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01. Mai 2016

Mit Russland reden, aber wie?

Der Westen sollte sich mit Moskau vor allem über das Trennende verständigen

Die Differenzen mit Wladimir Putins Russland sind heute so tiefgreifend, dass jeder Versuch, über „Gemeinsamkeiten“ oder gemeinsame Interessen zu reden, nicht nur nutzlos, sondern gefährlich wäre. Sinnvoller wäre ein Dialog über die Unterschiede – bis hinauf zum Präsidenten–, ohne sofort auf einen „großen Ausgleich“ zu hoffen.

Nach der Annexion der Krim meinten viele europäische Politiker, man habe Moskau den Georgien-Krieg von 2008 zu leicht durchgehen lassen, weshalb Russland sich an die Ukraine gewagt habe. In Russland, wo man ein westliches Ausgreifen sah, diskutierte man ganz umgekehrt, dass man in Georgien wohl nicht deutlich genug gewesen wäre, weshalb man „in die Ukraine gegangen sei“.

Dieses Beispiel illustriert das Problem, vor dem Russland und der Westen heute stehen. Es gibt nicht nur grundsätzlich unterschiedliche Ansichten, was akzeptables internationales Verhalten ausmacht, sondern auch, welche Ziele und „natürliche“ Beweggründe es untermauern. In Russland, wo die Entscheidungsgewalt auf eine kleine Gruppe Gleichgesinnter konzentriert ist, hat sich ein kohärentes antiwestliches Narrativ festgesetzt, in das einzudringen unmöglich erscheint. Ist es angesichts dieser kulturellen Entfremdung noch möglich, mit Russland zu reden? Und was wäre dazu notwendig?

Mit diesen Fragen beschäftigen sich heute NATO wie EU. Innerhalb der NATO werden die Gefahren einer Misskommunikation gelegentlich erkannt. In der eher bürokratisch-politisch geprägten EU hingegen wünscht man sich flankierend zu den Sanktionen (oder an deren Stelle) einen „positiven Dialog“ zu führen, der, so hofft man, Russland weich werden und einen „neuen Deal“ in greifbare Nähe rücken ließe, mit dessen Hilfe man Moskau zurück auf den Pfad der Kooperation führen könne. Als potenziellen Initiator hat man dafür oft eine Zusammenarbeit von EU und Eurasischer Wirtschaftsunion (EEU) im Sinn.

Der Wunsch, einen „positiven Dialog“ zu führen, ist nachvollziehbar. Unsere Differenzen sind jedoch so tiefgreifend, dass sie nicht von einer weiteren, noch so gut gemeinten bürokratischen Initiative überbrückt werden könnten. Schlimmer noch: In Anbetracht der wechselseitigen Misskommunikation würde es zu noch größerer Enttäuschung führen, weckte man Hoffnungen, die auf falschen Annahmen beruhen.

Die Erfahrung der amerikanischen„Reset“-Politik ist ein erhellendes Beispiel. Für Washington war der „Reset“ genau solch ein „positiver Dialog“: ein pragmatischer Versuch, mit Russland in Bereichen gemeinsamer Interessen zusammenzuarbeiten. In Russland aber wurde der „Reset“ so kurz nach dem Georgien-Krieg als Eingeständnis der USA interpretiert, sich zu weit in den Bereich vorgewagt zu haben, den Russland als Einflusszone betrachtet. Man hat die Initiative als Versprechen auf eine Kursänderung verstanden. Das bestätigte auch ein ehemaliger russischer Diplomat: „Russland dachte, es sei endlich als Großmacht akzeptiert worden, doch der ‚Reset‘ entpuppte sich als etwas, das sich auf eine begrenzte Anzahl von Themen bezog. Das war eine große Enttäuschung. Das Konzept taktischer Kooperation ist der russischen Elite fremd. Beziehungen zu anderen Ländern sind immer emotional aufgeladen. Anerkennung ist ein wichtiges Konzept, und Russland will ebenbürtig behandelt werden.“

 

Das Wesen der Auseinandersetzung

Dass Russland „ebenbürtig behandelt“ werden will, taucht in Gesprächen mit russischen Politikern und Experten häufig auf. Was das bedeutet, bleibt hingegen schwammig. Institutionell betrachtet ist Russland gewiss ebenbürtig behandelt worden: Dem Land wurde Zugang zu allen westlichen Organisationen gewährt, denen es beitreten wollte, ohne in jedem Fall die Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Der Westen hat zudem sein Äußerstes getan, Russland als gleichgesinnten „strategischen Partner“ an EU und NATO zu binden. Warum fühlt sich Russland dennoch nicht als gleichwertig anerkannt?

Eine „ebenbürtige Partnerschaft“ innerhalb des westlichen, OSZE-basierten Systems scheint Russland nie im Sinn gehabt zu haben. Moskaus „Ebenbürtigkeit“ bedeutet nämlich, selbst Regeln setzen und modifizieren zu können anstatt die eigenen Interessen nur innerhalb des nach 1989 entstandenen, regelbasierten europäischen Systems zu verfolgen. Man geht auch davon aus, dass man über geopolitische Vetorechte verfüge und die Natur und Praktiken des eigenen Systems kritiklos akzeptiert würden. Beides ist mit den ­OSZE-Prinzipien nicht zu vereinbaren.

Dabei ist Russland keine expansionistische Macht, die die Welt dominieren, Europa erobern oder die Sowjetunion wiedererrichten will. Aber es möchte Einflusszonen in dem Raum, den die EU „Östliche Nachbarschaft“ nennt, und es möchte diese Einflusszonen als Organisationsprinzip internationaler Politik anerkannt wissen. Russland hat keine ambitionierte globale Agenda: Sein Ansatz im asiatisch-pazifischen Raum ist viel stärker von den Beziehungen zum Westen und zu den Großmächten geprägt als von lokalen Kontexten. Auch das Vorgehen im Nahen Osten hat weniger mit der Region zu tun, als mit Moskaus konterrevolutionärer Haltung und dem „Prinzip der Unverletzlichkeit von Regimen“. Diese Punkte sind für Russland von enormer Bedeutung, denn aus russischer Sicht hat der Westen die meisten Revolutionen „von unten“ der vergangenen Jahrzehnte ins Werk gesetzt. Moskaus Handeln mag den Westen nicht global herausfordern wie im Kalten Krieg. Aber es geraten verschiedene Paradigmen vermutlich auch in Zukunft immer wieder hart aneinander.

Solche Kollisionen werden durch Missverständnisse noch vergrößert. Entscheidungsträger in Russland scheinen fest zu glauben, dass der Westen die ­Farbrevolutionen gesteuert hat, um die russische Einflusssphäre zurückzudrängen, die eigene auszubauen und am Ende einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen. Der Westen hat lange nicht erkannt, wie sehr die russische Sicht auf die Welt und ihre Funktionsprinzipien von der eigenen abweicht. Er hat russisches Handeln als Ausdruck von Anomalien, Missverständnissen oder als von innenpolitischen Kalkulationen geleitet verstanden. Lange glaubte man fest daran, dass Russland mit positiven Erfahrungen einer Kooperation schon zum überzeugten Mitglied der OSZE-Ordnung werden würde.

 

Das Wesen der Misskommunikation

Dass sich der Abgrund zwischen diesen Weltsichten mit der Konsolidierung des autoritären Regimes in Russland weiter vertieft, ist völlig normal. Nur hat die Fähigkeit des Westens, die Tiefe der Differenzen zu erkennen, nicht damit Schritt gehalten, jedenfalls bis zum Weckruf der Krim-Annexion. Das liegt nicht nur an intellektueller Faulheit und Wunschdenken. Es hat auch mit einer Verschlechterung der Kommunikation zu tun – und das liegt wiederum am Wesen der beteiligten Persönlichkeiten, vor allem Wladimir Putins.

Ein russischer Experte, der lange Zeit das Außenministerium beraten hat, ist der Überzeugung, dass Russland die ersten beiden NATO-Erweiterungsrunden hingenommen hat, weil sie mit Moskau so diskutiert wurden, dass sie für die russischen Entscheidungsträger auch hinnehmbar waren: „Sie mochten die Erweiterung nicht, aber sie erkannten, dass der Versuch, sie zu stoppen, einen inakzeptablen Preis mit sich gebracht hätte, und deshalb handelten sie Kompensationen aus. Alle russischen Wünsche, die Moskau vorbringen konnte, wurden erfüllt – ob Russland davon profitieren konnte, steht auf einem anderen Blatt. Aber es war ein Deal, von dem Russland bewusst war, dass es ihn akzeptiert hatte.“ Diese Gespräche hatten allerdings größtenteils zwischen den Regierungen Boris Jelzins und Bill Clintons stattgefunden. Mit Beginn der Präsidentschaften Wladimir Putins und George W. Bushs war Moskau immer weniger fähig, seine Wünsche einzubringen, und der Westen konnte diese immer weniger verstehen. An diesem Punkt kommt Putins Persönlichkeit ins Spiel. Putins Weltsicht und sein Modus Operandi sind viel stärker von sowjetischen Normen und Hagiographie geprägt, als es unter Russen heute üblich ist, selbst innerhalb seiner eigenen Generation. Sein Kommunikationsverhalten trägt untrügliche sowjetische Züge, die, wenn sie gegenüber dem Westen zur Anwendung kommen, häufig missverstanden werden und ihn als Täuscher erscheinen lassen. Das ist nicht unbedingt beabsichtigt.

In der sowjetischen Lebenswelt war Heuchelei die Norm, nach dem bekannten sowjetischen Motto: „Wir tun so, als würden wir arbeiten, und sie tun so, als würden sie uns bezahlen.“ Diese Bekräftigung der nominalen Gegebenheiten war eine soziale Pflichtübung, von der aber jeder wusste, dass sie nur vorgetäuscht war. Unter diesen Umständen gab es nur zwei Möglichkeiten, die wahren Zustände zu diskutieren: zwischen den Zeilen, wobei man die ­offizielle ­Rhetorik benutzte. Oder in einer vertrauenswürdigen Umgebung, in der man das Vortäuschen ablegte. In seiner Kommunikation mit dem Westen hat Putin sowohl westlich-liberale Rhetorik benutzt, um seine oft ziemlich illiberalen Botschaften zu transportieren. Er hat aber auch die primitive, nackte Wahrheit ausgesprochen, zum Beispiel in Äußerungen wie: „Die Ukraine ist nicht einmal ein Land.“ Der Westen neigt jedoch dazu, seine Botschaften nicht zu erfassen: In „politisch korrekten“ Statements hören wir den Doublespeak nicht heraus und die „ungeschminkten“ Botschaften können so krude sein, dass sie grotesk wirken oder als Versuch der Einschüchterung und der Erpressung verstanden werden, unwürdig, auf sie einzugehen. Auch der Westen nutzt Doublespeak – nur anders. Im Westen wird er eingesetzt, um etwas auszublenden oder hartnäckige praktische Probleme zu lösen. Aber er wurde nie zur Norm, noch hat er dazu geführt, eine doppelte Realität am Leben zu halten. Die Regeln können gebrochen werden, aber sie bleiben Regeln, selbst für die, die sie brechen. Im Sowjetsystem war es genau umgekehrt: Man wusste, dass die Regeln sogar für jene fiktiv waren, die sie befolgten. Diese Logik mag auch erklären, warum Russland so unglücklich ist mit internationalen Regeln und Werten, denen es sich freiwillig unterworfen hat: Es hat nie geglaubt, dass diese sowohl den Buchstaben als auch dem Geist nach befolgt werden sollten.

Russland weist ein interessantes, doppelgleisiges Verhalten auf, wenn es um die Einhaltung von Regeln und Normen geht. Es kann starr und legalistisch sein, wenn es an den Buchstaben von Gesetzen festhält. Es kann aber auch den Geist dieser Gesetze mit Leichtigkeit übergehen oder sogar den Gesetzestext benutzen, um dessen Geist auszuhebeln. In der russischen Auffassung geht man damit auf die „eigentliche Unterhaltung“ unterhalb der Oberfläche öffentlicher Normen ein.

Die Sonderoperation auf der Krim trägt all die Kennzeichen einer solchen Logik. Es war wichtig, „den Buchstaben der Gesetze“ treu zu bleiben, also den Anschein zu erwecken, das Krim-Referendum sei lokalen Wurzeln entsprungen, um zumindest eine „unplausible Bestreitbarkeit“ russischer Beteiligung aufrechtzuerhalten. Viele Europäer kamen zu dem Schluss, dass „Putin lügt“. Aber seinen Lügen wohnt eine gewisse Logik inne. Sie sind nicht allein darauf angelegt zu täuschen, sondern auch, zu kommunizieren. Die Krim-Operation signalisierte, dass Russland willens und in der Lage ist, die Regeln in seiner Nachbarschaft zu setzen. Es war nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Machtdemonstration, mit folgender Botschaft für den Westen: „Ihr mögt wissen, dass wir da sind, aber ihr könnt es nicht beweisen, könnt also nichts tun und akzeptiert besser unsere Bedingungen.“

Oft heißt es, Putin sei ein guter Taktiker ohne Strategie. Das mag sein. Aber er weiß sehr genau, wo er etwas erreichen will, erkennt Chancen und nutzt Eskalation oft als Einladung zu Verhandlungen oder um zu verlangen, dass seine Wünsche ernst genommen werden. Solches Handeln ist häufig sein Ersatz für direkte Gespräche. So räumte ein Brüsseler Beamter ein: „Russland hat nie gesagt, dass es eine Einflusssphäre in der Ukraine beansprucht! Hätte es das gesagt, wären wir die Angelegenheit anders angegangen.“ Putin oder die russische Regierung haben das aber nicht gesagt, weil sie glaubten, dies wäre zu augenfällig, um überhaupt ein Wort darüber zu verlieren.

Vor einigen Jahren bezeichnete ein in Russland erschienener Artikel Putins Außenpolitik als „bulgakowesk“, in Anspielung auf den berühmten Satz aus Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“: „Man sollte nie jemanden um etwas bitten. Schon gar nicht jemanden, der mächtiger ist als man selbst.“ Wider Erwarten brach Putin wegen des NATO-Beitritts der baltischen Staaten keinen Streit vom Zaun, verlangte kein Geld oder eine Einflusszone. Nach 9/11 stellte er sich auf die Seite der USA, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Dass er aber keine Forderungen artikulierte, bedeutet nicht, dass er keinerlei Erwartungen hegt. Schließlich lautet Bulgakows folgender Satz: „Sie werden ein Angebot unterbreiten und dir von sich aus geben.“ Zu diesem Angebot ist es aber nie gekommen. Was für Putin große Konzessionen seinerseits waren, hielt der Westen für gemeinsame Interessen, und statt sie entsprechend zu vergelten oder zu erklären, warum man nichts anbieten könne, sagte der Westen schlicht: „Danke.“ Damit begann der Zirkel der Misskommunikation.
 

Die nächsten Schritte: Politikoptionen und deren Probleme

Seit die Annexion der Krim die Tiefe der Differenzen offenbart hat, hat der Westen drei Politikoptionen erwogen. Die erste konzentriert sich darauf, Russland in Zaum zu halten, die Verteidigungspläne für das NATO-Territorium zu stärken, Russlands Einflussmöglichkeiten in nicht zur NATO gehörenden Nachbarstaaten zu begrenzen und die Wirtschaftssanktionen aufrechtzu­erhalten, die das immer zerbrechlichere Regime in Moskau angeblich zu Fall bringen werden. Der zweite, unter anderem von Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger befürwortete Ansatz ist im Grunde ein geopolitischer Deal mit Russland. Dessen Kern wäre die dauerhafte Festschreibung eines ungebundenen Status für die Ukraine. Die dritte, in Europa häufig zu hörende Option ist eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche: Wir müssen bei den Sanktionen hart bleiben und sie nutzen, um die Situation in der Ukraine zu regeln. Gleichzeitig sollten wir Russland Angebote machen, neuerlich Teilhaber der europäischen Ordnung zu werden. Dies könnte durch die Legitimierung der Eurasischen Wirtschaftsunion bewerkstelligt werden, indem man ihr die Zusammenarbeit mit der EU ermöglicht. All diese Vorschläge sind mit besten Absichten unterbreitet worden, aber ihre Protagonisten sind sich nicht im Klaren, was es wirklich bedeuten würde, diese Konzepte in die Tat umzusetzen.

Ganz offensichtlich ist es notwendig, Russland Grenzen aufzuzeigen. Aber es ist ebenso notwendig, der Versuchung zu widerstehen, allzu starke Parallelen zum Kalten Krieg zu ziehen. Damit würde man alte Lösungen auf neue Probleme anwenden. Tatsächlich dürfte einer neuen Containment-Politik nicht so ein glatter Erfolg beschieden sein. Im Vergleich zu früher ist Russland heute viel schwächer als der Westen, aber der Westen ist auch viel stärker abgelenkt. Ein neuer Kalter Krieg wäre damit „asymmetrisch“ – und der Westen hat in asymmetrischen Kriegen stets viel schlechter abgeschnitten als in symmetrischen. Ein regelrechter, öffentlich ausgetragener Kalter Krieg passte dem russischen Regime gut ins Konzept, denn das würde seine Lebenserwartung verlängern, weil es das Volk gegen den äußeren Feind in Stellung bringen kann. Der Sturz des Regimes ist für sich genommen auch keine Lösung. Damit eine gute Entwicklung Wurzeln schlagen kann, müsste sich das Regime erst in den Augen der Bevölkerung diskreditieren und dann von ihr selbst verändert werden.

Ein geopolitischer Deal mit Russland wäre nicht weniger problematisch. Eine solche Einigung würde nicht nur einer ganzen Reihe von Verträgen zuwiderlaufen, die das internationale Verhalten europäischer Staaten regelt, sondern wäre auch in der Praxis nicht umsetzbar. Im Kalten Krieg konnten Einflusszonen durch Zwang zusammengehalten werden; heute ist Attraktivität gefragt. Moskau mag eine Einflusszone beanspruchen, aber es kann sie nicht wirklich aufrechterhalten, ohne von den Gesellschaften der betroffenen Länder akzeptiert zu werden. Diese Gesellschaften beginnen ihrerseits, sich zu emanzipieren und von ihren oft korrupten Eliten größere Rechenschaft zu verlangen.

Dies manifestiert sich in dem holprigen, aber evolutionären Prozess, den die EU nicht losgetreten hat noch kontrollieren kann, bei dem ihr aber nichts bleibt, als ihn zu unterstützen. Moskau hingegen ist auf die Eliten konzentriert, die es kontrollieren kann und wird sich deshalb dem Wandel widersetzen. Jede Schwierigkeit mit den Gesellschaften würde es als aus Europa kommende Subversion ansehen. Deshalb würde der Westen, selbst wenn er Russland eine Einflusszone zugestände, keine größere Stabilität herstellen können, hätte dafür aber die OSZE-basierten Prinzipien der europäischen Ordnung aufgegeben.

Die dritte Option schließlich – die Kombination aus Standhaftigkeit und einem attraktiven Projekt – könnte von Russland ebenso missverstanden werden wie der „Reset“. Insbesondere die EU-EEU-Kooperation hat natürliche Grenzen, die nicht ignoriert werden können. Die EEU-Kommission hat lediglich ein Mandat für Handelsfragen, aber ein Mitglied der Union – Weißrussland – ist nicht Mitglied der WTO. Für die EU gründen alle Handelsgespräche auf WTO-Regeln. Schon deshalb ist eine Agenda für Verhandlungen mit der EEU schwer zu erkennen: Sie sind eigentlich nur für nachrangige technische Fragen wie Standards und Zollabwicklungsprozeduren denkbar. Solche niederrangigen Interaktionen mit der Erwartung eines großen Durchbruchs zu befrachten, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich.

Es ist möglich, dass Russland das Angebot nicht zu schätzen weiß. Im schlechtesten Fall würde Moskau es fehlinterpretieren in der Hoffnung, der Westen habe die eigenen geopolitischen Ansprüche akzeptiert und nehme auch anderes bedingungslos hin. Aber das wäre nicht der Fall. Bedingungslose Hinnahme praktiziert die EU selbst ihren Mitgliedstaaten gegenüber nicht. Die EU mag auch hoffen, dass begrenzte Zusammenarbeit Russland zu einem kooperativen Partner im westlichen System machen könnte. Auch das ist nicht der Fall. Eine halbsymbolische Geste guten Willens könnte russische Einwilligung nicht „erkaufen“. Sieht man sich die Angebote an, die Moskau unterbreitet – sei es zur geopolitischen Ordnung oder selbst die vertiefte und umfassende Freihandelszone mit der Ukraine –, stellt man schnell fest, dass es nötig wäre, eine grundlegende Umwälzung der Prinzipien der meisten seit Ende des Kalten Krieges entstandenen Institutionen zu akzeptieren, um russische Erwartungen zu erfüllen. Nicht nur NATO und OSZE müssten ihre Prinzipien ändern, sondern auch die WTO oder das Bretton-Woods-System.
 

Fokussieren auf die Unterschiede

Solange es keine operablen Politiken mit akzeptablem Preis gibt, wie sollte ein westlicher Dialog mit Russland aussehen? Es sollte ein Dialog sein, der sich nicht auf die Gemeinsamkeiten konzentriert, sondern auf die Unterschiede.

Vorrangiges Ziel wäre es, Einigkeit über das Wesen der Differenzen zu erzielen. Erreichte man dies, würden die Differenzen weiterbestehen, aber sie wären weniger gefährlich. Wäre Moskau erst überzeugt, dass der Westen seine Prinzipien in der Ukraine zu verteidigen versucht, aber keinen Angriff auf Moskau vorbereitet, würde die Gefahr eines präemptiven Schlages gegen westliche Verbündete deutlich reduziert. Und wäre Russland überzeugt, dass der Westen trotz seiner verzweifelten Suche nach Kooperationsmöglichkeiten mit Russland zu Härte bei der Verteidigung grundlegender Prinzipien bereit ist, würde so schnell auch keine „neue Ukraine“ drohen.

Ein solcher Dialog sollte auf verschiedenen Ebenen und in diversen Formaten stattfinden. Es ist wichtig, Putin im Gespräch zu halten und ihn wissen zu lassen, dass sein Handeln vom Westen verstanden wird. Um die Gefahren zu reduzieren, die von Missverständnissen auf politischer Ebene ausgehen, müssten Arbeitskontakte zwischen den Militärs aufrechterhalten werden. Russland darf nicht in der Lage sein, militärische oder andere Gespräche zur Legitimierung seines Handelns in der Ukraine zu nutzen; es sollte aber genau erkennen, dass der Westen zur Verteidigung von NATO-Territorium bereit ist, jedoch keinen Angriff auf russisches Territorium vorbereitet.

An diplomatischer Front sollte der Westen seine Vorstellungen der Minsk-­Abkommen deutlich machen: Nur die vollständige Umsetzung schafft die Voraussetzung für die Aufhebung der Sanktionen. Bislang hat der Westen versucht, Russland einen gesichtswahrenden Abzug aus dem Donbass aufzuzwingen, während Moskau weiter darauf besteht, die Kontrolle über die Entscheidungsprozesse in Kiew zu erlangen. Die EU sollte klar machen, dass Moskau hier keinen Erfolg haben darf. Sollte Russland eines Tages einen gesichtswahrenden Ausweg suchen, sollte dieser ermöglicht werden – aber auch hier in voller Klarheit, dass es sich nicht um eine Lösung zu russischen Bedingungen handelt.

Auf institutioneller Ebene müsste man nach Möglichkeiten suchen, bestehende Gesprächsformate den heutigen Notwendigkeiten anzupassen. Die meisten Formate, die Russland und den Westen zusammenbringen, basieren auf der Annahme, dass wir Interessen oder sogar Werte teilen. Das hat auf beiden Seiten zu großen Frustrationen geführt. Russland fühlte sich permanent an den Pranger gestellt, während westliche Verbündete sich vor der Wahl zwischen guten Beziehungen zu Russland und ihrem Sinn für die Wahrheit sehen. Dem ließe sich abhelfen, indem die Gespräche so umgestaltet werden, dass sie nicht länger Gleichgesinntheit implizieren. Der NATO-Russland-Rat wäre ein erster Kandidat für eine solche Umgestaltung, aber es gäbe weitere.

Wir sollten außerdem versuchen, mit Russlands Zivilgesellschaft in Kontakt zu bleiben, auch wenn der Kreml das erschwert hat. Einige russische NGOs sind bemerkenswert aktiv, gut organisiert und offensichtlich Inkubatoren einer zukünftigen russischen Elite. Ihre Aktivitäten werden in Russland behindert, aber einige haben auch im Westen Fuß gefasst, ohne ihren Einfluss in Russland zu verlieren. Europa sollte solche Organisationen unterstützen und ihre Aktivisten in europäische Diskussionen einbinden. Zurzeit ist es unmöglich, ein größeres russisches Publikum zu erreichen, das nur Informationen rezipiert, die der Kreml auswählt. Aber NGO-Aktivisten sind für gewöhnlich daran interessiert, Kontakte zu unterhalten. Sie werden mit großer Sicherheit Meinungsführer in Russland werden, wenn die Fernsehdiktatur endet.

Wir sollten auch den Dialog mit russischen Experten fortsetzen. Manche fungieren zweifelsohne als Sprachrohr des Regimes, andere wollen weiterhin die Ereignisse wirklich verstehen, manche lavieren zwischen beiden Positionen. Es mag schwierig sein, sie zu überzeugen, aber gute zwischenmenschliche Beziehungen können trotzdem entstehen, die in Krisenzeiten nützlich sein können, um die andere Seite besser zu verstehen. Kurz: Europa sollte auf vielen Ebenen das Gespräch mit Russland über unsere Differenzen suchen, ohne das Ziel eines großen Ausgleichs zu verfolgen. Ein positives Projekt im Rahmen bestehender Missverständnisse zu beginnen, wäre gefährlich, denn die geweckten Erwartungen würden nur immer gefährlichere Gegenreaktionen heraufbeschwören.

Kadri Liik ist Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2016, S. 8-15

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