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01. Juli 2014

Raus ins Rampenlicht

Die Genese der „neuen deutschen Außenpolitik“

Die Reden von Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar dieses Jahres waren für viele eine Überraschung. Dabei zeichnete sich die Entstehung der „neuen deutschen Außenpolitik“ spätestens seit 2011 ab – und sie ist weniger geheimnisvoll als oft gedacht.

Der Präsident machte den Anfang. Ausgerechnet der frühere Pastor und Bürgerrechtler Joachim Gauck hielt zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 eine Rede, die seither zum Symbol der „neuen deutschen Außenpolitik“ und einer sehr viel aktiveren deutschen Rolle in der Welt geworden ist.

Als Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wenig später ins gleiche Horn stießen, wurde das von Washington bis Peking als Beleg für eine plötzliche Wende in Berlin gewertet – und von Kritikern in der Friedensbewegung als Zeichen einer weiteren „Militarisierung“ der deutschen Außenpolitik gewertet. Doch in Wahrheit waren die Münchner Reden nur der Abschluss einer längeren Entwicklung, die bis 2011 zurückreicht.

Weil sich seit Gaucks Rede eine Reihe bizarrer Mythen um die „neue deutsche Außenpolitik“ gebildet haben, soll hier versucht werden, auf Basis von Gesprächen mit damaligen Akteuren die Entwicklung bis hin zur Münchner Sicherheitskonferenz nachzuzeichnen. Denn die Rede des Bundespräsidenten bedeutet weder einen Bruch in der deutschen außenpolitischen Debatte, noch ist sie das Werk eines angeblichen verschworenen militärisch-politisch-medialen Komplexes, als die sie etwa in einer ZDF-Satiresendung bezeichnet wurde.

Normalisierung in Schüben

Seit der Wiedervereinigung ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik schubweise „normalisiert“ worden. Über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Awacs-Aufklärungsmaschinen über der Türkei bis zu den ersten aktiven militärischen Einsätzen außerhalb des NATO-Gebiets im Kosovo (1999) und in Afghanistan (2002) wurde die besondere Zurückhaltung, die für Einsätze der Bundeswehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt, nach und nach aufgegeben.

Zwei Punkte haben diese Entwicklung wesentlich geprägt: Zum einen handelten die wechselnden Bundesregierungen vor allem auf Druck der NATO- und EU-Partner, die von Deutschland einen aktiveren Beitrag einforderten – und gegen eine eher zurückhaltende Grundstimmung in Politik und Bevölkerung. Zum anderen verlief die Entwicklung in Schüben, die von den Erfahrungen vorangegangener Krisen geprägt waren. Erst der Völkermord in Ruanda (1994) und das serbische Massaker in Srebrenica (1995) schufen die Bereitschaft dafür, dass die Staatengemeinschaft – inklusive Deutschland – dem Morden in anderen Ländern nicht mehr tatenlos zusehen wollte. Die Terroranschläge des 11. September 2001 in New York und Washington sorgten dann für eine Akzeptanz des Afghanistan-Einsatzes.

Dagegen führten die ernüchternden Erfahrungen in Afghanistan und im Irak dazu, dass die Interventionsbereitschaft im Westen und besonders in Deutschland wieder deutlich sank. Über die Jahre ging die Zahl der im Ausland eingesetzten Bundeswehrsoldaten kontinuierlich zurück. Spätestens seit dem Amtsantritt von US-Präsident Barack Obama 2009 kreist auch bei der Supermacht die Debatte stärker um den Abzug von Soldaten als um neue Interventionen.

Gleichzeitig vollzog sich in Europa aufgrund der Schuldenkrise eine Sonderentwicklung. Nur ein großes EU-Land kam ohne allzu große Blessuren und im Grunde sogar gestärkt aus der Krise: Deutschland. Um die Euro-Zone in der schwersten Krise seit Beginn der Integration zusammenzuhalten, mussten wechselnde Bundesregierungen in steigendem Maße die Führung in Europa übernehmen. Das veränderte die außen- und europapolitische Grunderfahrung der Nachkriegsdeutschen: Im Schatten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs waren sie bis dahin vor allem bestrebt gewesen, sich international durch Zurückhaltung und defensive Soft Power beliebt zu machen.

In der Schuldenkrise allerdings musste Deutschland als stärkste und stabil­ste Wirtschaftsmacht Führung zeigen – auch wenn dies zu teilweise heftiger Kritik führte. Tatsächlich drückte die Bundesregierung ihren Ansatz einer strafferen Haushaltsdisziplin ebenso durch wie den Zweiklang „finanzielle Hilfen nur bei Strukturreformen“. Kritiker sprachen wieder von einem deutschen „Diktat“. Andere Partner aber, und gerade die außerhalb Europas, forderten eine solche Führung geradezu ein. Die neue Sicht auf Deutschland fasste der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski im November 2011 so zusammen: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Mit diesem Satz – formuliert vom Außenminister eines Volkes, das so viel unter den Deutschen zu leiden hatte – wurde das klassische Argument einer historisch notwendigen Zurückhaltung Deutschlands entwertet.

Beliebig, orientierungslos, unberechenbar

Sikorskis Satz war durchaus auch als Kritik gemeint. Aus seiner Sicht war die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Libyen-Intervention im März 2011 Ausdruck des mangelnden deutschen Willens, seine wirtschaftliche Stärke außerhalb der Finanz- und Europapolitik in politischen Einfluss umzusetzen.

Bis heute ist umstritten, ob diese Entscheidung, die damals von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle und Verteidigungsminister Thomas de Maizière einvernehmlich getroffen wurde, richtig oder falsch war – ob sie ein Bruch mit der Westbindung war oder aber Teil einer Emanzipation in der deutschen Außenpolitik, die letztlich in der Tradition des Schröderschen Nein zum Irak-Krieg steht.1

Fest steht aber, dass diese UN-Abstimmung der Ausgangspunkt für die „neue deutsche Außenpolitik“ war. Die Bundesregierung musste sich im In- und Ausland für ihre Enthaltung harsche Kritik gefallen lassen. Auch Altkanzler Helmut Kohl warnte vor einer beliebigen und unberechenbaren Außenpolitik „ohne Kompass“. „Wenn man keinen Kompass hat, wenn man also nicht weiß, wo man steht und wo man hin will, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen, dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach weil man keinen Sinn dafür hat“, sagte er damals.2

Der Streit um die deutsche Position löste sowohl im Planungsstab des Auswärtigen Amtes als auch in verschiedenen Think-Tanks heftige Debatten aus. Die Frage, wie man ein deutsches Agieren – oder eben Nichtagieren – künftig begründen könnte, gewann an Brisanz. Nachdem ein erster Vorstoß des German Marshall Funds (GMF) Ende 2011 an der Finanzierung und an Widersprüchen innerhalb der Bundesregierung gescheitert war, startete das Auswärtige Amt im Sommer 2012 zusammen mit dem GMF und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ein Projekt, in dem eine größere Gruppe von Experten aus Politik, Wissenschaft und Medien „Elemente der deutschen Außenpolitik“ erarbeiten sollte – mit dem Ziel, nach der Bundestagswahl im September 2013 ein Ergebnis vorzulegen.

Parallel nahm sich der im März 2012 ins Amt gewählte Bundespräsident Joachim Gauck des Themas an. Auch der ehemalige ostdeutsche Pastor und Bürgerrechtler hatte sich über die Untätigkeit der Weltgemeinschaft in Ruanda empört – was ihn empfänglich für Forderungen werden ließ, die Staatengemeinschaft dürfe dem Morden in anderen Ländern nicht tatenlos zusehen. Aus der friedlichen Entwicklung Deutschlands, dem Glück der Wiedervereinigung und dem erreichten Wohlstand leitete Gauck eine besondere deutsche Verantwortung ab.

Auch für Gauck war der Protest gegen die Libyen-Haltung der Bundesregierung die Initialzündung, sich verstärkt der Außenpolitik zu widmen. Anfang Juni 2011 hatte er in seiner Dankesrede für den Ludwig-Börne-Preis ausdrücklich gemahnt: „Ich habe in meinem Leben gelernt, dass derjenige, der nichts tut, nicht unbedingt das Richtige tut.“ Er forderte eine offensive Unterstützung des Westens für Freiheitsbewegungen in der Welt. Dabei schloss er auch den Einsatz von Gewalt nicht aus. Sie könne nötig sein, so Gauck im Sommer 2012, „um ihrerseits Gewalt zu überwinden oder zu unterbinden“.

Das Credo, vor allem mit Diplomatie und Entwicklungshilfe aktiver zu werden, aber auch als letztes Mittel einen Bundeswehreinsatz nicht auszuschließen, durchzog in der Folge viele Reden von Gauck: Das Motiv findet sich sowohl beim Antrittsbesuch des Bundespräsidenten bei der Bundeswehr am 12. Juni 2012, beim feierlichen Gelöbnis am 20. Juli 2013 und, am stärksten, in seiner Rede zum 3. Oktober 2013.

„Weniger Verantwortung, das geht nicht länger“

Es war die Rede am Tag der deutschen Einheit 2013, mit der Gauck gleichsam die Vorrede zu München ablieferte. „Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen“, erklärte der Bundespräsident in Stuttgart: „Ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen.“ Ketzerisch fragt er, ob die Deutschen sich von den Partnern eine „Versicherungspolice“ zahlen lassen wollten und zitiert Hannah Arendt mit dem aus dem Jahr 1959 stammenden Satz: „Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.“

Die von einigen Vertretern der Friedensbewegung geäußerte Behauptung, wonach die Wende im Denken Gaucks damit zu tun habe, dass der Präsident seit Sommer 2013 durch den früheren GMF-Direktor Thomas Kleine-Brockhoff als Redenschreiber unterstützt wurde, scheint also ein Mythos. Wenn diese Personalie eine Auswirkung hatte, dann allenfalls die, dass sich Gauck noch intensiver mit der deutschen Rolle in der Welt auseinandersetzte.

Ähnlich wie der Bundespräsident argumentierte vor allem Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Seiner Ansicht nach müssten die Deutschen ihre Einstellung in der Außen- und Sicherheitspolitik ändern. Am 27. Mai 2011 stimmte de Maizière die Deutschen in einer Regierungserklärung nachdrücklich auf mehr Auslandseinsätze ein. Es gelte künftig, „das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente im Rahmen des Völkerrechts“ einzusetzen. Das beinhalte auch den Einsatz der Streitkräfte.

„Das ist mehr als bisher in Deutschland bekannt oder wohl akzeptiert ist“, sagte de Maizière, der sich damit auch entschieden gegen die Interpretation wehrte, die Libyen-Entscheidung sei das Signal für eine pazifistischere Linie Deutschlands gewesen. De Maizière lag viel daran, den westlichen Verbündeten zu signalisieren, dass Deutschland sehr wohl zu einem Engagement bereit ist, und so wiederholte er diese Position immer wieder. Etwa im November 2011, als er in einem Interview ankündigte, es werde „auch künftig keinen Sonderweg geben“ und darauf verwies, dass die Bundeswehr „keine Armee der Brunnenbohrer“ und auch „kein gepanzertes Technisches Hilfswerk“ sei.3 Oder im Dezember 2012, als er, ebenfalls in einem Interview, mit Bezug auf die Finanzkrise betonte, dass die Partner nun eine aktivere Rolle Deutschlands auch in der Sicherheitspolitik forderten.

Auf europäischer Ebene starteten parallel dazu Radoslaw Sikorski und sein schwedischer Kollege Carl Bildt im Frühjahr 2012 eine Debatte, wie eine energischere und kohärentere europäische Außenpolitik aussehen könnte. Dass diese Debatte heute fast in Vergessenheit geraten ist und deshalb die Überraschung Ende Januar 2014 so groß war, hat mehrere Gründe. Zum einen stand seinerzeit ein anderes Thema im Fokus des Interesses: die Bewältigung der Schuldenkrise. Zum anderen hatten Union und FDP so sehr zu kämpfen, eigene Mehrheiten etwa für die Euro-Rettungspakete zustande zu bekommen, dass die Parteichefs keinen zusätzlichen Streit über Auslandseinsätze mit ebenfalls knappen Abstimmungen riskieren wollten.

Drittens hatte sich Außenminister Guido Westerwelle seit seinem Amtsantritt vor allem das Thema Abrüstung auf die Fahne geschrieben. Anders als de Maizière war er daher keine treibende Kraft in der Debatte über eine stärkere außenpolitische Rolle, die offen alle Aspekte des Handelns mit einbezieht. Denn bis heute messen die Bündnispartner das Engagement Deutschlands auch an der Zahl der Truppen, die Berlin stellt. Und viertens wurde der Verteidigungsminister bald nach seinen Äußerungen in der Öffentlichkeit nur noch im Zusammenhang mit umstrittenen Drohnenprojekten wahrgenommen.

Letztes Mittel im Instrumentenkasten

Durch den Regierungswechsel im Herbst 2013 rückte die in den Monaten zuvor eher im Verborgenen geführte Debatte langsam wieder in den Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung. Angesichts ihrer übergroßen Mehrheit im Bundestag konnte sich die Große Koalition auf entspanntere Diskurse über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einlassen. Nur wurde bereits in dieser Phase klar, dass „neue deutsche Außenpolitik“ nicht bedeuten würde, dass Deutschland eine interventionistische Position einnähme. Die Bundeswehr soll letztes Mittel im außenpolitischen Instrumentenkasten bleiben. So lobte Steinmeier bei seiner Amtseinführung ausdrücklich Westerwelles „Kultur der militärischen Zurückhaltung“. Deutschland habe eine historisch begründete Verantwortung, über Alternativen zu militärischem Vorgehen zu sprechen. Steinmeier, der in seiner Zeit als SPD-Fraktionschef und Opposi­tionsführer den Verlust deutschen Einflusses in Europa kritisiert hatte, pochte nun als Außenminister wieder auf eine größere Bedeutung der Diplomatie.

Bundeskanzlerin Merkel deutete in Gesprächen mit Frankreichs Präsident François Hollande Ende 2013 an, dass man sich in Mali und Zentralafrika stärker engagieren werde. Und die neuen Minister Steinmeier und von der Leyen setzten kurzerhand die Beteiligung der Bundeswehr an der Vernichtung der Chemiewaffen aus Syrien durch – ein Projekt, das die Kanzlerin zuvor aus Rücksicht auf den Koalitionspartner FDP noch gebremst hatte.

Verteidigungsministerin von der Leyen, mit der Gauck seine Münchner Rede im Vorfeld diskutiert hatte, argumentierte entlang der de Maizière-Linie, wonach Deutschland künftig eben auch militärisch mehr zu leisten habe. Dass sie das auch für Mali und die Zentralafrikanische Republik (ZAR) forderte, sorgte kurz für koalitionsinterne Debatten, bis die EU-Außenminister verstärkte EU-Missionen in Mali und der ZAR beschlossen – und klar wurde, dass die Bundeswehr dabei lediglich Ausbilder für die Soldaten vor Ort sowie humanitäre und logistische Hilfe beisteuern sollte.

Besonders die Ukraine-Krise sorgte dafür, dass die Gauck-Rede am 31. Januar 2014 nicht als singuläres Ereignis, sondern als gedanklicher Unterbau eines neuen Politikansatzes empfunden wurde. Steinmeiers dramatische Vermittlungsaktion zusammen mit seinem französischen und polnischen Kollegen zur Beendigung der Gewalt auf dem Maidan fand zwar erst nach der Rede statt. Aber spätestens seit dem EU-Gipfel in Vilnius Ende November 2013 hatte Berlin in enger Abstimmung mit der EU eine Führungsrolle bei der Vermittlung zwischen Russland, der Ukraine und den anderen Ländern der östlichen Partnerschaft gespielt. Und auch wenn Merkel und Steinmeier danach jeden Einsatz militärischer Gewalt in der Krise ablehnten – bei der Drohung mit Wirtschaftssanktionen stand Deutschland ebenso in der ersten Reihe wie bei den Vermittlungsgesprächen mit Moskau.

Dr. Andreas Rinke 
ist politischer Chef
korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin

  • 1Andreas Rinke: Eingreifen oder nicht? Warum sich die Bundesregierung in der Libyen-Frage enthielt, IP, Juli/August 2011, S. 44–52.
  • 2Interview mit Helmut Kohl: „Wir müssen wieder Zuversicht geben“. Darin konstatierte der Ex-Kanzler, Deutschland sei „schon seit einigen Jahren keine be­rechenbare Größe mehr – weder nach innen noch nach außen“. IP, September/Oktober 2011, S. 10–17
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2014, S. 8-13

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