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20. März 2014

Putins ökonomischer Märchenglaube

Ein Griff nach der östlichen Ukraine würde Russland teuer zu stehen kommen

Russlands Präsident Wladimir Putin glaubt seine eigene Propaganda: zum Beispiel, dass die östliche Ukraine der wirtschaftliche Motor des Landes sei. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Eine Einverleibung würde Moskau Milliarden kosten. Und horribile dictu: Eine europäische Ukraine ohne die Krim dürfte wirtschaftlich weitaus erfolgreicher sein als eine Ukraine in ihren gegenwärtigen Grenzen.

Es mangelt nicht an Analysen und Kommentaren der politischen und womöglich militärischen Auswirkungen der Krim-Krise. Die wirtschaftliche Seite jedoch wird selten beleuchtet. Dabei geht es Putin nicht nur darum, Kiew für die Absetzung von Viktor Janukowitsch zu bestrafen. Noch weniger bekümmert Putin das Schicksal der ethnischen Russen in den postsowjetischen Staaten. Wäre das der Fall, müsste er auch deren Schwierigkeiten in Turkmenistan, Usbekistan und anderen postsowjetischen Staaten ansprechen.

Putin will die Ukraine für ihren prowestlichen Kurs und für ihren Unwillen bestrafen, seinem großen Projekt, der Eurasischen Union, beizutreten. Sein Ziel ist es, die Ukraine ihrer russisch bevölkerten – und angeblich wirtschaftlich so wichtigen – Gebiete zu berauben. Dummerweise glaubt Moskau das Märchen, das es der russischen Bevölkerung auftischte, wohl selbst: Dass die Ostukraine der wirtschaftliche Motor des Landes sei, von dem die westlichen Landesteile unverhältnismäßig profitierten.

Die Fakten sehen anders aus. In der Tat war der Oblast Donezk 2013 für 12,4 Prozent des ukrainischen BIP verantwortlich; fünf westliche Provinzen hingegen (Transkarpatien, Ivano-Frankiwsk, Wolyn, Ternopil und Lwiw) trugen nur 12,1 Prozent bei. Allerdings erhält der Donezk auch ungefähr ein Drittel (31,3 Prozent) aller direkten staatlichen Investitionen. Die Unternehmen dieser Region hatten 2013 das unglaubliche Glück, 129 Prozent (!) ihrer Umsatzsteuer zurückerstattet zu bekommen. Die ukrainische Regierung subventionierte den Preis von Erdgas, indem sie es bis vor kurzem zu einem Preis von fast 410 Dollar pro 1000 Kubikmeter importierte und es dann für 220 bis 240 Dollar pro 1000 Kubikmeter an die Unternehmer verkaufte. Die Subventionen für die Kohleindustrie belaufen sich auf  etwa zwei Milliarden Dollar pro Jahr.

Die „erfolgreichen Manager“, die Janukowitsch in den Osten des Landes entsandt hatte, zeigten Erfolg vor allem auf einem Gebiet: der geschickten Umverteilung des Volksvermögens zugunsten der östlichen Regionen. 2013 machten Subventionen 14 Prozent des regionalen BIP aus. Da der Großteil der Wirtschaft auf der Krim informell ist, dürfte der Anteil der Subventionen am regionalen Etat der Krim 2013 bei enormen 63 Prozent gelegen haben.

Die Machtstrukturen der Ukraine haben es in den vergangenen Jahren möglich gemacht, dass Finanzströme umgeleitet und technologischer Fortschritt blockiert wurde. Die Energieintensität im Hüttenwesen und in der chemischen Industrie ist vier- bis fünfmal so hoch wie in der EU. In mehr als 20 Jahren war keines der metallverarbeitenden Unternehmen in der Lage, auf weniger energieintensive Produktionsmethoden umzustellen. ArcelorMittal, der neue Besitzer der Krivoy-Rih-Fabrik, reduzierte seine Belegschaft von 57.000 auf 34.000 Mitarbeiter – in Wirklichkeit wäre aber nur eine Belegschaft von etwa 7000 notwendig, um EU-Produktivitätsstandards zu erfüllen. Sollten die Gaspreise steigen oder die Metallpreise fallen, werden viele Unternehmen in dieser Region Bankrott gehen – der „Besitz“ dieser Gebiete wird Russland dann weit mehr kosten, als sie die Ukraine schon gekostet haben.

Teure Verbündete

Russland hat sich in den vergangenen Jahren teure Verbündete zugelegt. Alexander Lukaschenkos Belarus beansprucht ungefähr sieben Milliarden Dollar pro Jahr in versteckten Treibstoffsubventionen und erhält jährlich bis zu zwei Milliarden Dollar an Krediten und Zuschüssen. Die winzigen Satellitenstaaten Abchasien und Südossetien bekamen seit dem Georgien-Krieg im August 2008 mehr als 1,8 Milliarden Dollar als Direktinvestitionen aus dem russischen Staatshaushalt – und 800 Millionen Dollar an „privaten“ Investitionen von russischen, staatlich kontrollierten Unternehmen. Sowohl Belarus als auch Südossetien sind enorme „Zollschlupflöcher“, die den Schmuggel von Waren im Wert von  Milliarden Dollar nach Russland ermöglichen. Zählt man noch Transnistrien und verbündete zentralasiatische Staaten dazu, erreicht der absolute Wert der Subventionen etwa zwölf Milliarden Dollar pro Jahr oder 3,5 Prozent des russischen Haushalts.

Aber nichts davon ist mit den östlichen Regionen der Ukraine vergleichbar. 2013 gab Kiew rund 6,5 Milliarden Dollar für regionale und Treibstoffsubventionen aus – übernähme Russland tatsächlich diese Regionen in irgendeiner Form, dann würde sich diese Summe mindestens verdreifachen, weil neue Investitionen benötigt würden und die russische Regierung gezwungen wäre, für eine schnelle Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung zu sorgen.

In der vergangenen Woche war in Moskau von dringender Wirtschaftshilfe für die Krim in Höhe von einer Milliarde und von einem fünf Milliarden schweren Investmentpaket für die Krim-Region die Rede, das im Laufe dieses Jahres freigegeben werden soll. Es zeigt sich das gleiche Muster wie im Fall von Südossetien und Belarus – Moskau verschwendet bewusst riesige Geldsummen.

Meines Erachtens kann nur eine Annäherung Kiews an Europa zu Reformen in der Ukraine führen – und nicht das Festhalten an einer sowjetartigen russischen Wirtschaft. Die Ukraine muss dem Weg Polens, Tschechiens und der Slowakei folgen. Zum Ende der Sowjetära lag das Pro-Kopf-Regionalprodukt der Ukrainischen Sowjetrepublik 6 Prozent über jenem des sozialistischen Polens. Jetzt ist es drei Mal kleiner. Die Ukraine ist die einzige postsowjetische Nation, die nicht einmal den Lebensstandard der spätsowjetischen Phase erhalten konnte, die aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu Ländern liegt, die ihren Lebensstandard seit 1989  mindestens verdoppeln oder verdreifachen konnten.

Es ist nur natürlich, dass Ukrainer ihre Zukunft in Europa sehen – nicht nur, weil Demokratie besser ist als Autoritarismus, und Rechtsstaatlichkeit besser ist als Willkür, sondern vor allem, weil nur Investitionen und Technologien der EU der wirtschaftlichen Entwicklung neuen Schwung verleihen und die Menschen wohlhabender machen könnten.

Im Versuch, der Ukraine die östlichen, angeblich wirtschaftlich starken Regionen abspenstig zu machen, begeht Moskau nicht nur ein politisches Unrecht, sondern auch eine ungeheure wirtschaftliche Dummheit. Putin, der ja so gern auf die alte sowjetische Rhetorik zurückgreift, vergisst dabei eine der wichtigsten Lehren Lenins: Politik ist der konzentrierteste Ausdruck der Wirtschaft. Die Annexion der Krim, der Versuch eines Zugriffs auf die östlichen Regionen der Ukraine und die von Moskau geschaffenen Satellitenstaaten werden Russland jährlich Dutzende Milliarden Dollar kosten. Obendrein geraten russische Metall- und Chemieunternehmen sowie die Tourismusindustrie in einen direkten Wettbewerb mit ukrainischen Firmen.

Putins Militärübungen, egal wie erfolgreich sie scheinen mögen, bringen das Ende seines Reiches näher – und es erscheint mir seltsam, dass gegenwärtig niemand die wirtschaftlichen Konsequenzen der russischen Intervention anspricht. Es mag sehr verwegen klingen, aber: Eine europäische Ukraine ohne die Krim wird in jeglicher Hinsicht weitaus erfolgreicher sein als eine Ukraine in ihren gegenwärtigen Grenzen. Die Verlierer werden Russland und dessen Bevölkerung sein, nicht die ukrainische Nation.

Prof. Dr. Wladislaw Inosemzew ist Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau und Visiting Fellow am Center for Strategic and International Studies in Washington.

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