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01. Sep 2019

Letzte Chance

Um die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts zu bestehen, ist eine grüne industrielle Revolution der einzige Weg.

Der Klimawandel ist in eine neue Phase getreten. Die Alarmzeichen für eine immer raschere Veränderung der Ökosphäre sich. Gleichzeitig wird die Erhitzung der Erde zu einem bestimmenden politischen Faktor. Hunderttausende junger Leute sind die Vorreiter einer neuen Klima-APO. Die Jungen ziehen die Alten nach. Klimaschutz war schon bei der jüngsten Europawahl ein zentrales Motiv; er hat das Zeug, die politische Landschaft nicht nur in Deutschland umzupflügen. Wenn die Kluft zwischen klimapolitischer Ungeduld wachsender Teile der Gesellschaft und klimapolitischer Trägheit von Politik und Wirtschaft tiefer wird, kann daraus eine Legitimationskrise von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie werden. Wer beide zukunftsfest machen will, muss sich der ökologischen Herausforderung stellen.

Die industrielle Moderne basiert bislang auf der scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Energien. Sie waren der Treibstoff einer ungeheuren Steigerung von Produktion und Konsum und einer immer weiter ausgreifenden Mobilität. Die Globalisierung hat dazu beigetragen, mehr als eine Milliarde Menschen aus extremer Armut zu befreien. Gleichzeitig haben die Indu­strialisierung der vormaligen „Dritten Welt“ und der expansive Lebensstil der wachsenden globalen Mittelschicht zu einem dramatischen Anstieg des Energieverbrauchs geführt. Seine Hauptquellen sind Kohle und Öl. Rund die Hälfte aller fossilen Energien, die seit Beginn der Industrialisierung verfeuert wurden, fallen in die vergangenen 30 Jahre.

Historisch betrachtet sind die Vorreiter der industriellen Moderne – Europa und die USA – für den Löwenanteil der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre verantwortlich. Inzwischen sind die bevölkerungsreichen neuen Industrienationen Asiens an ihnen vorbeigezogen. China steht heute für rund 28 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, Indien folgt nach den USA bereits auf Rang drei. Japan hat seinen CO2-Ausstoß seit 1960 verfünffacht. Deutschland ist das einzige Land unter den sechs größten Klimasündern, dessen CO2-Emissionen in diesem Zeitraum in etwa gleichblieben, im Verhältnis zum Basisjahr 1990 sind sie sogar um rund 30 Prozent gesunken. Der Anteil der Bundesrepublik an der globalen Wirtschaftsleistung beträgt etwa 3,2 Prozent, an den Treibhausgas­emissionen 2 Prozent. Dennoch liegen die deutschen CO2-Emissionen pro Kopf über dem europäischen Durchschnitt, vor allem wegen des hohen Anteils der Kohle am Energiemix. Schweden kommt mit seiner Kombination aus Wasserkraft und Atomenergie nur auf die Hälfte des deutschen Wertes.

Einem Zauberlehrling gleich hat die industrielle Moderne einen Prozess globaler Erwärmung in Gang gesetzt. Er führt uns in einer historisch kurzen Frist aus der relativ stabilen Klimazone der letzten zehntausend Jahre hinaus, in der sich die menschliche Zivilisation entwickeln konnte. In den vergangenen zweihundert Jahren stieg die mittlere globale Temperatur um 1,1 Grad; der Trend geht steil nach oben. Arktische Gewässer sind diesen Sommer eisfrei, das Schmelzen des Grönland-Eises hat dramatische Ausmaße erreicht, ein Hitzesommer folgt dem nächsten. Wir müssen um die künftigen Lebensbedingungen auf unserem Heimatplaneten fürchten.

Wenn der Klimawandel außer Kontrolle gerät – jenseits der kritischen Schwelle von 1,5 Grad globaler Erwärmung –, wird das die Lebenswelt von Milliarden Menschen gefährden. Die dramatischen Auswirkungen eines sich selbst verstärkenden Klimawandels sind oft genug beschrieben worden, ebenso ihre sicherheitspolitische Dimension. Steigende Massenmigration und Konflikte um knappe Wasserreserven bis hin zum Kollaps ganzer Staaten bergen ein erhebliches Gewaltpotenzial.

Ein neuer Kulturkampf

Jetzt, da sich erweist, dass die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas das Erdklima aus den Fugen hebt, gerät auch der Hedonismus der Moderne in die Kritik. In den wohlhabenden Ländern – vorneweg in Deutschland – wächst eine Bewegung, die eine radikale Veränderung des individuellen Lebensstils fordert. Die Freude am Fahren, der Flugurlaub, die große Wohnung, die permanente Online-Kommunikation, die jährlich wechselnden Moden, die jahreszeitunabhängige Verfügbarkeit von Lebensmitteln aus der ganzen Welt und der hohe Fleischkonsum gelten als ökologischer Sündenfall. Für die Anhänger eines ­neuen Öko-Puritanismus ruiniert unser Streben nach „immer mehr“ den Planeten. „Tut Buße und kehret um!“ ist deshalb der neue kategorische Imperativ.

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat den neuen Kulturkampf bereits vor Jahren vorhergesehen: „Die expressions- und emissionsfeindliche Ethik der Zukunft zielt geradewegs auf die Umkehrung der bisherigen Zivilisationsrichtung. Sie verlangt Verminderung, wo bisher Vermehrung auf dem Plan stand, sie fordert Minimierung, wo bisher Maximierung galt, sie will Zurückhaltung, wo bisher Explosion erlaubt war, sie verordnet Sparsamkeit, wo bisher Verschwendung als höchster Reiz empfunden wurde, sie mahnt die Selbst­beschränkung an, wo bisher die Selbstfreisetzung gefeiert wurde. Denkt man diese Umschwünge zu Ende, so gelangt man im Zuge der meteorologischen Reformation zu einer Art von ökologischem Calvinismus.“

Die bisherige Wirkung aller Bußpredigten ist allerdings bescheiden. Zwar geht unter den Jungen und Gebildeten der Fleischkonsum ebenso zurück wie der Drang zum eigenen Auto. Zugleich steigen die Zulassungszahlen für SUVs ebenso wie der Stromverbrauch der digitalen Kommunikation, und von einem Einbruch der Tourismusbranche ist nichts bekannt. Die Zahl derjenigen, die ihre persönliche CO2-Bilanz drastisch gesenkt haben, bleibt überschaubar.

Wider die Privatisierung der Klimafrage

Das liegt nicht nur an der Macht alter Gewohnheiten und an individueller Bequemlichkeit. Unsere persönliche Klimabilanz hängt stark von Strukturen ab, die sich individuell nur sehr bedingt verändern lassen: von der Art der Energieerzeugung, den Gebäuden, in denen wir wohnen, den verfügbaren Alternativen zum Automobil und von den Berufen, in denen wir tätig sind. Für Geschäftsleute, Wissenschaftler, Angehörige des internationalen Kulturbetriebs, Politikerinnen und Politiker sowie die Eliten der globalen Zivilgesellschaft ist das Fliegen keine Frage der individuellen Moral, sondern ihres beruflichen Alltags. Selbst wo es sinnvoll und zumutbar wäre, den Zug statt das Flugzeug zu nehmen, scheitert das allzu oft an fehlenden Kapazitäten und zeitraubenden Verbindungen.

Gewiss: Es gibt keine Freiheit ohne persönliche Verantwortung. Es ist gut und richtig, mit Rad oder Bahn zu fahren und keine Produkte zu kaufen, für die Menschen geschunden werden oder Tiere leiden. Jedem steht es frei, das „gute Leben“ in einem Mehr an freier Zeit und sozialen Beziehungen statt in einer Steigerung von Einkommen und Konsum zu suchen. Aber ein nüchterner Blick auf die Größe der ökologischen Herausforderung zeigt, dass sie mit dem Appell zur Genügsamkeit nicht zu lösen ist. Ohne eine grüne industrielle Revolution werden wir den Wettlauf mit dem Klimawandel nicht gewinnen. Ihr Kern besteht in einer Entkopplung von Wohlstandsproduktion und Naturverbrauch. Das ist ambitioniert, aber machbar.

Klimawandel und Demokratie

Die Kritik an der Langsamkeit der Demokratie mit ihren ewigen Kompromissen hat eine lange Tradition. Angesichts immer neuer alarmistischer Nachrichten über arktische Hitze und schmelzende Gletscher, brennende Wälder und auftauende Permafrostböden wird der Ruf nach durchgreifenden Maßnahmen hier und jetzt lauter. Es ist kein Zufall, dass prominente Umweltschützer wie der Norweger Jorgen Randers mit dem chinesischen Modell sympathisieren. Schon die Urschrift der modernen Umweltbewegung, der berühmte Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972, war von einem autoritären Grundton durchzogen. Wenn man die Rettung aus der ökologischen Krise vorrangig in der Einschränkung von Produktion, Konsum und Fortpflanzung sucht, ist das konsequent. Autoritäre Regimes sind dann eher in der Lage, die notwendigen Verzichtsleistungen durchzusetzen. Demokratie wird zum Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können; Freiheit schnurrt auf die Einsicht in die ökologische Notwendigkeit zusammen.

Gegen die autoritäre Versuchung der Ökologie zu argumentieren, bedeutet nicht, die ökologische Krise zu verharmlosen. Wenn die Erderwärmung außer Kontrolle gerät und die Meere kippen, wird das große Verwerfungen nach sich ziehen, von wirtschaftlichen Einbrüchen bis zu weltweiten Wanderungsbewegungen. Insofern gefährdet die Umweltkrise auch die Demokratie. Wir müssen deshalb alles tun, um die ökologische Transformation der Industriegesellschaft voranzutreiben.

Malthus und seine Erben

Die Ökologie des Verzichts beruht auf einer statischen Sicht auf die Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Sie begreift die Erde als einen fixen Raum, der nur ein begrenztes Potenzial an Ressourcen bietet, in dem sich die Menschen einrichten müssen. Überschreiten sie die von der Natur gesetzten Grenzen, droht die Selbstvernichtung der menschlichen Gattung. Ein Vorläufer dieses Denkens war der britische Theologe und Ökonom Thomas Malthus, ein Zeitgenosse von Goethe und Marx. Seine berühmt gewordene „Bevölkerungstheorie“ kam zu dem Schluss, dass die Erde nur rund eine Milliarde Menschen ernähren kann. Ein Überschreiten dieser Schwelle führe zu katastrophalen Hungersnöten bis hin zum Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation.

Auf der Basis der damaligen Agrarwirtschaft lag Malthus gar nicht so verkehrt. Was er nicht voraussah, war die enorme Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch chemische Dünger, Pflanzenschutzmittel, moderne Maschinen und die Züchtung ertragreicherer Pflanzen und Nutztiere. Heute leben mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Erde, ihre ­Lebenserwartung hat sich seither verdoppelt und die verfügbare Kalorienmenge pro Kopf um mehr als 50 Prozent erhöht. Ein Wunder? Ja, aber ein Wunder auf der Basis von Wissenschaft und Technik. Was Malthus außer Acht ließ, war die menschliche Erfindungskraft.

Wir können die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen. Aber die wachsende Naturerkenntnis und der technische Fortschritt ermöglichen es, die „natürlichen Grenzen“ immer weiter hinauszuschieben. Die „Grenzen des Wachstums“ sind keine fixe Größe. Die Sonneneinstrahlung auf die Erde bietet ein fast unerschöpfliches Energiepotenzial für eine ökologische Industriegesellschaft, die auf der Kombination von natürlicher und technischer Photosynthese, von Bioökonomie und Wasserstoff beruht. Freiwilliger oder erzwungener Verzicht auf dieses und jenes wird den Klimawandel bestenfalls verlangsamen, aber nicht stoppen. Das gilt erst recht mit Blick auf die Milliarden Menschen auf unserem Planeten, die nichts sehnlicher wollen als den Anschluss an ein modernes Leben: gut ausgestattete Wohnungen, Bildung und professionelle Gesundheitsversorgung, die Möglichkeit zu reisen, eine reichhaltige Ernährung. Für die große Mehrheit der Weltbevölkerung ist Nullwachstum keine Alternative. Für sie ist wirtschaftliches Wachstum nach wie vor der Hebel für höheren Lebensstandard, bessere Bildung und Gesundheitsversorgung.

Grüne industrielle Revolution

In einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Ökonomie sinken auch die Investitionen und damit das Innovationstempo. Gerade weil die Zeit angesichts des Klimawandels drängt, brauchen wir umgekehrt ein höheres Tempo bei der Umstellung auf erneuerbare Energien, umweltfreundliche Landwirtschaft und klimaneutrale Mobilität. Die ökologische Erneuerung der Industrie, unserer Städte und der öffentlichen Infrastruktur erfordert steigende Investitionen in alternative Energiesysteme und neue Produktionsanlagen, in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und die ökologische Modernisierung des Gebäudebestands. Wenn wir es richtig anstellen, entsteht daraus eine neue ökonomische Dynamik, eine lange Welle umweltfreundlichen, weltweiten Wachstums.

Nüchtern betrachtet, geht es ohnehin nicht um die Frage, ob die Weltwirtschaft weiterhin wächst. Angesichts einer auf zehn Milliarden anwachsenden Weltbevölkerung, der fortschreitenden Industrialisierung der Länder des Südens und des anhaltenden Wachstums der Städte lautet die alles entscheidende Frage, ob es gelingt, Wertschöpfung und Umweltbelastung zu entkoppeln. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von 3 Prozent wird sich die globale Wirtschaftsleistung in den kommenden 20 Jahren in etwa verdoppeln. Im gleichen Zeitraum müssen die Treibhausgasemissionen dramatisch sinken, um den Temperaturanstieg im Zaum zu halten.

Das erfordert nichts weniger als eine grüne industrielle Revolution mit einer ähnlich durchschlagenden Wirkung wie die Erfindung der Dampfmaschine, die Elektrifizierung oder der Siegeszug des Automobils. Im Kern geht es um eine dreifache Transformation der alten Industriegesellschaft: erstens um den Umstieg von fossilen Energiequellen zu erneuerbaren Energien, zweitens um eine konti­nuierliche Steigerung der Ressourceneffizienz (aus weniger Rohstoffen und Energie mehr Wohlstand erzeugen) und drittens um den Übergang zu einer modernen Kreislaufwirtschaft, in der jeder Reststoff wieder in die biologische oder industrielle Produktion zurückgeführt wird.

Auch Deutschland besitzt alle Voraussetzungen, um eine führende Rolle bei der ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft zu spielen. Statt lähmende Panik zu verbreiten, sollten wir Klimaschutz als Geschichte eines großen Aufbruchs erzählen, als neues Wirtschaftswunder in grün.

Der kostengünstigste Weg zum Klimaschutz

Wer Freiheit und Ökologie in Einklang bringen will, muss vor allem auf Innovation setzen und den Wettbewerb um die besten Lösungen fördern. Auch eine liberale Ordnungspolitik kommt nicht ohne Grenzwerte und Verbote aus. Aber sie sind nicht der Königsweg für die Lösung der ökologischen Frage. Zielführender ist die Einbeziehung ökologischer Kosten in die Preisbildung. Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn die Preise die ökologische Wahrheit sagen. Eine ökologische Steuerreform, die Treibhausgas­emissionen und den Verbrauch knapper natürlicher Ressourcen schrittweise verteuert, hätte einen weitaus größeren Effekt als immer neue Gebote und Verbote. Die Mehrbelastungen, die durch Umweltsteuern entstehen, können in Form eines pauschalen Ökobonus an alle Bürgerinnen und Bürger zurückerstattet werden. Ein solcher Pro-Kopf-Betrag hätte sogar einen sozialen Umverteilungseffekt, weil die Geringverdienenden in der Regel einen geringeren CO2-Fußabdruck aufweisen als die Wohlhabenden.

Der Weg über einen sukzessiv ansteigenden CO2-Preis ist der kostengünstigste Weg zum Klimaschutz – er setzt die Maßnahmen zur Senkung von Kohlen­dioxidemissionen frei, bei denen das günstigste Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielt werden kann. Der zweite große Vorteil gegenüber einer staatlichen Detail-Steuerung von Produktion und Konsum liegt darin, dass sie die Eigeninitiative von Unternehmen und Verbrauchern in eine nachhaltige Richtung lenkt, ohne ihnen Vorschriften zu machen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Der CO2-Preis ist eine Information darüber, was im Interesse eines stabilen Erdklimas zu unterlassen ist. Zugleich liefert er Anreize für umweltfreundliche Investitionen und Kaufentscheidungen auf Seiten der Produzenten und Konsumenten.

Er ist aber kein eierlegendes Wollmilchschwein, das alle andere regulativen und strukturpolitischen Maßnahmen ersetzt. Das gilt umso mehr, als ein adäquater CO2-Preis, der die Kosten des Klimawandels abbildet, in Größenordnungen liegt, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen nur sukzessive erreicht werden können. Klimaökonomen kommen auf lenkungswirksame Einstiegspreise von rund 60 Euro pro Tonne, die bis auf deutlich dreistellige Beträge ansteigen. In Schweden, das bereits Anfang der 1990er Jahre eine nationale CO2-Steuer einführte, liegt der Preis gegenwärtig bei 115 Euro pro Tonne. Er gilt für wirtschaftliche Aktivitäten, die nicht vom europäischen CO2-Emissionshandel erfasst werden. Unternehmen im internationalen ­Wettbewerb ­zahlen geringere Sätze.

Die Pariser Klimakonferenz von 2015 hat sich nicht als der große Durchbruch erwiesen, den sich viele erhofft hatten. Die globalen Treibhausgasemissionen steigen weiter, die meisten Staaten bleiben hinter ihren Absichtserklärungen zurück. Das gilt auch für die Bundesrepublik. Die Trägheit von Politik, Wirtschaft und Alltagsgewohnheiten bremst rasche Fortschritte. Zielkonflikte zwischen Ökonomie und Ökologie sind nicht von heute auf morgen zu überbrücken. CO2-intensive Industrien wehren sich gegen die Entwertung ihres Kapitals. Viele Entwicklungsländer setzen weiter auf Kohle zur Deckung ihres Energiehungers. In Schlüsselländern wie den USA und Brasilien ist ein klimapolitisches Rollback im Gang – für die Präsidenten Trump und Bolsonaro ist das Pariser Abkommen lästiger Ballast. Die russische Führung setzt auf die Steigerung der Öl-, Gas- und Kohleexporte als Geschäftsmodell. Auch in China steigen die CO2-Emissionen weiter an, trotz des beeindruckenden Ausbaus erneuerbarer Energien und der Elektromobilität.

Trotz aller Fünf-vor-Zwölf-Appelle steht weltweit wirtschaftliches Wachstum über Klimaschutz, obwohl das vorherrschende, ressourcenfressende und von fossilen Energien befeuerte Wachstumsmodell unter dem Strich mehr Wohlstand vernichtet als es schafft, sobald man seine ökologischen Effekte einbezieht. Kurzfristiges Kalkül und partikulare Interessen sind in der Regel stärker als ökologische Vernunft.

Dieses Dilemma lässt sich nicht mit Klimadiplomatie auflösen. Die einzige reelle Chance, den Klimawandel aufzuhalten, besteht in einem neuen Modell für wirtschaftlichen Wohlstand und sozialen Fortschritt: vom Raubbau an der Natur zur Kooperation mit der Natur, von fossilen zu erneuerbaren Energien, von Ressourcenverschwendung zu vernetzten Kreisläufen, von der Agrarindustrie alten Stils zur Hightech-Ökolandwirtschaft. Auf diesem Weg voranzugehen, ist die besondere Verantwortung – und die besondere Chance – der hochindustrialisierten Länder.

Die deutsche Energiewende hat dazu beigetragen, die Lernkurve erneuerbarer Energien zu finanzieren. Heute sind Solar- und Windenergie kostengünstiger als neue Kohle- und Atomkraftwerke. Diese Pionierrolle gilt es auch bei Stromspeichern und intelligenten Netzen, Wasserstofftechnologie, Elek­tromobilität und umweltfreundlicher Chemie zu übernehmen: Das wäre ein wirksamer Beitrag, die ökonomische Aufholjagd Asiens und Afrikas in eine nachhaltige Richtung zu lenken. Wenn Europa zeigt, dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg zwei Seiten einer Medaille sind, kann es zum Modell für andere werden. Gleichzeitig sichert es seine eigene wirtschaftliche Zukunft.

Ralf Fücks ist Mitgründer des Zentrums Liberale Moderne. Zuvor war er lange Jahre Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 8-14

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