IP

01. Sep 2012

Kleine Prinzen, große Probleme

Verwalter oder Gestalter? Pekings neue Führungsriege auf dem Prüfstand

Soziale Konflikte, politische Verkrustungen, außenpolitische Krisen: An Aufgaben, die dringend der Bewältigung harren, mangelt es in China nicht. Doch ob die künftige Führungsgeneration um den designierten Parteichef Xi Jinping über die dafür notwendige Einigkeit und Entschlossenheit verfügt, ist zu bezweifeln. Düstere Aussichten im Jahr des Drachen?

Die spektakulärste Verhandlung in Chinas Justizgeschichte der vergangenen 30 Jahre dauert ganze sieben Stunden. So geschehen am 9. August am Mittleren Volksgericht in Hefei, Hauptstadt der Provinz Anhui. Dann wird die wegen Mordes an einem britischen Geschäftsmann angeklagte Anwältin Gu Kailai, Ehefrau des abgesetzten Parteichefs von Chongqing, Bo Xilai, wieder aus dem Saal geführt. Die Verhandlung ist nach einem Tag beendet, ausländische Journalisten waren nicht zugelassen. Viel Zeit bleibt dem Gericht ohnehin nicht. Für den Herbst ist die alle zehn Jahre stattfindende Wachablösung an der Führungsspitze der Kommunistischen Partei Chinas geplant, und die Ermittlungen um Bo, den einstigen Shooting Star der Partei, sowie die Machenschaften seiner Frau haben den Zeitplan durcheinander gebracht. Vor allem aber bedeuten sie Gefahr für eine Partei, die nichts mehr fürchtet als den öffent­lichen Dissens.

Jahr der Umbrüche

2012 ist das Jahr des Drachen, ein Tierkreiszeichen, das in China traditionell für ein Jahr der Umbrüche und großen Veränderungen steht. Die jüngere chinesische Zeitgeschichte bestätigt diese These. 1964/65 erlebte China die Anfänge der Großen Proletarischen Kulturrevolution, 1976/77 das Jahr der Naturkatastrophen und Maos Tod, und 1988/89 das Tiananmen-Massaker. Das China des Jahres 2012 ist mehr denn je ein Land voller Widersprüche sowie alter und neuer Probleme – vom Umweltschutz über finanzpolitische und soziale Fragen bis hin zu notwendigen politischen Reformen und den sicherheits- und außenpolitischen Konflikten einer Nation, die global immer offensiver agiert, ohne entsprechend verantwortlich zu handeln. Neu ist auch das gestiegene Selbstbewusstsein einer onlineaffinen Bevölkerung, die den Mut hat, regelmäßig für lokale (wenn auch noch nicht für nationale) Belange auf die Straße zu gehen. Und neu ist auch die Tatsache, dass die kommende Führungsriege die erste sein wird, die nicht von Deng Xiaoping ausgewählt wurde. Das Zeitalter der „kleinen Prinzen“, der Söhne und Töchter altgedienter Parteiveteranen, hat begonnen. Etliche der ehemaligen Rotgardisten haben sich, nachdem Mao sie in den sechziger Jahren fallengelassen und aufs Land geschickt hatte, im Lauf der Jahrzehnte mächtige lokale politische Netzwerke und Firmenimperien aufgebaut. Jetzt wollen sie auch auf nationaler Ebene ihre Einflusssphäre sichern.

So rasch die Verhandlungen in Hefei abliefen, so zäh gestalteten sie sich 1200 Kilometer weiter nördlich in Beidaihe. Der Badeort in der nordchinesischen Provinz Hebei glich einem Hochsicherheitstrakt. Wie zu Maos Zeiten kam die amtierende erste Riege des Staates hier zusammen, um über den anstehenden Machtwechsel zu tagen – nachdem man diese Versammlungen eigentlich schon im Jahre 2004 unter Präsident Hu Jintao im Zuge einer Imagekampagne abgeschafft hatte. Der Ständige Ausschuss des Politbüros mit derzeit neun Mitgliedern ist das Herzstück der Macht; er setzt sich aus den wichtigsten Parteiführern zusammen. An der Spitze des Ständigen Ausschusses steht der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, seit 2002 Hu Jintao. Eine der viel diskutierten Fragen in der chinesischen Mikroblogszene ist die, ob man den Ständigen Ausschuss auf elf Personen vergrößern oder auf sieben reduzieren will.

Was eine Lösung der drängenden Probleme des Landes angeht, so gibt der Blick in die Zukunft nicht allzu viel Anlass zur Hoffnung. Schon unter Präsident Hu und Premier Wen Jiabao sind viele Probleme nur verwaltet, aber nicht grundlegend in Angriff genommen worden. Und die kommende Führungsgeneration der kleinen Prinzen wird noch weniger Macht in den Händen Einzelner vereinen können. Sie ist gespalten in verschiedene Fraktionen: in Reformer, linke Hardliner und weitere Schattierungen. Das wirft die Frage auf, wie handlungs­fähig der zukünftige erste Mann im Staate, Xi Jinping, wirklich sein wird.

Prognosen zum anstehenden Machtwechsel haben viel von Kaffeesatzleserei. Die dürren Informationen, die aus Beidaihe durchsickern, stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zur volldigitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts. Auf den chinesischen Mikroblogdiensten wie Sina Weibo oder Tencent überschlugen sich die Gerüchte. Viele Spekulationen drehten sich um das Datum des Parteitags: So hieß es unter anderem, alle Hotels um den Pekinger Südbahnhof hätten eine amtliche Anweisung erhalten, Ende September alle Betten freizuhalten, andernfalls drohe der Konzessionsentzug.

Farblose Führungskader

Wer sind die neuen Führungspersönlichkeiten neben Xi Jinping und Vize­premier Li Keqiang, der wohl Premierminister wird? Fakt ist bislang nur, dass bis auf die beiden genannten alle übrigen sieben Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros in den Ruhestand verabschiedet werden. Einzelne Hinweise lassen sich aus der verklausulierten Bild- und Textsprache der staatlichen Medien herauslesen. Auch Zeitpunkt und Wichtigkeit von Veröffentlichungen spielen dabei eine Rolle. So dürfen Meinungsartikel Jiang Zemins in Parteiorganen als Zeichen ausgelegt werden, dass der ehemalige Staatschef sich bewusst zum jetzigen Zeitpunkt in die Personaldebatte einschaltet. Heiße Kandidaten für einen Sitz im Ständigen Ausschuss sind der Schanghaier Parteisekretär Yu Zhengsheng, Vizepremier Wang Qishan und Zhang Dejiang, Nachfolger des abgesetzten Bo in Chongqing. Aus dem Hu-Lager werden Li Yuanchao, Leiter der mächtigen Organisationsabteilung der Partei, Liu Yunshan, Leiter der ZK-Propagandaabteilung, und der Staatsrätin Liu Yandong große Chancen eingeräumt; mit der Ernennung von Liu Yandong würde eine der wenigen Frauen aus der Führungsriege auch in die Zentrale der Macht einziehen. Dem liberalen Gouverneur von Guangdong Wang Yang werden ebenfalls gute Chancen nachgesagt. Wang hatte im Mai dieses Jahres die Online-Gemeinde während einer offiziellen Ansprache mit der Aussage begeistert, es sei nicht Auf­gabe der Kommunistischen Partei, die Menschen glücklich zu machen.

Dass derartige Äußerungen millionenfach diskutiert und kommentiert werden, zeigt vor allem eines: Nach wie vor weiß die chinesische Bevölkerung – sofern sie überhaupt politisch interessiert ist – nicht, wie sie ihre eigenen Führungspersönlichkeiten einschätzen soll. Nähme man die Medienberichte der vergangenen Monate und versuchte, anhand ihrer ein eindeutiges Profil von Xi Jinping oder von Li Keqiang zu zeichnen, so würde man an dieser Aufgabe wohl scheitern. Beide lassen sich nicht in die Karten schauen; was sie öffentlich sagen, ist beliebig interpretierbar. Letztlich kommt es bei der Aufstellung des Politbüros und des Ständigen Ausschusses weniger auf die Zahl ihrer Mitglieder an als auf die Rolle, die der oberste Mann im Staate spielen kann. Hu Jintao war als Staatspräsident ein Moderator, kein Alleinherrscher. Auch bei Xi muss sich in den kommenden zwei Jahren erst noch zeigen, ob er ein Gestalter oder nur ein Verwalter ist. Fest steht nur: Sein Wort wird umso mehr Gewicht haben, je weniger Mitglieder der Ausschuss hat.

Die Farblosigkeit von Führungspersönlichkeiten wie Xi oder Li mag ein Zeichen dafür sein, dass der Machtkampf noch lange nicht abgeschlossen ist. Sie könnte aber auch als Indiz dafür gelten, dass es der neuen Führungsriege tatsächlich an konzeptionellen Ideen mangelt. So müsste der politische Bericht des Generalsekretärs, immerhin die zukünftige Marschroute des Landes, wenige Wochen vor dem Parteitag zumindest in groben Zügen in den offiziellen Medien bekannt sein. Noch im Spätsommer 2012 allerdings suchte man danach vergebens. Eine Erklärung für die Verzögerung: Die Parteiführung ist sich uneins im Spagat zwischen marktliberalen (Stichwort „Chinas globale Verantwortung“) und marxistischen Stimmen. Angesichts der immer stärkeren Fraktionierung liegt eine Vermutung nahe: Die neue Führung ist opportunistisch – keine Führung, die beschließt, sondern eine, die ausführt. Sie wird stark den Einflüsterungen der Industrielobby ausgesetzt sein, darunter denen der armeeeigenen Bauindustrie, die überall dort beauftragt wird, wo politisch sensible Projekte in Grenzgebieten (Tibet, Yunnan) anstehen. Doch Konjunkturprogramme zugunsten der Bahn oder der Infrastruktur, wie sie zur Bewältigung der letzten Finanzkrise durchgeführt wurden, sind entweder zu langfristig angelegt, um rentabel zu sein, oder zu kurzfristig, um wirklich greifen zu können.

Spagat zwischen Freiheit und Kontrolle

Daneben ist es die wachsende chinesische Mittelschicht, die der neuen Führung Sorgen bereiten könnte. Noch ist der Ruf nach politischem Mitspracherecht nicht landesweit organisiert, beschränken sich Chinas Bürger darauf, über Mikroblog-Dienste wie Sina Weibo Dampf abzulassen. Doch die Zigtausenden lokalen Demonstrationen, die sich Tag für Tag gegen Umweltverschmutzung oder Landenteignung und andere soziale Ungerechtigkeiten richten, könnten sich zum Flächenbrand ausweiten. Jüngstes Beispiel ist die Hafenstadt Qidong in der Nähe von Schanghai: Ende Juli stürmten dort mehrere Tausend Menschen ein Regierungsgebäude, demolierten Autos und verprügelten Polizisten. Anlass waren die Pläne der Stadtregierung, Abwasser aus einer Papierfabrik ins Meer zu leiten.

Unabhängig davon, ob der Ort Qidong, Shifang oder Dalian heißt: Die Intensität der Proteste steigt, immer häufiger kommt es zu Gewalt, vor allem aber ändert sich die soziale Zusammensetzung der Demonstrierenden. Es handelt sich nicht mehr ausschließlich um Bauern und Wanderarbeiter; hier geht Chinas aufkeimende Zivilgesellschaft auf die Straßen, gut organisiert über Mikroblogs und Kurznachrichtendienste. Die neue Führung wird gut beraten sein, den Fokus ihrer Aktivitäten auf das zu legen, was man als Sozialmanagement bezeichnet. Da sich der Staat immer mehr aus der Versorgung seiner Bürger zurückzieht, werden soziale Einrichtungen und nichtstaatliche Vereinigungen immer wichtiger. Chinas Führung wird sich an den schwierigen Spagat zwischen mehr zivilgesellschaftlichen Freiheiten und gleichzeitiger totaler politischer Kontrolle wagen.

Dabei ist es für die Partei bereits jetzt unmöglich, ihre eigenen Kader im Zaum zu halten. Der jüngste Korruptionsfall: Chinas ehemaliger Bahnminister Liu Zhijun wurde aufgrund Vorteilsnahme in Millionenhöhe im Mai 2012 aus der Partei ausgeschlossen. Für derartige Fälle zuständig ist die parteiinterne Zentrale Disziplinarkommission. Sie untersteht dem Nationalen Parteikongress auf derselben Stufe wie das Zentralkomitee der Partei und befindet sich damit außerhalb des staatlichen Rechtssystems. Korrupte Kader werden nach Vorermittlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort geführt (die so genannte doppelte Festsetzung, „Shuanggui“), um dort fern der Öffentlichkeit verhört zu werden, oft für Wochen und Monate. Diese „Shuanggui“-Taktik wird gerade im Fall Bo Xilai angewandt. Nach wie vor ist der ehemalige KP-Senkrechtstarter nicht rechtskräftig verurteilt. Seit März ist er nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. 

Chinas Weg zur Rechtsstaatlichkeit ist weit, solange die institutionalisierten Korrekturmechanismen Teil des Systems sind, das sie überprüfen sollen. Am Ende gilt: erst die Partei, dann der Staat, gerade im Jahr des Drachen. Hauptsache, die Fassade hält.

OLIVER RADTKE ist Projektleiter im Programmbereich Völkerverständigung Mitteleuropa, Südosteuropa, GUS, China der Robert Bosch Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 17-23

Teilen