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27. Apr. 2018

„Von Überheblichkeit rate ich dringend ab“

Regeln einfordern, ohne andere zu maßregeln: Deutschlands Rolle in Europa

Als Innenminister handelte er die Wiedervereinigung aus, als Finanzminister trug er viel zur Bewältigung der Eurokrise bei. Wo Wolfgang Schäuble trotz aller Rückschläge im europäischen Einigungsprozess seinen Optimismus hernimmt, welche Aufgabe Berlin dabei zukommt und was das alles mit Sisyphos zu tun hat, erklärt der Bundestagspräsident im IP-Interview.

IP: Herr Schäuble, wir würden gern mit einem leicht verkürzten Zitat beginnen: „Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu finden, dann wird die Union sich unaufhaltsam zu einer lockeren, im Wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln. Mit einer solchen ‚gehobenen‘ Freihandelszone wären die existenziellen Probleme der europäischen Gesellschaften und ihre äußeren Herausforderungen nicht zu bewältigen.“ Kommt Ihnen das bekannt vor?
Wolfgang Schäuble: Das kommt mir bekannt vor, denn das wird ja in vielfältiger Form zurzeit von vielen gesagt. Ist das von mir?

IP: Ja, allerdings von 1994. So beginnt das berühmte Schäuble-Lamers-Papier, in dem Sie zusammen mit Karl Lamers Schritte hin zu einer tieferen Integration skizziert haben. Die Sätze erscheinen uns erstaunlich gegenwärtig.
Schäuble: Eigentlich ist das eine Beschreibung europäischer Politik, die seit Jahrzehnten gültig ist. Es illustriert unser ständiges Bemühen, unser Ringen, wenn Sie es dramatisch ausdrücken wollen, in Europa mehr Integration zu erreichen. Zugleich aber müssen wir im Blick haben, dass die Menschen nicht die Orientierung verlieren. Die Gefahr, dass dies geschieht, ist seit 1994 eher gewachsen. Jetzt ist „Heimat“ wieder der Begriff, mit dem man das beschreibt, nicht nur bei der Benennung von Ministerien. Es bleibt dabei – die Aufgabe von Politik besteht darin, auf Veränderungen zu reagieren, Fortschritt nicht zu verweigern, aber zugleich das notwendige Maß an Vertrautheit zu bewahren. Sonst wachsen populistische, volatile – wie immer Sie es nennen wollen – Bestrebungen und Kräfte. Freiheitliche Ordnungen bedürfen einer Form des Zusammenhalts. Wer einen solchen Zusammenhalt schaffen will, braucht Anziehungskräfte. Deswegen kommt in dem Papier auch der Begriff „Kern“ vor; der wurde dann verstanden als ein Kern, der spalten würde. Wir haben aber damals schon gemeint, der Kern muss Anziehungskraft haben, der muss wie der Magnetkern zusammenhalten. Das ist das immerwährende Problem, nur die Zeiten haben sich seit 1994 noch einmal geändert.

IP: Inwiefern?
Schäuble: Vor allem das Tempo der Veränderungen hat noch einmal angezogen. 1994 war Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ noch in vielen Köpfen. Heute gilt zwar weiterhin, dass das marktwirtschaftliche Prinzip anderen überlegen ist. Aber dass unsere Ordnung auch politisch gesiegt hat – das lässt sich heute leider nicht mehr so einfach behaupten. Denn freiheitliche Ordnungen sind nicht voraussetzungslos; sie brauchen Grenzen, Regeln, Zusammenhalt, und das ist in der Globalisierung schwieriger herzustellen. Dafür braucht man Europa. Die ursprüngliche Begründung Europas „Nie wieder Krieg“ ist ja auch heute nicht falsch. „Le nationalisme – c’est la guerre“, hat François Mitterrand nur ein paar Meter von hier (dem Reichstagsgebäude, die Red.) entfernt im Schauspielhaus bei seiner Abschiedsrede gesagt. Aber die jungen Leute nehmen das nicht mehr ernst. Und die Sorge, dass wir mit Frankreich Krieg führen, die habe ich auch nicht. Dass aber Krieg in Europa wieder möglich ist, das haben wir beim Zerfall Jugoslawiens erlebt. Und als wir 2014 des Ersten Weltkriegs gedachten, dankbar, dass uns so etwas heute nicht mehr passieren kann, wurde die Ukraine besetzt. Ich bleibe überzeugt, dass nach den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts die europäische Einigung notwendig ist und bleibt.

IP: Sie gelten als unerschütterlicher Optimist. Wäre der Schäuble des Jahres 1994 nicht enttäuscht, dass die Probleme heute praktisch die gleichen sind?
Schäuble: Naja, der Schäuble von 1994 wusste ja nicht, was 2018 sein wird. Und der Schäuble von 2018 weiß nicht, was 2020 sein wird. Ich bin optimistisch, denn Sie können politische Verantwortung nicht vernünftig gestalten, wenn Sie keinen Optimismus, keine Zuversicht haben. Es ist eine Grundvoraussetzung, dass wir vor Problemen nicht resignieren, nicht verzweifeln dürfen. Karl Popper verdanken wir die Erkenntnis, dass freiheitliche Ordnungen anderen dadurch überlegen sind, dass sie Fehler und Irrtümer korrigieren können, dass sie daraus lernen können. Und das begründet Optimismus.

Europa hat sich immer nur nach Krisen bewegt. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte der japanisch-österreichische Schriftsteller und Politiker Richard Coudenhove-Kalergi 1924 die Idee von Pan-Europa auf; mit noch mehr Nachdruck wurde diese Idee dann nach dem Zweiten Weltkrieg weiter verfolgt. Aber auch da gab es Rückschläge. 1954 scheiterte die Verteidigungsunion an der französischen Nationalversammlung. Neun Jahre nach Kriegsende kam die Idee, ihre Streitkräfte mit Deutschland zu vereinigen, für die Franzosen einfach zu früh. Man ist dann den anderen Weg gegangen, mit der „Methode Monnet“. Wir einigen uns da, wo die Menschen mitgehen, also wirtschaftlich. Wir nützen jede ökonomische Gelegenheit, um voranzugehen. Das ist der Kern der „ever closer union“ – und der ist ja auch nicht falsch. Aber was daraus wird, im Alltag europäischer Wirklichkeit und bürokratischer Perfektion, das ist eine andere Sache. Was bleibt, ist das Bemühen. Albert Camus hatte schon recht: Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Den Stein immer wieder den europäischen Berg hinauftragen, das ist Teil der politischen Conditio humana.

IP: Sie sprachen von den magnetischen Kräften der europäischen Integration. Was ist aus denen geworden?
Schäuble: Diesen magnetischen Kern müssen wir immer wieder neu erspüren – und als verantwortliche Politiker zu stärken versuchen. Schauen Sie, nach der Brexit-Entscheidung haben die meisten Politiker, mich eingeschlossen, gefordert, man müsse jetzt aufpassen, dass es keinen Nachahmereffekt gibt. In Wahrheit hat die Brexit-Entscheidung die euroskeptischen Tendenzen in Kontinentaleuropa eher geschwächt. Und selbst die größten Eurogegner, ob der Front National in Frankreich oder Italiens Fünf-Sterne-Bewegung – sie haben am Ende nicht mehr offen den Austritt aus dem Euro oder der EU propagiert. Also ist da offenbar etwas – aber man muss es pflegen. Jean Monnet selbst hat ja bekanntlich irgendwann gesagt, beim nächsten Mal werde er mit der Kultur anfangen.

IP: Gibt es da eine spezifische deutsche Verantwortung, eine spezifische deutsche Rolle?
Schäuble: Die gibt es, und die ist auch historisch betrachtet überhaupt nicht neu. Wir liegen in der Mitte Europas, und für europäische Verhältnisse sind wir relativ groß; manche meinen, ein bisschen zu groß. Deswegen ist es unsere Aufgabe, auf Ausgleich und Zusammenhalt in Europa hinzuwirken. Wenn das nicht gelingt, treffen uns die Folgen härter als andere. Deswegen müssen besonders wir darauf achten, dass eine der größten Errungenschaften der europäischen Einigung, nämlich die Überwindung der Ost-West-Teilung unseres Kontinents, nicht wieder verspielt wird. Folgerichtig war die Bundeskanzlerin am Tag eins nach ihrer Wiederwahl in Paris, am Tag zwei in Warschau. Als Bundestagspräsident habe ich in meiner bisherigen kurzen Amtszeit viele Kontakte mit polnischen Gesprächspartnern – nicht, weil ich glaube, dass der Parla­mentspräsident nun in erster Linie derjenige ist, der die Außenpolitik machen muss; ich weiß schon, dass das nicht meine Rolle ist. Aber den Beitrag, den ich leisten kann, den leiste ich, auch wenn es um die Tschechen, Slowaken, Slowenen, Balten oder Ungarn geht. Das ist schon unsere Aufgabe.

IP: Gibt es denn auch Grenzen des deutschen Verständnisses für ein Polen, das sich, zumindest auf Regierungsseite, von europäischen Werten entfernt? Das gilt ja auch – vielleicht in noch größerem Maße – für Ungarn …
Schäuble: Wir haben unsere Werte und Prinzipien, aber wenn Sie mit einem polnischen Kollegen reden, dann würde er die Frage oder Unterstellung, die Polen würden sich nicht an europäische Werte halten, als Beleidigung empfinden. Die interpretieren es vielleicht ein bisschen anders. Was also bleibt uns übrig, als darüber miteinander zu reden? Notfalls mit unterschiedlicher Auffassung, aber ohne Arroganz.

Und wir müssen unterschiedliche Erfahrungen berücksichtigen. Die große Zahl von Flüchtlingen, die im Sommer und Herbst 2015 gekommen sind, hat uns stärker erschüttert, als wir zunächst geglaubt hatten. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Erklärung dazu ja sehr Bemerkenswertes und Klares gesagt. Aber ich habe damals keinen Hehl daraus gemacht, dass ich den Versuch, von den Osteuropäern eine Solidarität einzufordern, die sich vornehmlich an der proportionalen Verteilung von Flüchtlingen misst, für nicht zielführend halte.

Ich hatte ganz ähnliche Erfahrungen 1990/91 als deutscher Innenminister. Wir hatten damals über eine halbe Million Asylbewerber, und wir verteilten sie auf die Bundesländer nach dem Königsteiner Schlüssel (der festlegt, wie die einzelnen Länder an gemeinsamen Finanzierungen zu beteiligen sind, die Red.). Nach der Wiedervereinigung lautete die Erwartung der Westdeutschen, dass es jetzt auch eine entsprechende Quote für die neuen Bundesländer gebe. Da habe ich den Verantwortlichen gesagt: Bitte habt Verständnis – die ostdeutsche Bevölkerung ist das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Ländern viel weniger gewohnt; im Übrigen sind die Menschen dort der Auffassung, dass sie im Moment andere Probleme haben. Wollen Sie dann einer Bevölkerung sagen: Jetzt mal zack, zack! Oder wollen Sie lieber für Verständnis werben?

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung habe ich gesagt: Das kann nicht der richtige Weg sein. So habe ich das auch dem heutigen polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki gesagt, als er noch Finanzminister war. Finanzminister ist im Übrigen eine gute Ausbildung für künftige Regierungschefs – ich nehme an, Herr Scholz wird das nicht ohne Vergnügen lesen. Es mag schon sein, dass die Verteilung von Flüchtlingen nicht richtig ist, aber ich könnte es trotzdem so machen, dass andere es verstehen. Die Bundeskanzlerin hat in Warschau ja auch jüngst Töne angeschlagen, die man dort verstanden hat.

IP: Es geht aber doch nicht nur um mangelndes Verständnis. Die EU-Kommission prüft derzeit, ob in Polen noch in allen Fällen die Rechtsstaatlichkeit gilt …
Schäuble: Wie gesagt – jeder Pole wird mit Empörung zurückweisen, dass in seinem Land die Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet sei. Darüber muss man dann diskutieren. Das kann man! Aber nicht, wenn man mit dem erhobenen Zeigefinger kommt und sagt, ich zeige euch, wo es langgeht, und setzt euch mal hin, so wie es früher in der Schule war. Müssen wir wirklich die Polen lehren, für Freiheit, für Selbstbestimmung einzutreten? Wohl kaum. Vor dem Hintergrund der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sollte man dem Land den nötigen Respekt entgegenbringen. Ohne den Mut der Polen, sich gegen eine Diktatur zu stellen, würden wir dieses Interview vielleicht gar nicht hier führen.

IP: Die Situation in Ungarn gehört in die gleiche Kategorie?
Schäuble: Jedes Land ist anders. Auch bei Ungarn muss man ein bisschen in die Geschichte schauen; seit dem Ende des Habsburger Reiches und dem Frieden von Versailles leben, glaube ich, 40 Prozent der Ungarn außerhalb Ungarns. Dabei war Ungarn das erste Land, mit dem wir noch in Zeiten der Ost-West-Teilung einen Vertrag über die gegenseitige Anerkennung von Minderheiten abschließen konnten. Das ist eine innenpolitische Last, die nach der Wende jede ungarische Regierung mit sich geschleppt hat – auch die erste freigewählte von Jószef Antall, der 1993 leider viel zu früh verstorben ist. Mit der Folge, dass es wieder postkommunistische Mehrheiten gab wie praktisch überall.

Ich habe den heutigen Premierminister Viktor Orbán kennengelernt, als er noch Anführer der Jungen Liberalen war. Er ist einen langen Weg gegangen, und solche langen Wege verändern Menschen. Schauen Sie sich nur Recep Tayyip Erdogan an. Was hat der als Bürgermeister von Istanbul alles für die Modernisierung der türkischen Gesellschaft getan! Er ist kein Wolf im Schafs­pelz, und das gilt auch für Orbán. Mit ihm muss man wieder und wieder reden, vielleicht auch streng reden, und dabei zeigen: Wir respektieren dich, aber in bestimmten Fragen sind wir anderer Meinung.

IP: Steht Orbán nicht für ein grundsätzlich anderes Europa?
Schäuble: Was heißt ‚ein anderes Europa‘? Die Frage, wie man Europa richtig organisiert, hat keine moralische Qualität. Ich glaube, dass auch Orbán für ein Europa gemeinsamer Werte steht. Ob man mehr oder weniger Integration macht, wie man diese Integration gestaltet, wie man also die Balance findet zwischen einem handlungsfähigen Europa, das Probleme löst, die Europas Nationalstaaten nicht mehr alleine lösen können, und einem Europa, das die Grundlagen von Zusammenhalt, Vertrautheit, Orientierung bewahrt, um Demokratie freiheitsstabil zu halten – das ist etwas, was man jeden Tag neu erringen muss.

IP: Muss Deutschland dabei nicht dennoch eindeutiger führen?
Schäuble: Wir können Europa nicht alleine führen. Sobald Sie an die Sicherheitspolitik, an Verteidigung, PESCO und so weiter denken, sehen Sie, dass wir zur alleinigen Führung Europas gar nicht in der Lage sind. Wir kommen gar nicht mehr auf die Idee, dass wir alleine Europa führen könnten. Gott sei Dank. Und deswegen brauchen wir die Partnerschaft mit Frankreich, und auch mit anderen. Aus dieser Sicht wäre im Übrigen auch jede Distanzierung zwischen Großbritannien und dem Rest Europas schmerzlich und nicht in unserem Interesse. Je weniger Distanz, desto besser – für uns, für Europa, für die Briten.

Und dann ist da ja auch noch unsere föderale Tradition. Wir wissen im Grunde, dass es keinem gut geht, wenn es dem Schwächeren nicht gut geht. Aber wir glauben auch zu wissen, dass man in einer solchen Ordnung, in der es keine einheitliche zentrale Macht gibt wie sie beispielsweise der französische Staat kennt, Regeln braucht, die auch eingehalten werden. Auf die man sich ein Stück weit verlassen kann. Sonst besteht die Gefahr des Fehlanreizes – eines „moral hazard“, wie ihn die Ökonomen Markus Brunnermeier, Jean-Pierre Landau und Harold James in ihrem Buch über die unterschiedliche deutsch-französische Herangehensweise sehr präzise beschrieben haben. Die Franzosen haben die Erfahrung eines starken, effizienten Staates, der Krisen bewältigen kann und dabei keine Regeln braucht. Wir dagegen wollen Krisen möglichst vermeiden, und dazu braucht man nun mal Regeln. Beides hat seine spezifischen Vorteile. Deswegen glaube ich, dass wir viel voneinander lernen können. Von Überheblichkeit rate ich dringend ab. Schon bevor der Wahlsieg von Emmanuel Macron in Frankreich für neuen Optimismus gesorgt hatte, habe ich immer gesagt: Unterschätzt Frankreich nicht, das ist ein starkes Land! Das habe ich auch den Chinesen immer gesagt, die das lange gar nicht glauben wollten.

IP: War die Bewältigung der Eurokrise nicht insgesamt erfolgreicher als seinerzeit prophezeit?
Schäuble: Europäische Einigung heißt ja Veränderung. Wohlstandsgesellschaften mögen sich eigentlich nicht verändern. Wozu auch? Deswegen braucht man Druck, deswegen braucht man Krisen. Die größte Gefahr ist Selbstzufriedenheit. Das ist in der Politik nicht anders als beim FC Bayern. Wenn wir also glauben, wir haben die Eurokrise besser überstanden, als uns das fast alle Kritiker 2010/11 vorhergesagt haben, dann haben wir Glück gehabt. Aber Glück ist nichts, auf das man in der Politik bauen kann. Napoleon hat einmal gesagt, ein Marshall ohne Fortüne tauge nichts. Aber wir dürfen um Gottes Willen nicht glauben, wir könnten uns jetzt auf dem Erfolg ausruhen. Das wäre gefährlich.

Denn wir sollten nicht verkennen: Die Anpassungslasten, die Krisenbewältigung – all das ist der unvollkommenen Konstruktion der Währungsunion geschuldet. Die Ökonomen haben ja auch von Anfang an gesagt: Das wird schwierig. Politisch war sie richtig. Aber das heißt dann auch, dass man daran arbeiten muss. Wir haben geglaubt, wir gehen diesen Schritt, und wenn die nächste Krise kommt, erschaffen wir uns Regeln. Wenn diese Regeln nicht ausreichen, um die Nachteile einer Währungsunion ohne Wirtschafts- und ­Finanzunion auszugleichen, müssen wir die Verträge ändern, was aber nach dem Lissabon-Vertrag schwierig ist. Ich glaube, dass der Druck noch nicht groß genug ist, um Vertragsänderungen zu erreichen. Deswegen werden wir in dieser Phase flexibel, effizient und pragmatisch vorgehen müssen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo Vertragsänderungen möglich sind, und das ist gut. Oder zumindest wieder besser. Und dann kommt die nächste Krise.

IP: Gehört es zur deutschen Rolle nicht auch, etwas großzügiger zu sein? Um einmal über das Bild zu sprechen, dass mit Ihrem Namen in vielen südeuropäischen Ländern verbunden ist …
Schäuble: Wenn Sie gesehen hätten, wie mich meine Finanzministerkollegen verabschiedet haben, dann wüssten Sie, dass das ein in den Medien gepflegtes Bild ist, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Dass wir in Europa bestimmte Regeln brauchen, ist und war die Überzeugung Deutschlands – nicht nur die eines Finanzministers. In der Tat vertrete ich die etwas altmodische Auffassung, dass wir, wenn wir Regeln haben, auch versuchen sollten, uns an sie zu halten, sonst sind sie für die Katz. In Europa haben wir ein ähnliches Problem wie in Deutschland beim Länderfinanzausgleich – wie können wir Solidarität organisieren, ohne den Menschen den Anreiz zu nehmen, selber das ihnen Mögliche zu tun? Ich kann keine Reformen in den Mitgliedstaaten starten, auch wenn ich es gern wollte. Ich habe einmal mit einem griechischen Kollegen erörtert, ob es denn eine Lösung wäre, zehn Jahre lang eine Art Treuhandschaft der Europäischen Kommission für Griechenland zu organisieren. Ohne das Instrument der externen Währungskorrektur, also Abwertung, sind die zur Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands notwendigen Reformen irrsinnig schwierig. In Deutschland wollte ich das nicht machen. Kurz – wir leben mit der Unvollständigkeit der europäischen Konstruktion. Aber da Europa etwas Gutes ist, müssen wir mit dieser unvollkommenen EU zurechtkommen.

IP: Wenn Sie auf die nachfolgende Generation an Europapolitikern schauen, haben Sie da die Sorge, dass diese dem Verständnis von Sisyphos als glücklichem Menschen nicht so viel abgewinnen können wie Sie?
Schäuble: Wissen Sie, die Älteren glauben ja immer, dass sie es besser können als die Jüngeren, und die Geschichte hat das immer wieder widerlegt. Damit müssen wir Älteren uns abfinden. Ich hoffe darauf, dass die Jüngeren es anders machen, und mir ist da gar nicht bange. Die nächste Generation hat ganz andere Voraussetzungen, ist viel offener, kennt sehr viel mehr von der Welt. Mindestens ein Semester verbringen Studenten heute in einem anderen Land – in meiner Generation eine absolute Seltenheit. Ich schaue mir öfters mal die Lebensläufe der Kollegen im Bundestagshandbuch an. Die junge Generation von Bundestagsabgeordneten hat ein Maß an Internationalität, da kann ich nur neidvoll draufschauen. Die werden es anders machen. Gott sei Dank.

Das Interview führten Henning Hoff, Uta Kuhlmann und Joachim Staron.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 14 - 20

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Dr. Wolfgang Schäuble gehörte von 1972 bis 2023 dem Bundestag an, dessen Präsident er von 2017 bis 2021 war. Er war Chef des Bundeskanzleramts, Innen- sowie Finanzminister und galt als erfahrenster Europapolitiker Deutschlands.