russischen Welt“ stellen jene, die gegen ihren Willen außerhalb Russlands leben. Dieser weitaus kleinere Anteil ist vor allem nach dem Zerfall der UdSSR aus unterschiedlichen Gründen nicht aus den postsowjetischen Staaten nach Russland zurückgekehrt.

Für diese Menschen ist die russische Identität wichtiger Teil ihres Selbstverständnisses, das sie aktiv nach außen tragen und verteidigen. Sie eint die Überzeugung, dass ihre neuen Heimatländer als ehemalige russische Kolonien kulturell minderwertig sind; eine wehmütige Sehnsucht nach dem verlorenen Imperium; und die Überzeugung, dass ihnen die Unterstützung Russlands unbedingt zustehe.

Aber auch innerhalb dieser Gruppe lassen sich Unterschiede feststellen. Der größere Teil der Russen, die in postsowjetischen Staaten leben, hat sich dort weitgehend in das öffentliche Leben integriert, besitzt volle Bürgerrechte und akzeptiert die neue Identität. Daneben aber gibt es nicht nur in den postsowjetischen Ländern eine Gruppe, die man als äußerst „russlandtreu“ bezeichnen kann und die als verlängerter Arm Russlands in diesen Ländern dient. Diese „professionellen Russen“ integrieren sich sehr bewusst nicht in die Gesellschaft des Landes, dessen Bürger sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wider Willen geworden sind. Zugegeben: Die Regierungen in Estland, Moldawien, Lettland und der Ukraine neigen manchmal zu einer nationalistischen Politik. Das sollte aber nicht überraschen in Staaten, die erst jüngst ihre Unabhängigkeit wieder gewonnen haben. Nationalismus ist postkolonialen Gesellschaften inhärent, und in den Staaten der ehemaligen Sowjet­union keineswegs extrem.

Der Unterschied zwischen den integrationsbereiten Russen in westlichen EU-Ländern oder den USA und jenen Menschen, die in der Ukraine oder Lettland auf einer „einzigartigen russischen Identität“ bestehen, ist eklatant. Weil die Moskau-Anhänger auf ihrer kulturellen Einzigartigkeit beharren, manövrieren sie sich noch weiter an den Rand des öffentlichen Lebens und entfremden sich von der Gesellschaft, in der sie leben.
In den wirtschaftlich erfolgreichen Jahren 1999 bis 2007 gewannen die im Ausland lebenden „Landsleute“ für Moskau wieder an Bedeutung. Und weil man die Beziehungen zu ihnen stärker pflegen wollte, etablierte man 2008 ein staatliches Komitee; ein Jahr zuvor war bereits die Stiftung „Russkij Mir“ gegründet worden, die mittlerweile Vertretungen in zahlreichen Ländern unterhält (darunter mit Dresden, Nürnberg und neuerdings Hamburg auch in Deutschland) und die „Verbreitung der russischen Sprache und Kultur“ fördern soll. Bereits 2006 wurde ein Programm für russischsprachige Rückkehrer aufgelegt – das man allerdings als weitgehend gescheitert bezeichnen kann. Nur 80 000 Menschen entschlossen sich zu einer Rückkehr nach Russland, das sind weniger als 1 Prozent aller Russischsprachigen im Ausland. Zum Vergleich: Das deutsche Rückführungsprogramm der Jahre 1987 bis 2000 brachte mehr als 70 Prozent der Deutschstämmigen aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik.

Die fünfte Kolonne

Die Beziehungen zwischen Russland und seinen in anderen Staaten lebenden „Landsleuten“ sind weitgehend von ideologischen und politischen Ansprüchen geprägt: Prorussische Aktivisten sollen das offizielle russische Geschichtsbild propagieren, dazu beitragen, dass der russisch-orthodoxen Kirche der entsprechende Respekt als Staatsreligion gezollt wird und den besonderen Status der russischen Sprache fördern. Dabei agitieren diese professionellen Russen häufig für eine Integration ihrer „Heimatländer“ mit Russland – und haben doch für diese Länder oft nichts als Verachtung übrig. Zum Erfolg führt das nicht unbedingt. In Lettland, wo ethnische Russen, Ukrainer und Weißrussen 32,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist die Unterstützung für prorussische Parteien bei den jüngsten Europawahlen wesentlich geringer als in den Vorjahren ausgefallen.

Trotzdem sind Wladimir Putin und sein engster Führungszirkel davon überzeugt, dass die Russland-Nostalgiker eine wichtige Rolle für ihre Politik spielen. Das zeigt die Annexion der Krim Anfang 2014: Sie wurde zwar nicht mit starker Unterstützung, aber mit dem stillschweigenden Einverständnis der lokalen Bevölkerung hingenommen. Was folgte, war ein Musterbeispiel für das Verhalten und Vorgehen der russlandtreuen Gemeinschaft. Zum aktiven Teil dieser Gruppe gehören Menschen, die für die ethnische Mehrheit des Landes, in dem sie leben, nur Hass übrig haben; sie sind bereit, ihre Ansprüche auch mit gewaltsamen und verbrecherischen Mitteln durchzusetzen; und sie sind überzeugt, dass Russland ihnen zu Hilfe kommen sollte, um „das russische Reich wieder zu vereinen“.

Die Ereignisse in der Ostukraine zeigen, dass die Angst in den postsowjetischen Staaten vor einer politischen Destabilisierung durch eine „fünfte Kolonne“ vollkommen begründet ist. Auch in Zukunft ist damit zu rechnen, dass sich diese Gruppe weiter von der Mehrheitsgesellschaft entfremdet und dabei immer aggressiver wird. Der „Schutz“ für diese Bevölkerungsgruppe gefährdet nicht nur die stabile Entwicklung dieser Länder; die Begründung für einen solchen „Schutz“ – nämlich die angebliche Unterdrückung russischer Kultur – ist auch zutiefst verlogen. In Lettland werden zahreiche russischsprachige Zeitungen und Magazine publiziert. In Russland hingegen gibt es kein einziges Medium in einer der baltischen Sprachen. In der Ukraine konnte man bis vor kurzem noch kostenlos russische TV-Sender empfangen. In Russland, wo Millionen ethnische Ukrainer leben, ist kein einziger ukrainischer Fernsehsender frei zu empfangen. Neuerdings verdammt Moskau die „Ukrainisierung“ der Ukraine. Aber man hat vollkommen vergessen, dass 1863 der Druck von Büchern in ukrainischer Sprache im Russischen Reich verboten wurde; 1876 wurde die Aufführung ukrainischer Lieder und Theaterstücke untersagt und ab 1888 durfte in der Öffentlichkeit nicht mehr ukrainisch gesprochen und Kinder durften nicht mehr auf ukrainische Namen getauft werden. Wenn Russland schon nicht fähig ist, seine Attitüde gegenüber den früheren Kolonien zu ändern, dann sollte es wenigstens akzeptieren, dass es jetzt mit den Ergebnissen seiner imperialen Politik konfrontiert ist.

Rückführung oder Kooperation

Die zwei Gruppen der „russkij mir“ unterscheiden sich nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihrer Bedeutung für Russland. Die hochqualifizierten russischen Auswanderer sind heute das größte ungenutzte Potenzial Russlands. Sie verfügen über wertvolle Berufserfahrung und Qualifikationen, sie kennen sich in internationalen Institutionen aus und sind in globale Netzwerke eingebunden. Zudem lehnen die meisten von ihnen Korruption und Clanstrukturen ab. Sollte Russland sich jemals in Richtung eines normalen europäischen Staates entwickeln, könnte diese Gruppe sicherlich entscheidende Beiträge zum Reformprozess leisten.

Die russischen Nationalisten im Ausland hingegen, die sich der Russischen Föderation ach so verbunden fühlen, können meist keinerlei besondere Qualifikationen aufweisen. Im Gegenteil: Sie stellen Forderungen an Russland, ohne dafür Leistungen zu erbringen. Für den Fall, dass sie nach Russland zurückkehrten, würden sie zu einer neuen Unterschicht gehören oder Propagandisten eines extremen Nationalismus werden. Das Ukraine-Abenteuer Wladimir Putins könnte zum Beweis für diese Annahme werden. Russland hat zwei Millionen neue „Bürger“ auf der Krim hinzugewonnen, die schon jetzt ungehalten darüber sind, dass die russische Regierung wesentlich weniger für sie tut, als sie erwartet hatten. Obendrein könnten zahlreiche militante Separatisten, darunter auch Kriegsverbrecher, nach Russland kommen, die schon existierenden nationalistischen Bewegungen verstärken und politische Instabilität verursachen.

Russland braucht heute mehr denn je einen verantwortungsvollen Umgang mit den russischen Gemeinschaften im Ausland, um die hochqualifizierten Russen weiter zu fördern und gleichzeitig nationalistische Russland-Verbundenheit einzudämmen. Statt weiterhin den eigenen Einfluss in den ehemaligen Sowjetstaaten durch die Finanzierung von Russland-Getreuen auszubauen – zumal der wirtschaft­liche und geopolitische Wert dieser Gebiete mehr als fraglich ist –, sollte Moskau sich auf zwei andere Politikbereiche konzentrieren.

Moskau sollte beginnen, eine Politik der verantwortungsvollen Rückführung zu betreiben. Das Land verfügt über ausreichende – allerdings oft sinnlos verschleuderte – Ressourcen, um nicht auf halblegalem Weg Abchasiern oder Moldawiern Pässe auszustellen, sondern vielmehr jedem die russische Staatsbürgerschaft zu garantieren, der russische Vorfahren hat. Wenn Russland sich als Verteidiger aller Russen sieht, die auf der Welt verstreut leben, dann müsste das jus sanguinis in die russische Gesetzgebung aufgenommen werden.

Um eine größtmögliche Zahl ethnischer Russen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in die Russische Föderation zurückzuholen, könnte man sich an den Rückkehrer- oder Ein­wanderungsprogrammen Israels und Deutschlands orientieren. Die Eingliederung qualifizierter Migranten wäre auf jeden Fall günstiger als die Art der Unterstützung, die derzeit den Landsleuten in der Donezk-Region gewährt wird. Von einer solchen Rückführung würde Russland wesentlich mehr profitieren als von der „gesteuerten Instabilität“ in postsowjetischen Ländern, durch die Massen schlecht ausgebildeter Migranten aus den Nachbarstaaten angelockt werden.

Zudem wäre eine Politik der Kooperation mit den russischen und russischsprachigen Auswanderern notwendig, die das Land freiwillig verlassen haben. Moskau sollte die doppelte Staatsbürgerschaft anerkennen und über die Berufung derjenigen in den Staatsdienst nachdenken, die moderne Managementfähigkeiten besitzen und Erfahrung im öffentlichen Dienst weniger korrupter Länder aufweisen können. Diese Menschen haben sich in fremden Gesellschaften unter weit höherem Wettbewerbsdruck durchgesetzt, während andere, weniger profilierte Bürger von der komfortablen Situa­tion in Russland profitiert haben, die durch hohe Rohstofferlöse ermöglicht wurde. Die denkbar beste Modernisierungpartnerschaft bestünde im Zusammenwirken eines aufstrebenden Russlands mit den unabhängigen, hochqualifizierten Russen im Ausland.

Leider hat man in Wladimir Putins Russland den genau entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Vor kurzem wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das die Rechte von Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft einschränkt; das gilt auch für Russen mit Aufenthaltsgenehmigung im Ausland. Programme zur Kooperation im Bildungsbereich werden zurückgefahren, während mehr Gelder für die Unterstützung der „ideologisch befreundeten“ prorussischen Bewegungen in den Nachbarländern bereitgestellt werden.

Das Ergebnis ist vorhersehbar: Russland könnte beide im Ausland lebenden Gruppen verlieren. Die Russian professionals, weil sie die Politik Russlands nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Und die professionellen Russen, wenn dem Kreml das Geld für ihre Aktivitäten ausgeht. Angesichts der jüngsten Ereignisse könnte das recht bald der Fall sein.

Prof. Dr. Wladislaw Inosemzew ist Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau und Visiting Fellow am Center for Strategic and International Studies in Washington.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 94-101

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