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20. Okt. 2014

„Hollande hat nichts mehr zu verlieren“

Interview mit Camille Grand, Direktor der Fondation pour la recherche stratégique in Paris

Schlechte Zahlen für Handel, Beschäftigung und die Staatsfinanzen: Um aus der Krise zu kommen, muss sich Frankreich reformieren – und dem angeschlagenen Präsidenten François Hollande könnte das wider Erwarten noch gelingen, meint Camille Grand. Zugleich müsse das Land beim Export aufholen und auch die Chancen der Globalisierung erkennen. Die Voraussetzungen dafür seien besser als oft gedacht.

IP: Herr Grand, woran liegt es Ihrer Einschätzung nach derzeit vor allem, dass Frankreich international eine schlechte Presse hat?
Camille Grand: Das liegt vor allem an den Fakten, aber auch der Wahrnehmung: Frankreich ringt ja praktisch seit Jahrzehnten mit Reformen. Seit den neunziger Jahren haben sich verschiedene Regierungen daran versucht und sind stets am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Je schwieriger die wirtschaftliche Lage, desto offensichtlicher werden nun die Defizite – und umso schwerer wird es, Reformen durchzusetzen. Frankreichs Wirtschaft ist in der Krise, davon sprechen die schlechten Zahlen für Handel, Beschäftigung und die Staatsfinanzen. Hinzu kommt, dass Präsident François Hollande, zu Recht oder Unrecht, im Wahlkampf und in den ersten Regierungsjahren als ein altmodischer Linker galt …

IP: ... und eine „Millionärs“-Einkommensteuer von 75 Prozent auf den Weg brachte …
Grand: Das signalisierte eine „klassische“ Steuer- und Ausgabenpolitik, während die Realität weitaus nuancierter ist und sich in der Regierungspartei eine wirtschaftspolitische Linie durchgesetzt hat, die weit unternehmerfreundlicher ist. Aber bei Frankreichs Partnern und in den internationalen Medien bleiben Zweifel, ob die Franzosen wirklich zu Reformen bereit sind – was ein bisschen unfair ist, denn es gibt bereit ein paar Dinge, die sich wandeln. Hollande hat den Ernst der Lage erkannt, und seit der jüngsten Regierungsumbildung und der Entlassung von Arnaud Montebourg als Wirtschaftsminister ist die gesamte Regierung auf Spar- und Reformkurs. Allerdings bleibt die Frage, ob ein Präsident, der so unpopulär ist, noch über genügend politisches Kapital verfügt. Er hat aber auch nichts mehr zu verlieren.

IP: Eine der schlechten Zahlen, die ins Auge springen, ist das enorme Handelsbilanzdefizit.
Grand: Das Problem ist Jahrzehnte alt. Nur in den neunziger Jahren gab es mal eine kurze Periode, in der die Bilanz positiv war. Wie die Großbritanniens fußt Frankreichs Volkswirtschaft mehr auf dem heimischen Konsum, weniger auf dem Export. Es gibt einige große Unternehmen – vor allem im Energie-, Automobil- und Rüstungssektor –, die als Zugpferde des Außenhandels fungieren, und wenn sie aus diesem oder jenem Grund einmal lahmen, oder wichtige Großaufträge wegbrechen, dann gehen die Zahlen ganz schnell in den Keller. Einen exportstarken Mittelstand wie in Deutschland gibt es nicht. Und schließlich ist da die große Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Schaut man zum Beispiel auf die französischen Autobauer, war ihre Nische stets der Mittelklassewagen. Dort ist aber der Wettbewerb heute am schärfsten, und die französische Automobilindustrie leidet – am starken Euro, aber auch an hohen Arbeitskosten und anderen Dingen, bei denen die Reformagenda ins Spiel kommt: Wir wollen, dass die Peugeots und Renaults dieser Welt wieder international wettbewerbsfähiger werden, und dabei geht es nicht nur um Innovationen – wo sich Frankreichs Autobauer verhältnismäßig gut schlagen –, sondern vor allem um kostengünstigeres Produzieren. Das Gleiche gilt übrigens für landwirtschaftliche und halbfertiggestellte Produkte. In einem globalisierten Markt müssen französische Produkte einfach besser mithalten können. Kurz: Wir haben immer noch diese internationalen Giganten, die im Ausland viel Geld verdienen, aber gleichzeitig immer weniger „französisch“ werden; sie sind praktisch globalisierte Unternehmen. Und dann gibt es am anderen Ende des Spektrums viele interessante Start-ups im Hightech-Bereich, die aber Probleme haben zu wachsen, unter anderem, weil es zu wenig Risikokapital gibt, und die gehen dann oft ins Ausland, vor allem die Vereinigten Staaten, und übernehmen amerikanische Geschäftsmodelle – weil es in Frankreich einfach zu teuer wäre, zum Beispiel Produktionsstätten aufzubauen. Und schließlich sind die Franzosen in Asien und anderen aufstrebenden Märkten schlicht spät dran. In Afrika verlieren französische Unternehmen gerade Marktanteile, was möglicherweise durch ein höheres Wachstum dort ausgeglichen wird …

IP: ... also ein komplexes Problemgeflecht, für das es keine einfache Lösung gibt?
Grand: Nun, manche behaupten, mit einem schwächeren Euro würden sich alle Probleme in Luft auflösen. Aber das griffe zu kurz. Es gibt nicht die eine Patentlösung.

IP: Liegt es auch daran, dass Frankreich die Globalisierung verschlafen hat?
Grand: Das ist sehr kompliziert. Franzosen, die in stark globalisierten Unternehmen arbeiten, sind wahrscheinlich in noch stärkerem Maße „Weltbürger“ als beispielsweise ihre deutschen Kollegen. Viele der besten Finanzexperten, die in der City of London oder an der Wall Street arbeiten, kommen aus Frankreich, dessen Schulen und Universitäten mit die besten Mathematiker hervorbringen. Meine Studenten haben oft eine „globalisierte“ Agenda und teilweise im Ausland studiert. Und von diesen großen Unternehmen gibt es einfach zu wenige, und auf der anderen Seite gibt immer noch eine beachtlich große Gruppe in Frankreich – möglicherweise die Mehrheit der Bevölkerung –, die der Auffassung ist, dass die Globalisierung ihre Lebensart zerstört, ihr tägliches Leben …

IP: ... was ja auch nicht ganz falsch ist.
Grand: Natürlich, die französische Industrie zum Beispiel hat viele, viele Arbeitsplätze verloren. Und das hat ein tiefes Misstrauen geschürt, vor allem in de-industrialisierten Gegenden, auch gegenüber der EU und „Brüssel“ mit ihrer angeblichen Marktagenda. Viele Leute haben schlicht Angst vor der „mondialisation“ – und sind gegen sie, wobei das Gegenargument lautet: Man kann so wenig gegen globale Marktkräfte sein wie gegen schlechtes Wetter im Winter – man kann schlicht nichts dagegen tun. Diese Stimmung nutzen aber politische Parteien am linken und rechten Rand, insbesondere der Front National – und auch die großen Parteien sind nicht frei von Stimmen, die behaupten, es gebe so etwas wie einen französischen „Sonderweg“, um sich vor der Globalisierung zu schützen. Breite Teile der französischen Wähler glauben das – und auch der linke Flügel der PS, die sich von Hollande nun verraten fühlt.

IP: Was verspricht sich die Regierung davon, wie jüngst geschehen, den Bereich des Außenhandels dem Außenministerium zuzuschlagen?
Grand: Das ist das Lieblingsprojekt von Außenminister Laurent Fabius, der lang und hart dafür gekämpft hat, dass der Quay d’Orsay die Kontrolle über Außenhandel und Tourismus erhält. Gewissermaßen ist es offensichtlich: In der heutigen Welt kommt einem Botschafter viel stärker als früher auch die Rolle des ersten Wirtschaftsvertreters im Ausland zu; das gilt auch für den britischen oder deutschen auswärtigen Dienst. Fabius hat da in letzter Zeit ziemlich Dampf gemacht und unter anderem einen Generalsekretär für Globalisierung installiert und seinen Topdiplomaten erklärt, sich stärker um Wirtschaftsfragen zu kümmern und sich stärker ins Zeug zu legen. Das alles ist sicher sinnvoll, gerade in Schwellenländern. Ob das Ministerium ausreichend qualifiziert ist, um das zu koordinieren, ist eine andere Frage. Da muss man abwarten. Und natürlich müssen die Botschafter auch etwas zu verkaufen haben – wettbewerbsfähige französische Produkte, Dienstleistungen usw.

IP: Sind damit nicht weitere internationale Verwicklungen vorprogrammiert wie das Hickhack um die Mistral-Kriegsschiffe für Russland, deren Auslieferung jetzt auf Eis gelegt ist?
Grand: Das ist ein Beispiel, das nicht ganz passt. Der Deal stammt aus einer anderen Ära, als wir alle noch dachten, Russland würde ein Partner. In Frankreich selbst ging es darum, die Werft, die die Schiffe baut, mit ein paar Großaufträgen vor dem Bankrott zu bewahren – eine Werft übrigens, die eigentlich auf Kreuzfahrtschiffe spezialisiert ist. Im Fall Russland stehen wir jetzt alle vor dem Problem, die bisherige Wirtschafts- und Handelspolitik gegenüber Moskau nach dessen Griff nach der Krim mit den neuen Sanktionen in Einklang zu bringen. Die Mistral-Frage hat mehr Aufmerksamkeit als andere gefunden, aber ich sehe das nicht als typisch „französischen“ Exportfall. Natürlich sind Rüstungsexporte, wo Frankreich weiterhin stark ist, immer mit gewissen kritischen Fragen verbunden, aber das gilt auch für Deutschland oder Großbritannien.

IP: Nutzt Frankreich sein Erbe als ehemalige Weltmacht?
Grand: Das kommt auf die jeweilige Region an. In Afrika ist Frankreich politisch und wirtschaftlich weiterhin stark engagiert. Aber wir müssen uns diversifizieren; ob Frankreich den Löwenanteil in dieser oder jener ehemaligen Kolonie hält, ist nicht mehr so relevant heutzutage. Und die Wirtschaften, die Afrika am schnellsten wachsen, gehören nicht zur frankophonen Welt. Wer dort heute Geschäfte machen will, muss sich auch in Nigeria oder Südafrika oder Kenia engagieren, nicht nur in frankophonen Ländern. Die Frage ist: Wie kann man die koloniale Vergangenheit am besten nutzen? Dabei fällt auf: Französisch ist heute eine sich schnell verbreitende Sprache – nach Schätzungen werden 2030 wohl eine Milliarde Menschen französisch sprechen, in Afrika, aber nicht nur dort; ein Vorteil, den unsere deutschen und italienischen Freunde nicht haben. Und durch die Kolonialvergangenheit sind wir zum Beispiel Teil des „pazifischen Schauplatzes“: An Orten wie Tahiti und Neukaledonien ist Frankreich weiterhin ein „player“ – oder auch auf den Antillen. Wirtschaftlich spielt das keine gewaltige Rolle, aber man könnte die Überseeterritorien, die bis vor kurzem stark aufs Mutterland ausgerichtet waren, stärker als Sprungbrett in die regionalen Märkte nutzen, was man bisher kaum versucht hat. Und was fast noch interessanter ist: Zwei Millionen Franzosen leben heute im Ausland – weniger als Deutsche und Briten, aber ihre Zahl wächst schnell, und nicht nur aus steuerlichen Gründen! Diejenigen, die ins Ausland gehen, streben nach beruflichem und geschäftlichem Erfolg, es sind junge, kluge, gut ausgebildete Leute – und es ist zu hoffen, dass sie ihrem Mutterland genügend vertrauen, nach einer gewissen Zeit auch wieder zurückzukehren. Franzosen gingen bisher kaum in die Welt hinaus, denken Sie an die Geschichte der Besiedelung Nordamerikas. Die Tatsache, dass sich das ändert, eröffnet neue Chancen und stimmt mich optimistisch, was Frankreichs Fähigkeiten angeht, sich auch in einer globalisierten Welt zurechtzufinden.

Das Interview führte Henning Hoff.

Das neue „IP Länderporträt Frankreich“ („Die malade Marianne“) erscheint am 31. Oktober 2014 – erhältlich als Beilage der IP oder auch als Einzelheft im Handel.

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